Warum man als Fahrradfreak gilt, wenn man nicht gern im Stau steht
Es kommt in letzter Zeit immer häufiger vor, dass ich kurz zusammen zucke. Das passiert immer dann, wenn man mich als „Fahrradfreak“ bezeichnet. Seit es dieses Blog gibt und das Buch „Ich lenke, also bin ich“, mit dem alles angefangen hat, treffe ich häufig Leute, die zu mir sagen: „Und, mit dem Fahrrad hier?“ und dabei ein „Höhö“ in der Stimme haben, als sei das kein Blog, in dem ich mich mit der Überwindung überkommener Mobilitätsformen beschäftige, sondern mit neonpinkfarbenen String-Tangas. Imagewandel des Fahrrads hin, Statussymbolniedergang des Autos her – wer in Deutschland der Überzeugung ist, dass das Fahrrad ein wirkmächtiges Symbol für ein neues Mobilitätsverständnis ist, steht sofort unter Reformhausarrest. Wie kann das sein? Warum gilt man als Freak, wenn man ein Pelago fährt (das ist die Marke des Fahrrads oben), und immer noch als erwachsen und modern, wenn man Auto fährt – selbst wenn es ein Polo ist?
Studie des Fraunhofer Instituts zeigt: Radfahren nutzt der Volkswirtschaft
Die Antwort ist einfach: weil die Automobilindustrie alles daran setzt, uns in einem Glauben zu lassen, der seinen Ursprung in den Fortschrittsjahrzehnten der fünfziger und sechziger Jahre hat. Seit damals gilt das Auto als Ausdruck von Wohlstand und Fortschritt, und mit beinahe verzweifeltem Bemühen versuchen die Autobauer, diesen Nimbus aufrecht zu erhalten – obwohl sie offensichtlich selbst erkannt haben, dass man im Auto immer weniger tatsächlich voran kommt. Man muss sich nur die Kampagne für den neuen „Skoda Superb“ ansehen. Da heißt es unter anderem:
„Fast 3 Jahre Ihres Lebens verbringen Sie im Auto. 192 Tage im Stau. Besser, wir machen es uns bequem.“ (Hervorhebungen im Original).
In Wirklichkeit ist das keine Kampagne, sondern eine Kapitulationserklärung. Sie besagt: Leute, wir wissen, dass unsere Straßen verstopft sind und es einem den letzten Nerv raubt, sich im Schneckentempo durch die Stadt zu schieben. Aber wenigstens sind unsere Sitze hübsch gepolstert.
Und wann immer ich mich mit Freunden, Kollegen und Experten über das Fahrrad als sinnvolle Alternative zum Stillstand in unseren Städten unterhalte, kommt früher oder später das Argument: Jaha, aber die Automobilindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Das mag ich nicht bestreiten. Genauso wahr ist aber auch: Auch das Auto stehen zu lassen, wird volkswirtschaftlich zunehmend relevanter. Ende April wurde eine Studie veröffentlicht, die das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung zusammen mit dem Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg und der INFRAS AG Zürich durchgeführt hat. Darin werden verkehrspolitische Maßnahmen und ihr gesamtwirtschaftlicher Nutzen analysiert. Eines der zentralen Ergebnisse: Der Ausbau von Radwegen oder die Verbesserung des ÖPNV kostet zwar Geld, die Rede ist von 1 Milliarde pro Jahr.
„Durch den errechneten Nutzen wirken sich aber fast alle Maßnahmen in der Summe positiv auf das Bruttoinlandsprodukt aus: Bis 2030 steigt es in vier von fünf Maßnahmen gegenüber dem Referenzszenario ohne die Maßnahmen leicht an.“
Umgekehrt betrügen die wirtschaftlichen Verluste durch Luftschadstoffemissionen des Verkehrs in Deutschland etwa 1,5 Milliarden Euro pro Jahr, Klimagasemissionen verursachten wirtschaftliche Schäden von rund 12 Milliarden Euro. Schätzungen der jährlich vom Straßenverkehr verursachten Lärmkosten lägen bei 813 Millionen Euro im Personenverkehr und 456 Millionen Euro im Güterverkehr.
Davon ist in den schicken Autoanzeigen natürlich nie die Rede.
Autofahren ist nicht Ausdruck von Unabhängigkeit, sondern von Unüberlegtheit
Gleichwohl ist mir klar, dass es Situationen gibt, in denen Autofahren nützlich und manchmal auch unvermeidlich ist. Wenn man früh morgens zur Arbeit muss und mit anderen Verkehrsmitteln doppelt so lang unterwegs wäre, wenn man Schweres zu transportieren hat oder zu einem Wochenendausflug mit Kind und Kegel aufbricht, ist das Auto eine komfortable Alternative. Und es gibt Momente, da macht Autofahren einfach Spaß – etwa, wenn man nachts über die Autobahn schnurrt, Musik hört und allein ist mit seinen Gedanken. Geht mir genauso, und ich habe aus all den angeführten Gründen zwei Carsharing-Karten im Geldbeutel. Diese und diese. Carsharing bedeutet, dass man sich vor jeder Fahrt überlegen muss, welche Mobilitätsform die klügste ist, und das Auto ist nur eine davon. Nach meiner Beobachtung steigen viele allerdings nicht ins Auto, weil es die klügste, sondern die nahe liegende Art der Fortbewegung ist. Liebe Leute, Ihr müsst einsehen: Autofahren ist nicht Ausdruck von Erfolg, Freiheit oder Unabhängigkeit, sondern von Unüberlegtheit. Das Auto hat Euch bequem gemacht. Und Bequemlichkeit macht auf Dauer nicht glücklich, sondern bräsig.
Unterstützung beim Wechsel ins Lager der Mobilitätsavantgarde
Aber ich will nicht ungerecht sein. Ich sehe ein, dass es nicht einfach ist, sich von Verhaltensmustern zu lösen, die sich fest in den Alltag gefressen haben. Es gibt ein schönes Zitat, das sich jeder auf sein Armaturenbrett heften kann, um den Wechsel ins Lager der Mobilitätsavantgarde trotzdem zu schaffen:
„Gönnen wir uns einen Moment der Stille für alle, die auf den Weg ins Fitness-Studio im Stau stehen, um sich dort auf ein Fitness-Bikes zu setzen.“
Wer dann bei uns angekommen ist, darf sich gern vor mich stellen, kurz höhöen und “Fahrradfreak” zu mir sagen. Aber erst dann.
Update am 7. August: Passend zum Thema ein Artikel aus der Badischen Zeitung: In Freiburg führt eine Großbaustelle dazu, dass Leute aufs Rad umsteigen. Dezidierter Grund: keine Lust auf Stau. Bitte hier entlang: Radläden profitieren von der Stau-Panik
Kai Schächtele's Blog
- Kai Schächtele's profile
- 1 follower

