Das erste deutschsprachige Buch, das ins Thema Klassismus einführt und damit ein wichtiger Beitrag. Kemper und Weinbach besprechen viele Facetten von Klassismus und skizzieren historische Kontexte in den USA (wo der Begriff geprägt wurde), in UK, der DDR, der BRD, im NS. In manchen Abschnitten wurden auch wenig diskutierte Themen wie Arbeiter:innensexualität und das Recht auf Faulheit diskutiert. Es war teilweise informativ und ich hatte einige Aha-Momente.
Und nun das ABER… es ist super mühsam zu lesen und wirkt wie ein Entwurf vor dem Lektorat. Uneinheitliche Schreibstile und Quellenverweise und falsche Interpretation von zitierten Forschungsergebnissen machen die Lektüre frustrierend. Auch dass bei der erweiterten Auflage von 2020 das Binnen-I beibehalten wurde, befremdet.
Der Begriff Klassismus ist parallel zu Sexismus und Rassismus zu denken und kann dementsprechend als Diskriminierung und Unterdrückung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe begriffen werden. Welche Personengruppe zum Ziel dieser Diskriminierungsform werden kann, darüber gibt es verschiedene Vorstellungen. In jedem Fall gehören Arbeiterinnen und Arbeiter dazu. Außerdem können zum Beispiel Arbeitslose und Wohnungslose in die Definition eingeschlossen sein. Teilweise wird auch eine kulturelle Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse als Voraussetzung gefordert, um sich als klassistisch diskriminiert wahrnehmen zu dürfen (s. Zitat S.38), oder die Eltern müssen auch schon arm gewesen sein (s. Zitat S.106).
Die Einführung von Kemper und Weinbach versammelt verschiedene Perspektiven auf das Thema und zeichnet die Begriffsgeschichte nach, die 1974 mit Veröffentlichungen der US-amerikanischen Lesbengruppe "The Furies" begann. Deren Mitglieder sprachen darüber, wie sie innerhalb der Frauenbewegung aufgrund ihrer Arbeiterklassen-Herkunft ausgegrenzt wurden. In den USA wurde "... ein Politikverständnis erarbeitet, welches sich von den Vorstellungen des althergebrachten Klassenkampfes abgrenzt. Während allerdings in den USA (...) dieses Politikverständnis auch auf das Klassenverhältnis selber angewandt wurde (...), kam es in der BRD zu einer Spaltung der Linken (...). Das neue Politikverständnis wurde daher nicht auf das Klassenverhältnis übertragen, welches als Domäne der traditionellen kommunistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organisationen galt" (S.88).
Stark gestrafft, übersichtlich und verständlich referieren die Autoren eine Vielzahl von Texten, auch in eigenen Kapiteln über historische Widerstandskulturen der Arbeiterklasse und über Klassismus im Kontext von Psychologie und Psychotherapie. Diese breite Anlage ist eine Stärke des Buches, auch wenn sie vermutlich einem Mangel an wissenschaftlichen Arbeiten geschuldet ist, die näher an den Kern des Klassismus-Themas gehen.
Eine Schwäche der vorliegenden Einführung und der gesamten Debatte ist die rein identitätspolitische Ausrichtung: Klassismus wird fast durchgehend über die davon Betroffenen definiert. Die Grenzen des Begriffes werden indirekt über die Abgrenzung der Betroffenengruppe festgelegt. Klassistische Ressentiments, Diskriminierung und deren Auswirkungen werden gar nicht direkt betrachtet, sondern stets vermittelt über die Subjektivität der davon Betroffenen. Dementsprechend gibt es kaum Ansätze zu einer Objektivierung oder Messung von Klassismus, oder gar ein Erarbeiten von wissenschaftlicher Evidenz. Dies betrifft nicht ausschließlich die vorgestellte und referierte Debatte, auch die Autoren gehen an diesem Punkt nicht über diese hinaus.
Das ist besonders schade, denn dieses Problem betrifft auch die Klassismus-Debatte der Gegenwart. So wird zum Beispiel im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zwar in den Medien und von Aktivisten thematisiert, daß diskriminierte Personengruppen häufiger und schwerer erkranken. Doch erscheint diese Position im Framing eines Verteilungskampfes. Was soll denn hier verteilt werden? Gesundheit? Als würden die einen deswegen häufiger krank, weil die anderen seltener erkranken. Das ist natürlich Unsinn, denn das Infektionsrisiko verändert sich für alle Bevölkerungsgruppen in die gleiche Richtung. Nur nicht um den gleichen Betrag. Je besser diskriminierte Personengruppen vor einer Infektion geschützt werden, desto besser sind alle geschützt.
Daß der Schutz dieser Personengruppen daher dem Schutz der Allgemeinheit entspricht und diesem nicht entgegengesetzt ist, wobei ein verbesserter Schutz der Allgemeinheit wiederum in besonderem Maß denjenigen zugute kommt, die von der Pandemie besonders betroffen sind, ist eine Position, die sich aus der identitätspolitischen Sichtweise schon gar nicht legitimieren läßt. Stattdessen wird ein Verteilungskampf herbeigeredet, was weder sachgerecht ist noch den Interessen dieser Gruppen optimal entgegenkommt, zumal sie ja in einem solchen Verteilungskampf schon aufgrund ihrer Diskriminierung die schwächere Position haben.
Eine Debatte, die den Klassismus direkt in den Blick nimmt, statt ausschließlich über die Subjektivität der Betroffenen vermittelt zu sein, käme in dieser Situation sehr gelegen. Ein weiteres aktuelles Feld ist das neue Berliner Antidiskriminierungsgesetz, welches erstmals Diskriminierung aufgrund des sozialen Status ausdrücklich verbietet. In juristischen Auseinandersetzungen bietet es sich an, mit objektiven Begriffe und Evidenz zu arbeiten, sofern diese vorliegen, und es ist irgendwie schade, wenn das nicht nur nicht gegeben ist, sondern gerade von denjenigen gar nicht gewollt wird, die Klassismus eher kritisch sehen.
Ebenfalls bedauerlich, wenn man die Aktualität des Themas bedenkt, ist, daß mit der dritten Auflage des Bandes (März 2020) keine inhaltliche Aktualisierung einhergeht. Die jüngsten Angaben im Literaturverzeichnis sind von 2008, das ist zwölf Jahre her. Als Fazit ist die Lektüre dennoch sehr zu empfehlen. Die Einführung tut, was eine wissenschaftliche Einführung tun soll, und das sehr gut. Wer Klassismus versteht, versteht wichtige Probleme der Gegenwart besser, und solche Probleme betreffen alle, wie die Corona-Epidemie beispielhaft und eindringlich vorführt. Mir ist kein deutsches oder englisches Buch bekannt, welches auch nur ansatzweise das Wissen vermittelt, das in "Klassismus: Eine Einführung" präsentiert wird.