Die Gefährdungen der Demokratie nehmen Die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in Schweden und Italien, die Erosion des Rechtsstaats in Ungarn und Polen, die Konflikte mit autokratischen Regimen belegen dies ebenso wie der Verlust demokratischer Zivilkultur; Cancel Culture ist Teil einer zunehmend demokratiegefährdenden Praxis. Umso wichtiger ist es, Humanismus und Aufklärung gegen Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung zu verteidigen und die politische Urteilskraft zu stärken. Dieses Buch leistet dazu einen pointierten Beitrag aus philosophischer Sicht.
Meiner Meinung nach unlesbar geschrieben. Der Autor arbeitet für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und schreibt auch so. Er hat offenbar kein Interesse daran dass normale Menschen ohne akademischen Hintergrund sein Buch verstehen. Sehr schade, mich hat es viel Kraft gekostet, und auch viel Zeit, die zahlreich vertretenen Fremdwörter nachzuschlagen und die Bedeutung einzelner Sätze zu verstehen.
Zeitweise hatte ich dann aber auch den Eindruck, dass er gar nichts zu sagen hat, weswegen er möglichst viele Fremdwörter einfließen lässt. Gerade, als er das Beispiel mit Galileo Galilei anführte hatte einen Schwenk gemacht zu einem ganz anderen Thema nur um dann wieder zu Galileo zurückzukommen und ganz kurz den Sachverhalt abzulegen. Der lange Schwenk war absolut unnötig, selbst für philosophische Verhältnisse
Kurzmeinung: Klare Worte Grundlagen unserer Demokratie Cancel Culture ist eine uralte Methode, um seinen politischen Gegner zum Schweigen zu bringen. Cancel Culture „avant la lettre“ - es gab die Methode lange schon, bevor sich die Bezeichnung „Cancel Culture“ dafür etablierte. Im schlimmsten Fall führt Cancel Culture zum sozialen, zum politischen und sogar zum physischen Tod. Insofern muss man Cancel Culture mit allergrößter Skepsis betrachten. Julian Nida-Rümelin stellt deshalb in seinem Essay „Cancel Culture, Ende der Aufklärung“, wie schon im Titel ersichtlich ist, die Praktizierung dieser Methode unter eine kritische Lupe. Sie fällt krachend durch. Denn Demokratie ohne Diskurs ist nicht denkbar.
Der Kommentar: Der Autor plädiert dafür, die Errungenschaften der Demokratie nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen; darunter fallen alle Arten von Diffamierung und Diskriminierung. Gesprächsverweigerung ist Respektlosigkeit. Die Aufklärung geht von unveräußerlichen Rechten des Einzelnen aus, die nur unter sehr beschränkten Umständen beschnitten werden dürfen. Zwei Zitate: „… Feudalismus war/ist mit der fundamentalen Einsicht in die unverfügbaren Rechte und Freiheiten aller Menschen unvereinbar“. Hier geht es um die Klassenherrschaft qua Geburt. Von Geburt an sind alle Menschen gleich und mit gleichen unveräußerlichen Rechten ausgestattet. (Ja, in der Praxis sind manche gleicher, I do know that, zum Beispiel Königs, weswegen die Monarchie abgeschafft werden muss). „Das Zum-Schweigen-Bringen einer Person, weil sie den eigenen politischen Überzeugungen und Zielen im Wege steht, ist eine Form der Entwürdigung.“ Das Ringen mit dem politisch Unliebsamen, das sich Auseinandersetzen ist mühselig, ist ärgerlich, zeitaufwendig und kann tatsächlich richtig zornig machen, dennoch lohnt es sich; denn die (weitaus bequemere) Abkürzung über Abbruch der Beziehungen und Einigelung in die eigene Blase führt entweder zum Despotismus oder zur Radikalisierung in irgendeiner Art und Weise, zur selbstherrlichen Rechthaberei. Vor allem aber hat niemand die Weisheit mit Löffeln gefressen oder für sich gepachtet, alles ist im Fluss. Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse sind vorläufig. Das wissen Wissenschaftler: Ideologen nicht. Cancel Culture ist immer eine Machtdemonstration einiger weniger selbsternannter Gerechter über andere (die große, aber schweigende Mehrheit).
Julian Nida Rümelins Essay ist anspruchsvoll, es handelt sich um einen philosophischen Text, der sich unter anderem mit dem Verhältnis von europäischer Aufklärung (samt ihrer Entwicklung) zur westlichen Demokratie beschäftigt. Es ist ein intellektueller Text, der aber überraschend leicht zu lesen ist. Nur interessieren muss man sich für dieses doch sehr theoretische Thema, es kommen John Locke; Thomas Hobbes, Kant und andere Philosophen zu Wort, insofern auch philosophisches Fachvokabular. Darüber darf man sich nicht beschweren, wenn man diesen Essay liest. Der Autor erkärt jedoch alles haarklein, ich bin kein einziges Mal in diesem Text "geschwommen".
Fazit: Der Aspekt, dass es Cancel Culture (ich mag das Wort „Kultur“ darin nicht) avant la lettre gegeben hat, hat mich im gleichen Maße amüsiert wie geschockt. Die Demokratie wird von allen Seiten unter Beschuss genommen. Es braucht ermutigende und intelligente Texte wie diesen.
Kategorie: Sachbuch. Philosophie und Politik. Verlag, Piper, 2023
Ein typisches Nida-Rümelin-Buch: Ein paar Gedanken zum eigentlichen Thema werden überstrahlt von langatmigen Referaten zu Humanismus, Aufklärung, Demokratie und Urteilskraft/Vernunft. Nida-Rümelin hat ein sehr weites Verständnis von Cancel Culture: "Unter Cancel Culture wird dabei eine kulturelle Praxis verstanden, die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt." Nach dieser Definition ist es eine Form von Cancel Culture, wenn ein Soldat, der anders als seine Befehlshaber Weiterkämpfen für aussichtslos hält, eingesperrt oder gar erschossen wird. Wenn man alles in einen Topf rührt, wundert es nicht, wenn die Analyse pauschal und lebensfremd ausfällt: "Aufklärerisch gestimmte Kritik" ist besser als Canceln – das ist der ganze, wohlfeile Ertrag des Buchs.
Auch seine Analyse zum Ukrainekrieg wiederholt Nida-Rümelin, ob es zum Thema passt oder nicht: Der Westen bzw. die USA hätten den Kriegseintritt Russlands provoziert. Aber lest selbst, bevor mir noch Verzerrung vorgeworfen wird: "Dieses Fest des westlichen Triumphalismus ging spätestens im Jahre 2010 zu Ende, allerdings weithin unbemerkt. Die wichtigsten westlichen Akteure glaubten im gleichen Stil weitermachen zu können wie zuvor. US-amerikanische Strategen wollten die Gunst der Stunde nutzen, um dem alten Rivalen Russland endgültig das Wasser abzugraben, die letzten Verbündeten Russlands im Nahen Osten direkt oder indirekt zu beseitigen und das Angebot auf NATO-Mitgliedschaft Ländern zu unterbreiten, die unmittelbar an Russland anschließen, nicht bedenkend, dass für die USA die Monroe-Doktrin weiter gilt, wonach militärische Präsenz in Gestalt von Stützpunkten, Stationierungen oder Militärbündnissen in Nord- und Südamerika oder im westlichen Europa nicht geduldet wird. (…) Auch die heutigen USA würden eine Stationierung russischer Raketensysteme etwa in Kanada oder Mexiko nicht dulden, auch der Beitritt Kanadas zu einem fiktiven, russisch geführten nordpolaren Militärbündnis würde auch heute noch vonseiten der USA mit harten, vermutlich auch militärischen Mitteln unterbunden."