Hagen Trinker, Penner und Poet, wird durch fatale Ereignisse aus der schiefen Bahn geworfen. Zu den Prüfungen, die ihm das Leben abverlangt, gehört ein Job in einem Bestattungsinstitut. - Herodes bringt Babys um und bezeichnet sich selbst als «Forscher der Stille». Auf ihn ist ein hohes Kopfgeld ausgesetzt. Judith, sechzehn Jahre alt, ist von zu Hause ausgerissen und setzt erst einmal zu einer Bruchlandung an. Wie hängen diese und andere Figuren zusammen? Wer verliebt sich in wen, und wer will wem Böses? Wo die Oper Wirklichkeit und die Realität Simulation wird; weshalb Horror und Märchen so nahe beieinanderliegen; warum Agonie und Ekel so komisch sein können - Fette Welt ist die Antwort.
"Fette Welt" von Helmut Krausser ist eine krude Mischung aus Fauser und Easton Ellis. 1991 erschien "American Psycho". Ein Jahr später kritisiert Krausser in seinem Roman die kapitalistische "fette Welt" in einer anderen, aber ähnlich verstörenden Art und Weise. Dabei kommt Krausser im Gegensatz zu Easton Ellis nicht von oben sondern wie Fauser von unten. Sein Protagonist Hagen Trinker ist "Penner" und das ausgerechnet in München. Es ist aber kein Sozialkitsch. Krausser solidarisiert sich nicht mit den Pennern. Diese sind genauso schlechte Menschen wie alle anderen auch. Nichts ist ihnen wichtiger als die Betäubung durch Alkohol. Dabei geht auch der letzte Rest Menschlichkeit meist verloren. An einer Stelle sagt der Protagonist: "Ich bin eine Kriegserklärung." Das ist eine ziemlich gute Beschreibung für das Programm dieses Buches. Das nihilistische Menschenbild entspricht dem von Céline. Dessen "Reise ans Ende der Nacht" liefert das Motto für das "Dritte Buch" der "Fetten Welt".
Die Geschichte ist eigentümlich und wenig aufregend: Hagen Trinker bricht alle bürgerlichen Brücken ab. Er lebt auf den Straßen Münchens. Er verliebt sich in die Ausreißerin Judith. Er arbeitet kurz schwarz für ein Bestattungsunternehmen. Er ist vielleicht der Serienkiller, der von den Boulevardzeitungen "Herodes" getauft worden ist. Unterbrochen wird die Gegenwartserzählung von kurzen Kapiteln über die trostlose Kindheit und Jugend "des Jungen". Wohl die Geschichte von Hagen und/oder Herodes.
Bei Erscheinen des Romanes gab es im Monats-Magazin "Tempo" eine hymnische Rezension, in der "Fette Welt" als literarisches Meisterwerk bezeichnet worden ist. Ich hatte damals "Tempo" abonniert und entnahm dem Magazin einen Großteil der Bücher, die ich las. Und so habe ich auch diesen Roman beim lokalen Buchhändler bestellt und in den Semesterferien gelesen.
Für mich ist es riskant, Romane meiner Vergangenheit erneut zu lesen. Vor allem wenn die Lektüre wie hier mehr als dreißig Jahre her ist. Gelegentlich begegne ich dabei einer Version meiner selbst, die mir fremd und rätselhaft ist. Dies ist so ein Fall. Es gibt eine schöne und wahre Zeile der Smiths, die lautet "It's so easy to hate, it takes strength to be gentle or kind". In diesem Sinne ist "Fette Welt" kein starkes Buch. Obwohl ich seine sprachlichen Qualitäten immer noch erkenne, werde ich es nicht noch ein drittes Mal lesen. Für mich steckt aus heutiger Sicht zuviel Hass und Wut darin. Literatur kann eine gute Ausdrucksform dafür sein, aber ohne jeglichen Hoffnungsschimmer, ohne Ambivalenz wird es schnell frustrierend.
Für 1-2 Bierlängen ist Krausser durchaus eine anregende Abendbekanntschaft. Danach wird's Zeit weiter zu ziehen. Das Buch startet stark. Der harte, unelegante Stil, mit kurzen Sätzen, die in den Beton drücken, passt hervorragend zum Setting. Ich mochte den Humor und die Tragik. Die Rückblenden in die Kindheit bilden einen wunderbaren sprachlichen und stilistischen Kontrast, zu den abgeranzten, auf Schmutz und Körperlichkeit reduzierten Gegenwartsteil. Nach 50% bricht dieses Konzept für mich völlig in sich zusammen. Krausser strudelt im nihilistischen Dreck vor sich hin. Der Witz wird schal, die Story ist bereits ausgelutscht. In der zweiten Hälfte häufen sich Szenen die nur noch lächerlich und albern wirken. Die literarischen Bezüge und merkwürdigen poetischen Anwandlungen mit Opernallüren funktionieren für mich null. Sie streuen Kultur-/ und Bildungs-Badezusatz in eine vollgeschissene Badewanne. Das Ende bricht mit dem Nihilismus und setzt Hagen in einer neuen elefantösen Identität frei. Man muss wohl die Teile davor gelesen haben, um zu verstehen was damit auf sich hat.
Kurzum, das Buch handelt vom Dreck, in dem Subjektivierung nur durch Körperlichkeit, Sexualität erfahren wird. Der Rest der Identität hat sich vor lauter Gestank schon verflüchtigt. Gestalten die keine gesellschaftliche Akzeptanz erfahren. Da wird mal herrlich das "Saubermann-Image" wortwörtlich genommen. Gut dass die Judith nicht so eine ist und den Hagen sauber leckt.
Der dritte Teil der Hagen Trinker-Trilogie beschreibt Hagens Leben als Obdachloser. Es ist durchgängig aus der Perspektive des extremen Misanthropen und (trotz aller Vulgarität) feinsinnigen Poeten Hagen erzählt, dessen doppelgängerischer Schatten ein Kindermörder mit dem Spitznamen Herodes bildet. Das Buch ist über weite Strecken von Hagens selbstgerechten Hass auf die bürgerliche Gesellschaft geprägt, auch wenn das Ende eine Verwandlung vom 'Schwein' zum 'Elefanten' andeutet und somit ein Aufgehen Hagens in der Bürgerlichkeit durch die Liebe zu der minderjährigen Judith.
Vergnügliche Lektüre bietet das Buch in jedem Fall, zumal die sprachbildnerische Kraft Kraussers sich hier voll entfaltet. Der Höhepunkt dieser expressiven Sprachpoesie ist wohl der seitenlange Fieberrausch Hagens, den Krausser gekonnt in wirr-assoziative Sprachdelirien transformiert. Verstörend ist allerdings die extreme Frauenfeindlichkeit, die Hagen an den Tag legt, und bei der ein Mangel an ironischer Distanz ungeklärt lässt, ob hier nur ein gekonntes Zitierspiel der aus der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts bekannten Doppelung von Dichter und Serienmörder (Hagen-Herodes) betrieben wird, oder ob der Text nicht doch selbst an den exzessiven Vernichtungsphantasien á la Wedekind unterstützend partizipiert...
Es geht um das Leben auf der Straße in Deutschland, wie schnell es gehen kann, wie stigmatisiert die Menschen sind und welche Wirkung Halluzinationen haben. Das ganze in einer ehrlichen einfachen Sprache. Ich fand es super anstrengend zu lesen, da viele Beleidigungen und diskriminierende Äußerungen getätigt wurden. Inhaltlich aber super interessant und wichtig.