Beeindruckendes Porträt einer Zeit, in der Territorien hin und her geschaukelt wurden. Ich habe lange keine Literatur aus dem zweiten Weltkrieg mehr gelesen, weil die Schule sie mir etwas überdrüssig gemacht hat. Ich bin froh, dass ich mich unentschieden hab. Härtling kann sehr zärtlich schreiben, über so existenzielle Zeiten und Umstände. Habe mehrfach etwas geheult. Vier Sterne!
Lea und Ruth haben viel erlebt. Sie wurden in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, aber der Krieg hat alles verändert. Sie mussten ihre Heimatstadt Brünn verlassen und sind mit ihrer Mutter in eine kleine Wohnung nach Stuttgart gezogen. Auch nach dem Tod ihrer Mutter blieben sie zusammen. Jetzt sind sie alt und manchmal verschwinden die Grenzen. Oft scheint es, als ob die beiden Frauen nur noch als eine Einheit existieren.
Die Geschichte von Lea und Ruth beginnt mit einem gemeinsamen Abendessen. Gleich da wird deutlich, dass das Zusammenleben nicht einfach ist. Gab es schon in der Kindheit kleine Spannungen, haben die sich im Alter zu ernsthaften Konflikten entwickelt. Aber es kommt mir auch so vor, als ob Lea und Ruth ihre kleinen Streitereien genießen weil beide glauben, dass sie die Oberhand behalten.
Wie es zu diesen Konflikten kam, erfahre ich im Verlauf der Geschichte. Die beiden Frauen sind nie gefragt worden, was sie wollen. Ihr Leben wurde von dem bestimmt, was ihre Eltern für das Beste hielten. Dabei wurde mir immer mehr bewusst, dass die Eltern ihre Töchter nicht wirklich zu kennen scheinen. Beide Töchter versuchen, aus dem strengen Rahmen auszubrechen, den die Eltern für sie gemacht haben, aber beiden gelingt es nur teilweise.
Beim späten Zusammenleben vermisse ich echte Gefühle zwischen den Schwestern. Sie sind aufeinander angewiesen, weil sie außer der jeweils Anderen niemand haben. Aber ihr Zusammenleben ist eine Zweckgemeinschaft und nicht aus echter Zuneigung entstanden.
Die Geschichte der beiden nur scheinbar ungleichen Schwestern hat mich nachdenklich gemacht. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie ein bisschen mutiger gewesen wären, oder wenn ihre Eltern mehr versucht hätten, sie zu verstehen? Auch nach der letzten Seite bietet die Geschichte noch viel Stoff zum Nachdenken.