Fast jedes Kind kommt in der Schule in Kontakt mit geflüchteten Kindern, zum Beispiel aus der Ukraine. Doch was haben sie auf der Flucht erlebt und warum sind sie hier? Dieses Buch zeigt anschaulich, was es heißt, fliehen zu müssen und irgendwo neu anzufangen. Es erklärt, was in der Genfer Flüchtlingskonvention steht, wie ein Flüchtlingslager aussieht und wirft einen Blick zurück in die Geschichte. Ganz praktisch wird es zum Schluss: Die Kinder erfahren, wie jede und jeder von uns den Geflüchteten das Einleben erleichtern kann und wie man Vorurteilen entgegenwirkt.
Christoph Drösser wirft seine jungen Leser:innen direkt ins Geschehen. „Stell dir vor, deine Eltern wecken dich mitten in der Nacht“ … und die Familie muss flüchten. Alles muss schnell gehen, auch die Eltern wirken verstört, selbst wenn Krieg und Gefahr schon vorher spürbar gewesen sind. Dass die gesamte Familie alles zurücklässt, das ihr bis dahin liebgeworden war, wird in dieser Szene kindgerecht vermittelt. Mit direktem Bezug ins Jahr 2015 und auf die Ukrainekrise vermitteln Autor und Illustratorin, dass Flüchtende häufig durch Hautfarbe und Haartracht fremd wirken können. Sie verdeutlichen aber auch, dass in Deutschland von 20 Kindern 8 eine Migrationsgeschichte haben, 6 von diesen 8 jedoch inzwischen Deutsche sind. Die 20 Kinder sind als Gruppe abgebildet, die 8 Zuwanderer werden im Bild mit ihrem Namen genannt.
Mit der von Nora Coenenberg bekannten „Handschrift“ werden Mengen und Zahlenverhältnisse anschaulich dargestellt. So erfahren wir aus einer Karte und aus Kreisdiagrammen, aus welchen Ländern die meisten Flüchtenden kommen (Syrien und Ukraine), welche Länder die meisten Menschen absolut (Türkei) und die meisten im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Jordanien) aufnehmen. Diese belebt wirkenden Diagramme kommen bei jugendlichen Lesern stets gut an und bieten Diskussionsanreize. Als Fluchtursachen werden unmittelbare Gefahren genannt (Krieg, Bürgerkrieg, Revolution, Naturkatastrophen, Folgen des Klimawandels) und persönliche Gründe (Arbeitssuche, Suche nach ärztlicher Behandlung, Einschränkung persönlicher Freiheit).
Schließlich werden 10 Einzelschicksale erzählt (die Quellen zum Nachlesen sind im Anhang angegeben). Die betroffenen Kinder stammen aus Syrien, Südsudan, Ukraine, Afghanistan, Myanmar und Nigeria. Gefallen hat mir die Vielfalt der Schicksale, wie auch die unterschiedlichen Lebenswege im aufnehmenden Land. Die abgebildeten Personen sind divers in Hautfarbe, Frisur, dem Klima und Setting ihrer Heimat, fremden Uniformen.
Mit Begriffen wie Lager, Schleuser, Resettlement, unbegleitete Minderjährige, Integration und Migration werden vielfältige Aspekte aufgenommen. Ein Realitätscheck befasst sich mit dem, was so über Geflüchtete geredet wird im Verhältnis zu den Fakten. Wie selbstverständlich Flucht und Migration inzwischen zu unserem Alltag gehören, vermitteln Kurzbiografien von prominenten Geflüchteten wie Freddie Mercury oder Albert Einstein. Die Abschluss-Bemerkung, dass einem diese vielen Schicksale auch mal zu viel sein dürfen, holt junge und ältere Nutzer:innen des Buchs wieder in die Komfortzone zurück. Nicht zu vergessen die Frage: was können Kinder konkret tun im Umgang mit geflüchteten Mitschülern oder um Spenden zu sammeln.
Wenn es um Mengen und Verhältnisgrößen geht, sind Nora Coenenbergs Illustrationen unschlagbar. Mit einem Text-Bild-Verhältnis von 1:1 spricht das Buch auch ungeübte Leser ab 8 Jahre an.
Das Buch vermittelt ein äußerst problematisches und verzerrtes Bild der Ukraine. Schon die Bezeichnung „Kiew“ statt des korrekten „Kyjiw“ zeigt eine bewusste Orientierung an der russischen Schreibweise. Zudem wurde auf der Karte ein großer Teil des ukrainischen Territoriums im Südwesten ohne erkennbaren Grund entfernt. Besonders irritierend ist auch, dass eine ukrainische Familie von einer russischen Familie „aufgenommen“ wird und beide problemlos Russisch miteinander sprechen – als wäre dies selbstverständlich. All dies trägt dazu bei, die ukrainische Identität zu verwischen, Fehlinformationen zu verbreiten und die Realität des russischen Angriffs auf die ukrainische Kultur und Sprache zu verharmlosen. Ein Buch, das auf diese Weise zur Auslöschung ukrainischer Perspektiven beiträgt, ist zutiefst bedenklich.