Anfang der 1960er sexuelle Tabus, veraltete Frauenbilder, patriarchale Strukturen. Für die Erniedrigung, die sie jeden Tag erlebt, will sich die 17-jährige Dora rächen. Ihr Opfer ist der Musiklehrer, ihre Waffe ist ihre Weiblichkeit. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln möchte sie ihn verführen.
Der Verführer von Doras Mutter war Adolf Hitler. Als Geflüchtete aus Schlesien hängt sie ihrer Heimat und dem NS-Regime nach. Die Erzählungen der Mutter und die Folgen des Zweiten Weltkriegs prägen Doras Leben. Sechzig Jahre später schaut die Ich-Erzählerin auf ihre Jugend im Oberharz zurück, ordnet kritisch ein und verknüpft ihre Erinnerungen mit der Gegenwart.
Elfi Conrad, geboren 1944, wuchs im Harz auf, studierte Musik und Deutsch in Hamburg und lebt jetzt in Karlsruhe. Mit Leib und Seele lehrte sie dort an Schulen und an der Pädagogischen Hochschule. Daneben vertiefte sie sich in die Fächer Kognitionswissenschaft und Semiotik, in denen sie promovierte. Sie veröffentlichte bisher „Gedächtnis und Wissensrepräsentation“ (Olms-Verlag) und mehrere Romane unter ihrem Pseudonym Phil Mira.
„Radikal. Schamlos. Mehr davon!“ Katarina Hellinger @schlimmehelena
„Am Beispiel eines freien Falls in die Schulklassen und Beatkeller der sechziger Jahre, aus der Perspektive der alten wie der jungen Frau, scheint Phil Miras/Elfi Conrads in früheren Büchern bewiesene Fähigkeit auf, mitreißende Handlung, psychologische Analyse und Portrait einer Zeit zu verweben.“ Bodo Morshäuser
„Dieser schonungslose Blick auf sich selbst! Ich konnte bis in die Nacht nicht damit aufhören zu lesen.“ Sarah Raich
"Schneeflocken wie Feuer" von Elfi Conrad befindet sich zurecht auf Platz eins der SWR Bestenliste im September. Der Roman beschreibt unglaublich dicht das Leben in der verkrusteten Nachkriegszeit in Westdeutschland. Dora ist achtzig Jahre alt. Sie blickt auf ihr Leben als junge Frau in den 60er Jahren im Harz zurück. Vor allem an das Jahr 1962 und an die Erwartung an Frauen, Mütter zu werden und sich um den Haushalt zu kümmern. Dora ist siebzehn Jahre alt. Sie hat eine jüngere Schwester, eine tablettenabhängige Mutter und einen toxischen Vater. Sie beginnt eine Affäre mit ihrem Lehrer. Der ist Sänger und Gitarrist in einer Rock'n'Roll-Band.
Wenn man von einer achtzigjährigen Erzählerin liest, gibt es die Gefahr altersdiskriminierender Vorurteile. Aber die gegenwärtige Dora ist alles andere als behäbig oder gestrig. "Bin zufrieden mit meinem Heimtrainer, auf dem ich zu Metal-Musik vor mich hintrepple." Das Buch ist auch feministisches Manifest. Mit dreiundzwanzig Jahren wird Dora Feministin und bleibt es bis ins hohe Alter. Die Vergangenheit wird immer wieder vor diesem Hintergrund gespiegelt. Und dann rückt noch die Kommentierung der Gegenwart heran.
Sprachlich werden die Szenen wie mit einer Lupe in einer schnellen Sprache gezeigt. Die Geschichte ihrer Freundin Gesine erzählt Dora beispielsweise in nur fünf Sätzen, in denen mehr steckt als in so manchem Roman. Diese Art des Erzählens kann auch etwas ermüdend werden. Es empfiehlt sich, diesen tollen Roman mit Pausen zu lesen.
Außergewöhnlich in seiner Erzählstimme in der Perspektive, radikal auf eine Art, wie wir sie Frauen mit 80 nicht zutrauen würden. Hätte eine jüngere Autorin dies veröffentlicht, wäre es sicherlich als unglaubwürdig eingestuft worden.
Eine sehr vielschichtige Erzählung eines Missbrauchs, den weder das Opfer noch der Täter so nennen wollen. Die Schilderungen des Familienlebens und der Ereignisse in der Vergangenheit haben mir sehr gut gefallen. Die Einschätzungen der Erzählerin über die Gegenwart und über ihre Handlungen und Erlebnisse in der Vergangenheit haben meinen Widerspruch hervorgerufen und mich irritiert, an der einen oder anderen Stelle. Aber das macht nichts, es gibt zu wenig Bücher, in denen ein langes Leben und ein weiter Blick zurück nicht romantisiert werden. Besonders schön finde ich den unsentimentalen, aber liebevollen Blick auf die beteiligten Kinder, die Erzählerin und ihre Schwester in der Vergangenheit. Kinder werden ja oft nur als Emotionsverstärker oder plot device eingesetzt, hier bekommen sie viel Respekt und Handlungsmacht, das hat mir sehr gefallen.
Ich habe mich zu oft über Zeitenprobleme*, Metaphernsalat und schwafelige Kommentare zur Gegenwart geärgert, aber mit mehr Lektorat hätte es sehr gut sein können. Vor allem die Details, "X gibt es noch nicht und zu Y sagen wir noch Z", mochte ich.
* Wenn man in der Gegenwartsform über die Vergangenheit, aber alle paar Sätze dann eben doch wieder über die Gegenwart schreibt, sträubt sich die Sprache, das kenne ich aus dem Techniktagebuch.
Ich schwanke zwischen 3 und 4 Sternen. Die Storyline war echt gut, das was mir nicht gefallen hat war der Schreibstil. Bzw. die Erzählerkommentare die einfach zu viel sind…
Dora ist Ende 70 und erzählt von ihrem 17. Lebensjahr. Sie lebt, nach der Flucht als Neugeborenes aus Schlesien, in einem kleinen Ort im Harz. Ihre Mutter ist krank, ihr Vater ein Arsch und sie übernimmt die Elternrolle für Mutter und ihre Schwester Birte. Was erst als Wette gestartet hat, nimmt seinen Lauf.
Der Klappentext hat mir erst eine andere Wendung der geschichte beschrieben, so wie es sich dann entwickelt hat, hat mir aber dann doch ganz gut gefallen. Der Einblick in die Familie und welche Bürden manchen Jungen Menschen aufgehäuft werden sind sehr gut in die anders erwartete Geschichte eingewebt.
Meine einzige Kritik: die übermäßigen Kommentare von der Ich-Erzählerin, die auf ihre Geschichte zurückblickt, beinhalten meist nur Dinge „über die man sich früher noch keine Gedanken gemacht hat“. Lass doch die Leser*innen einfach auch bisschen nachdenken. Feminismus für Beginner triffts manchmal auch ganz gut.
Ich fand’s echt süß und bin froh dass ich’s gelesen habe, auch wenns keine riesen Plotts gab.
Toll, wie die ältere Protagonistin zurückblickt auf ihre Entscheidungen und Gedanken als junge Frau. Die präzise Sprache hat mich tief reingezogen in das Buch!
Was für ein Wurf! Dieser Roman ist tiefsinnig, weitgreifend, poetisch und gleichzeitig scharfkantig. Dazu noch voller Humor! Eine besondere Qualität ist die Erzählhaltung, sie ist wirklich bestechend! Dieser aufgefächerte Blick der Ich-Erzählerin: einerseits der raffinierte unbekümmerte der 17jährigen, andererseits der kritische emanzipierte der fast 80jhrigen. Das gilt besonders für die patriarchalen Strukturen in Schule und Gesellschaft, mit denen das Mädchen kämpft und denen sie sich doch teilweise beugt. Zum Beispiel, indem sie das manierierte Getue der Sexikonen Anfang der 1960er nachahmt und damit die Verführung einleitet. Erhellend auch, wie diese Künstlichkeit mit der heutigen verglichen wird, die weiterhin von Profitgier beherrscht wird und die für die heutigen Jugendlichen noch viel krassere Zustände und Vorbilder bereithält: Modelshows, plastische Operationen, Pornos. Interessant und teilweise erschreckend bzw. traurig die Erzählungen und Ereignisse rund um die Mutter des Mädchens, die als Geflüchtete der NS-Zeit nachhängt, obwohl sie weiß, dass das Regime verbrecherisch war und sie nur sein Spielball. Schließlich gibt die Rahmenerzählung erfrischende Einblicke in das Leben einer 80jährigen, deren Begehren sich kaum von dem einer 17jährigen unterscheidet, und damit mit einigen Vorurteilen aufräumt. Und diese Sprache! Sie hat einen ganz eigenen Klang und Rhythmus, nicht nur in den eingestreuten Gedichten. Man kann sich darin verlieren! Dass der Roman von Denis Scheck in „druckfrisch“ euphorisch besprochen wurde, ist gut verständlich. Auch dass u.a. Insa Wilke und Anne-Dore Krohn von ihm beeindruckt waren. Der Roman ist zu Recht auf dem ersten Platz der Bestenliste des SWR und Buch des Monats des NDR. Man muss diesen Roman gelesen haben!
Eine 17 jährige, die ihrer kranken Mutter und ihrer 5 jährigen Schwester selber Mutter ist. Der Vater schlug sie und schaute ihr beim sich waschen zu. Sie rettet sich in einem Verhältnis mit ihrem 30 jährigen Musiklehrer, der mit seiner „modernen Art“ - er ist Rocksänger und interessiert sich an ihr, wie an einen Menschen - ein Funken Freiheit verspricht.
Inhaltlich kommt der Roman nach „Als sei alles leicht“ und wird erzählt von Dora, die in dem vorgenannten Roman das Baby ist. Jetzt, 1962, ist sie 17, und wie die meisten ihres Alters probiert sie sich aus. Sie erzählt von ihrer dysfunktionalen Familie in ärmlichen, improvisierten Wohnverhältnissen. Dora besucht das Gymnasium, was nicht selbstverständlich ist in jener Zeit, schon gar nicht für Mädchen, hat Musikunterricht und kümmert sich auch sonst um alles. Die Mutter ist chronisch krank, außerdem unzufrieden, unglücklich und enttäuscht vom Leben und ihrem Ehemann. Im Harz hat es ihr, der ehemals glühenden Nazisse aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Schlesien, nie gefallen, sie hat nicht das Leben, das sie leben wollte. Dora hat die Werturteile und den Blick ihrer Mutter verinnerlicht. Sie wird streng und mit Gewalt erzogen, vor allem der Vater hat genaue Vorstellungen und bestraft jedes Fehlverhalten körperlich. Die Ehe der Eltern funktioniert nicht, es wird nicht argumentiert, sondern gestritten, und der Vater hat cholerische Ausbrüche. Doras Mutter ist ihm zu jener Zeit ausgeliefert, denn wie und wovon sollte sie im Falle einer Scheidung leben? Obwohl Dora dieses Rollenmodell nicht gefällt und sie die gesellschaftlichen Konventionen ablehnt, begehrt sie nicht auf, sondern adaptiert beides, wie sich später noch zeigen wird. Die Mädchen sind alle Lolitas, so ist jedenfalls Doras Sicht, und setzen ihre Körperlichkeit ein, um die Jungs zu beeindrucken, orientieren sich an Brigitte Bardot, und das ist gesellschaftlich anerkannt. Um sich zu beweisen, macht Dora einem jungen Lehrer so lange Avancen, bis der verheiratete Mann seinen Widerstand aufgibt. Das kann nicht gut ausgehen, und für den jungen Mann endet es tragisch.
Dora erzählt ihre Geschichte als alte Frau von fast 80 Jahren, ein Klassentreffen ist der Auslöser. Sie kommentiert ihre Geschichte aus der zeitlichen Distanz, denn eingeschoben sind immer wieder Gedanken über die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn der 60er Jahre, politische Ereignisse wie die Kuba-Krise, die die Welt für ein paar Tage an den Rand eines 3. Weltkriegs, der vermutlich ein Atomkrieg geworden wäre, brachte. Erwähnt Mauertote, der Bau der Berliner Mauer liegt gerade ein Jahr zurück. Und wie funktionierte Schule damals, wie und was wurde unterrichtet, und vor allem - was nicht? Gerade diese Einschübe und das Reflektieren der gealterten Dora über Politik und Gesellschaft und ihr heutiger Blick auf ihr junges Ich im Rahmen dieser Gesellschaft machen das Buch so interessant. Die junge Dora ist keine Sympathieträgerin, sie leidet zuweilen an Selbstüberschätzung, und ich habe den Eindruck, dass sie sich aus der Distanz der Jahre selbst nicht immer mag. Aber sie ist zugleich auch Opfer ihrer Umstände, überfordert von den Anforderungen ihrer Eltern, die sie, die Schülerin, zugleich in die Rolle der Hausfrau, der Ersatz-Mutter für die viel jüngere Schwester und in die der Pflegerin für die Mutter drängen, die als Managerin der Familie und des Haushalts ausfällt. Derart unter Druck und überfordert, ist es wenig verwunderlich, dass Dora die Konsequenzen ihres Handelns im Hinblick auf den Lehrer egal sind.
Wie auch in „Als sei alles leicht“ gibt es auch hier immer wieder Vorgriffe auf die Zukunft, und ich würde sehr gerne lesen, wie es mit Dora weitergeht, auch wenn Vieles hier schon angezeichnet ist.
Elfi Conrad beschreibt anhand ihrer eigenen Geschichte lebhaft die Gegebenheiten und Umstände der 60er Jahre. Anhand dieser zieht sie Vergleiche zum heutigen Stand der Dinge und beschreibt den Wandel. Feministische Sichtweisen einer nun über 80-jährigen. Allerdings sind die Erzählstränge häufig recht vermischt und so wird das Lesen etwas holprig. Die wiederkehrende Bedchreibung der abendlichen Pflichten der damals 17-jährigen ist repetetiv und hat mich persönlich etwas gelangweilt. Insgesamt schreibt Conrad sehr intelligent und man kann sich gut in die Situation hineinversetzen. Das Passierte wird leider wenig und wenn, sehr subtil reflektiert. Die Poesie, die sich zum Teil zwischen den Zeilen und zum Teil in kurzen Gedichten einbringt, hat mir gefallen. Insgesamt ein lesenswertes Buch, das etwas mit mir gemacht hat.
I would have given this book 4.5 stars if it was possible. Not my number one for 2023 but up there in my top 5 for sure.
A mix of a chronic, a coming of age story, a feminist pamphlet, a memoir and a realistic portrayal of postwar Germany, this book is beautiful in its style simplicity and its poignant details.
I very much hope it will be translated so that I can recommend it to my english, french and spanish speaking friends.
Vorweg gesagt: Die Erinnerungen mögen zwar interessant sein, aber die Autorin schreibt sehr abgehackt, in Fragmenten, ständig zwischen den Zeiten springend. Das macht das Lesen etwas mühsam und hat immer einen leicht pessimistischen Grundton. Wie es ist, in den 50er und 60er zu leben, wird nur nebenbei erwähnt, aber gerade das wäre von Interesse gewesen. Ich habe das Buch zwar fertig gelesen, aber empfehlen kann ich es nicht wirklich.
Ein tolles Buch über das Frauwerden in den 50ern und 60ern. Es geht um Selbstbestimmung der damals jungen Dora in einer harten Nachkriegszeit im Harz. Mit was für einem Selbstbewusstsein und Witz die Protagonistin sich durch den Alltag mit patriarchalen Strukturen und misogyne Mustern bewegt! Besonders gefällt mir der kritische Rückblick der Autorin und der Vergleich zu heute. Werde auch das Folgebuch der Autorin lesen.
A woman looks back on a questionable affair she had during her school years. Abuse or a young woman learning how to take control? The answer is being kept vague. But what's definite in this tale is how much society changes within one's lifetime, as the protagonist contrast yesterday's sexism and everyday habits with today's feminism, social justice and sustainability concerns.
Hochgelobt von Denis Scheck - Das gute Buch zur späten Stunde - habe ich mir mehr erwartet. Da habe ich schon bessere Bücher über diese Zeit, in der ich aufgewachsen bin, gelesen. Zum Beispiel : Die Beste aller Zeiten von Volker Ferkau. Das werde ich gleich nochmals lesen.
Sprachlich hat es mich nicht ganz überzeugt, Story und Setting schon eher. Die Ambivalenz der 'Kindfrau' ist gut herausgearbeitet, leider sehr gnadenlos gegen über der jungen Frau. Einige Kommentare zur Gegenwart (Seitenhieb auf Social Media) sind überflüssig.