What do you think?
Rate this book


592 pages, Paperback
First published January 1, 2009
„Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.“
Bereits nach dem ersten Absatz bin ich dem Ich-Erzähler hoffnungslos erlegen und glücklicherweise verliert der Bann nie seine Kraft. Bis zum letzten Wort, nein darüber hinaus sogar hält mich die Stimme des Erzählers gefangen. Das ist nicht nur allein der autobiographischen Geschichte um einen stummen Jungen zu verdanken, der zunächst in der Musik sein Ausdrucksmedium findet und schließlich über die Natur zur Sprache als Mittel der Artikulation gelangt, sondern vor allem Ortheils Beobachtungsgabe und seiner Sprachkraft. Zart gleiten seine Worte ins Innere, um dort umso gewaltiger nachzuklingen.
Lange habe ich überlegt, was ich sagen kann, sagen soll über Die Erfindung des Lebens und ich hadere immer noch mit mir. Sprache und Musik bestimmen die Geschichte. Mutter-Sohn, Vater-Sohn. Liebe. Emotionale Intelligenz. Persönlichkeitsentfaltung. Tiefe familiäre Verwurzelung. Abnabelung von den Eltern. Und noch einmal Sprache und Musik. Immer wieder. Nicht nur thematisch, sondern auch plastisch im Text. Jede Seite entfaltet ihr eigenes kleines Sprachkunstwerk und befeuert so den Leserausch, dem man sich nicht entziehen kann. Überall sind Schätze von Wortgeflechten oder filigranen Beobachtungen zu finden, die man fest im Kopf verankern möchte.
Hanns-Josef Ortheil arbeitet mit zwei Erzählsträngen, um die Geschichte des Protagonisten zu entfalten. Er platziert seine Informationen gezielt und weiß Spannungsbögen gekonnt zu setzen. Trotzdem ist die Sucht nach mehr am Ende jedes Kapitels nicht der Struktur des Textes zu verdanken, sondern vielmehr seinem Sprachfluss. Deshalb kommt der Roman auch ohne größere Dialoge aus und strotzt vor allem in seiner Prosa an Kraft und Spannung.
Es ist eine leise Geschichte, die hier erzählt wird und so in Szene gesetzt ist, dass der Leser gar nicht anders kann, als die Welt des Protagonisten in Bildern zu erfassen. Das sind nicht selten bedrückende Bilder, in die sich Erschütterung und manchmal auch Atemlosigkeit mischt, vor allem dann wenn der eigentliche und indirekte Grund für die Stille des Protagonisten nach und nach aufgedeckt wird, aber auch dann wenn er neue Wege einschlägt, die, wie könnte es auch anders sein, nicht immer frei von Hindernissen und Entbehrungen sind. Gleichzeitig begleiten den Leser Euphorie, Glück und viel Liebe. Liebe vor allem in der Zeichnung der einzelnen Figuren, die mitunter unmögliche Verhaltensweisen an den Tag legen, als facettenreiche Charaktere aber dennoch liebenswert bleiben. Liebenswerte Figuren sind natürlich kein Muss für gute Lektüre, waren für Die Erfindung des Lebens allerdings eine wertvolle Zutat.
Braucht es noch mehr Worte? Mein Urteil wird immer wieder gleiche Bahnen nehmen - eine grandiose Geschichte, die noch viel grandioser erzählt wird. Also warum sich länger an einer Rezension aufhalten, wenn man stattdessen ein Zitat an das andere reihen könnte?
„Dabei war es hier in Rom überhaupt nicht schwül, sondern nur heiß, eine große, mir meist sehr wohltuende Hitze ließ alles erstarren, der Himmel aber war klar und von jenem Blau, das es nur in Rom gibt, also nicht das übliche Himmelszeltblau, sondern ein Kaiserzeltblau, ein Triumphblau! Es ist ein Blau, das mir immer so vorkommt, als wäre es zu Zeiten der triumphalen Einzüge der römischen Feldherren in die Ewige Stadt entstanden und seither nicht mehr verschwunden. In diesem Blau sind geheime Mischungen aus Silber und Gold, etwas von der Schönheit der Meere und der Ferne Afrikas, ja sogar von der Schönheit des Orients enthalten! Jedenfalls ist es kein europäisches Blau und auch kein Mittelmeerblau, sondern eben ein einzigartiges, römisches Blau, das mir immer so vorkommt wie ein Amalgam aus all den Farben, die die Römer auf ihren weiten Feldzügen gesehen haben.“
Herr Ortheil, sie haben mich verzaubert. Wie kann ich Ihnen nur danken?