Moral als Wenn es wichtiger ist die richtige Haltung zu zeigen, als sie zu haben - und warum das ein Problem ist
Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen – einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.
Zu jenen identitätspolitischen Übertreibungen, die sich tagtäglichen in den sozialen Medien beobachten lassen, hatte sich zuletzt ein gewisser publizistischer Widerstand formiert. Doch angesichts ihrer Plattheit und der übertriebenen Polemik sind viele Anti-Woke-Bücher nicht unbedingt besser als das, was sie ins Visier nehmen.
Erfreulicherweise trifft dies auf „Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht“ des Philosophen Philipp Hübl nicht zu. Plausibel zeigt Hübl auf, wie und warum sich Menschen in den sozialen Medien moralisch inszenieren. Von Moralspektakel ist demzufolge immer dann die Rede, wenn politische Positionierungen, Kritiken oder Cancel-Forderungen lediglich der Zurschaustellung der „richtigen“ moralischen Haltung dienen sollen, ohne die Welt damit wirklich besser zu machen. Daran anschließend formuliert Hübl eine Begriffskritik zu milieutypischen Schlagworten wie „toxische Männlichkeit“, Privileg oder Diversität, die auch nochmal schön aufzeigt, wie irreführend diese Begriffe verwendet werden.
Andere Aspekte haben mich wiederum nicht überzeugt. Zunächst ist „Moralspektakel“ stilistisch nicht gerade inspiriert geschrieben, denn es besteht in weiten Teilen aus einer Aneinanderreihung von Paraphrasierungen, wie man sie sonst eher von populärwissenschaftlichen Büchern kennt. Auch wird „Moralspektakel“ seinem Selbstanspruch nicht gerecht, denn zu Beginn wird angekündigt, nicht nur woke Identitätspolitiken, sondern auch jene Formen von rechts ins Blickfeld zu nehmen, doch im Ergebnis wird zweiteres nur selten thematisiert. Die These, dass durch Moralspektakel moralisches Kapitel generiert würde, dass sich entsprechend verwerten lasse, war für ebenso wenig überzeugend, denn im Unterschied zu ökonomischen oder Humankapital dürfte diese „Kapitalsorte“ außerhalb der einschlägigen Milieus wenig Relevanz haben bzw. keine größeren Einflussmöglichkeiten mit sich bringen.
Trotz der genannten Kritikpunkte habe ich „Moralspektakel“ gerne gelesen, denn es formuliert eine zutreffende und überfällige Kritik an jenen Dynamiken in den sozialen Medien, die die Welt in der Tat nicht besser machen
Eine Aussage dominiert die Berichterstattung der deutschen Medien in den letzten Wochen: die sogenannte Stadtbild-Aussage des Bundeskanzlers Friedrich Merz. Er behauptete, wer sich das Stadtbild anschaue, wisse, dass Deutschland mehr Abschiebungen durchführen müsse. Der Diskurs wurde einerseits von Rechten dominiert, die den Kanzler – den sie eigentlich als Gegner bis Feind sehen – feierten, weil er „endlich mal Klartext“ spreche. Andererseits kritisierten linksliberale Medien und Aktivisten die Aussage scharf und sahen darin Rassismus, manche sogar Anklänge an den Nationalsozialismus. Einige tausend Aktivisten aus dem Umfeld der Grünen gingen daraufhin auf die Straße und demonstrierten unter anderem vor dem Konrad-Adenauer-Haus unter dem Motto „Wie der Stadtbild“. Beim Anblick dieser Bilder fiel mir auf, dass ich noch nie ein solch homogenes, monoethnisches Bild gesehen habe. Es muss eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein, in Berlin so viele weiße Menschen auf einmal zu treffen – anscheinend klappt das nur auf linken Demos. Zwar war die Aussage von Friedrich Merz undifferenziert und eines Kanzlers nicht angemessen, doch ist jedem klar, dass sie strategisch platziert war und sich ausdrücklich nicht an alle Migranten in diesem Land richtete. Witzigerweise fanden 90 % meiner migrantischen Freunde, Bekannten und Familienmitglieder die Aussage nicht schlimm. Ein Teil – keineswegs klein – fand sogar, dass der Bundeskanzler nicht weit genug gegangen sei. Nur sehr wenige sahen in der Aussage einen Angriff auf die Menschenwürde. Wer sich fragt, warum aber ein bestimmtes Milieu weißer Menschen den Drang verspürt, sich in den Mittelpunkt dieser Diskussion zu stellen und sich zum Verteidiger der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung zu erklären, findet vielleicht in folgendem Buch eine mögliche Erklärung: "Moral [wird] dann zum Spektakel, wenn moralische Begriffe und Urteile nicht eingesetzt werden, um Probleme des Zusammenlebens zu lösen, echte Missstände zu beseitigen und für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern in erster Linie für zwei andere soziale Funktionen: als Symbole für Status und Gruppenzugehörigkeit oder als Waffen, um Macht und Einfluss auszuüben oder sich gegen Angriffe und Druck von anderen zu verteidigen." Der Autor erklärt schon zu Beginn, dass man in den Sozialwissenschaften zwischen drei verschiedenen Kulturtypen unterscheidet. Es gibt kollektivistische Kulturen, bei denen Werte wie Ehre, Stolz und Anerkennung im Mittelpunkt stehen. Ich persönlich stamme aus einer Kultur, die diesem Typus zuzuordnen ist. Dann gibt es Autonomiekulturen, die sich durch Individualismus auszeichnen, durch Rechte und Pflichten, aber auch durch schwächere soziale Verbindungen zwischen den einzelnen Individuen. Diese Kultur ist im Westen (noch) vorherrschend. Die dritte Kultur ist die sogenannte Fürsorgekultur, in der Opfer und schwächere Mitglieder im Fokus stehen und die Gesellschaft gezielt versucht, diese zu fördern. Diese Kultur ist in den Ländern des Westens auf dem Vormarsch und kennzeichnet sich durch identitätspolitische Maßnahmen zur gezielten Förderung von Frauen, Migranten und Homosexuellen. An sich ist das ein nobler Gedanke, der jedoch – so der Autor – die Gesellschaft letztlich nicht weiterführt, sondern kontraproduktiv wirkt. Das Milieu, das hinter dieser Entwicklung steht, ist ein mehrheitlich weißes, besser situiertes, urbanes, akademisches Milieu, das laut eigener Selbsteinschätzung woke, also „wachsam“ genug ist, um die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu erkennen und gegen diese vorzugehen, um den Betroffenen mehr Teilhabe zu ermöglichen. Der Autor argumentiert jedoch, dass diese Annahme ein Trugschluss ist. Im Kern gehe es bei dieser „Moral“ nicht nur darum, das Richtige zu tun, sondern das sozial Erwünschte zu tun – also das, was dem Wohltäter Anerkennung und Prestige bringt.
Problematisch wird es, wenn man für das Ziel bereit ist, alle Mittel zu verwenden. Der Autor verweist auf Studien, die zeigen, dass autoritäres und wissenschaftsfeindliches Verhalten entlang des politischen Spektrums gleich verteilt ist. Es komme nur auf das Thema an, bei dem bestimmte Milieus mehr Gesprächsbereitschaft zeigen. Man kann sich also denken, dass bestimmte Themen für das progressive Lager nicht diskutabel sind – nicht unbedingt, weil sie zu ihren Kernwerten gehören, sondern weil es das selbst gesetzte Narrativ nicht erlaubt, sie kritisch zu beleuchten, ohne Angst vor sozialer Degradierung in der eigenen Blase zu haben.
"Die Nähe oder Identifikation mit der Fürsorgekultur führt in den Geistes- und Sozialwissenschaften dazu, dass viele Forscher den egalitären Fehlschluss begehen: Sie leugnen faktische Ungleichheit zwischen Menschen, weil sie Ungleichheit moralisch ablehnen. [...] Aus einem Sein kann man kein Sollen ableiten. Der egalitäre Fehlschluss hingegen beschreibt den umgekehrten Denkfehler, denn er leitet aus dem Sollen ein Sein ab." Laut Autor beziehen sich diese Selbstverblendungen nicht nur auf geschlechtsspezifische Unterschiede, sondern auch auf Aspekte der persönlichen Lebensführung. Man spreche nur noch über „Strukturen“ und vernachlässige die Autonomie des Einzelnen und dessen Fähigkeit, zumindest teilweise an seiner prekären Situation etwas zu verändern. Diese Fürsorgekultur bedeute letztlich eine Entwürdigung der Betroffenen, weil man ihnen die Fähigkeit abspricht, ihre Lage eigenständig zu verbessern. Zudem begünstige sie die Suche nach einer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe, um in der Opferhierarchie aufzusteigen. 2020 schrieb Sahra Wagenknecht ihr Buch Die Selbstgerechten. In jener Zeit befand sich das Land im Corona-Lockdown, und die sozialen Medien wurden zur neuen Öffentlichkeit. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals die Welt aus einem linksliberalen Blickwinkel sah – und mich tierisch darüber aufregte, als Wagenknecht sagte, dass „Lifestyle Linke“ bewusst nach Opferidentitäten suchen, um damit die Konjektur der Identitätspolitik mitzunehmen.
Fünf Jahre später teile ich die These der umstrittenen Politikerin und kann aus eigener Erfahrung berichten, wie ich in meinem vom Staat finanzierten Studiengang viele Akademikerkinder erlebe, die mit Hingabe versuchen, in der Opferhierarchie aufzusteigen, um ihr finanzielles Wohlergehen zu kompensieren. Man ist vegan, Teil einer sexuellen oder Gender-Minderheit – ohne es tatsächlich auszuleben –, und schreibt sich das demonstrativ auf die Brust. Man ist antifaschistisch, weltoffen, pro Bahn, pro Fahrrad, gegen das Auto. Doch am Anfang der Sommerferien geht es zurück in die Heimat – mit Mama und Papa zwei- bis dreimal in den Urlaub –, und man nimmt sich Urlaub von seinem Leben im Elfenbeinturm. Diese Leute sind erfahrungsgemäß auch die lautesten, wenn es um Online-Aktivismus geht – und um „Anti-AfD“-Demos in den linken Großstädten, in denen sie wohnen, wo es vor allem darum geht, zu sehen und gesehen zu werden. Wirklich daran interessiert, rechtsextreme Tendenzen einzudämmen, sind die wenigsten. Viele verstehen schlicht nicht, dass die Mittel, die sie benutzen, keine höheren Ziele verfolgen bzw. erreichen – außer den eigenen Selbstwert zu stärken. Die meisten Diskussionen drehen sich um Sprachregeln, die nichts anderes sind als soziale Signale, um in der eigenen Gruppe aufzusteigen. Der Autor erkennt zu Recht an, dass diese verschachtelte, politisch korrekte Sprache nichts dazu beiträgt, Ungleichheiten zu minimieren. Er bezieht sich auf Studien, die zeigen, dass symbolische Gesten wie Sprachveränderungen und Sensibilisierungstrainings zu mehr Gruppenbildung und weniger Toleranz führen – wie zahlreiche Untersuchungen in US-amerikanischen Firmen belegen. Warum also das Ganze? Weil jeder mitmacht. Wie der Autor richtig erkennt: In der Moral geht es oft darum, dazuzugehören. Gruppen belohnen ähnliches Verhalten und bestrafen diejenigen, die aus der Reihe tanzen. Wenn die meisten Akteure versuchen, politische Konkurrenten bewusst misszuverstehen, ihnen Rassismus, Sexismus oder Homophobie zu unterstellen – bloß weil sie meinen, dass selbstgerechte Ansätze zwar gut gemeint, aber nicht effektiv sind –, dann werden in der Blase diejenigen gelobt, die das bestätigen. Wer hingegen zur Mäßigung aufruft, wird als Schwächling oder Sympathisant der „anderen Seite“ abgestempelt. Der Autor verweist auf das sogenannte Creep-Phänomen, bei dem man Probanden Bilder verschiedener Gesichter zeigte und sie aufforderte, diese auf einer Skala von „sehr gefährlich“ bis „sehr freundlich“ einzuordnen. Im zweiten Schritt entfernte man alle Bilder mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck und ließ die Probanden dasselbe Spiel noch einmal spielen. Das Ergebnis war, dass die Probanden ihre Definition von „unfreundlich“ ausdehnten und versuchten, selbst in freundlichen Gesichtern Anzeichen von Unfreundlichkeit zu finden. Dieses Phänomen lässt sich auf die Gesellschaft übertragen: Je mehr Gleichheit erreicht wird, desto sensibler werden Menschen gegenüber Ungleichheiten. Ein linker Take, der zeigt: Je wachsamer eine Gesellschaft gegenüber Ungerechtigkeit ist, desto stärker fallen auch die kleinsten Ungleichheiten auf. Problematisch wird es jedoch wenn man meint ein Creep zu sehen, wo es ihn nicht gibt; also wenn man anfängt, alles und jedes als sexistisch, rassistisch oder unpassend zu deklarieren. Wenn jede Kritik und jede Distanzlosigkeit mit den härtesten Begriffen bekämpft wird, verlieren diese Begriffe ihre Bedeutung. Dann ist Friedrich Merz zum Beispiel ebenso wie Adolf Hitler ein „Nazi“ – und ich persönlich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der wir für beide denselben Begriff verwenden. Das Internet war der Nährboden für eine solche Opferkultur. Die Mechanismen der sozialen Medien begünstigen ein Verhalten, das nicht das Beste in uns hervorbringt, sondern Wut. Die sozialen Medien belohnen Wut, sie belohnen Aufregung, sie belohnen Shitstorms – und davon profitieren Menschen, die der Autor als Politikhobbyisten bezeichnet. "Hobbyisten geht es nicht um Karriere oder das Gemeinwohl, sondern sie befassen sich mit politischen Themen, weil sie Engagement für sich genommen erfüllend finden. Sie sind eher aktivistisch, stellen tendenziell absolute Forderungen, zeigen wenig Kompromissbereitschaft und haben auch nicht den langen Atem für die nachhaltige Umsetzung eines Projekts wie einer Spielstraße im Viertel. Gerade mit Aktionen wie digitalen Petitionen suchen sie den schnellen Kick. Bleiben sie erfolglos, sehen sie das eher als Bestätigung, dass die anderen die moralische Relevanz ihrer Forderung nicht erkennen, nicht als persönliches Scheitern oder Anlass, sich noch stärker in ihre Kampagne einzubringen. Für Hobbyisten ist ihre politische Identität der verlängerte Arm ihrer moralischen Identität, mit der sie ihr Leben aufwerten." Die Entstehung dieser Hobbyisten wird durch die kommunikative Ebene der Moral begünstigt. Die Rolle der Selbstauskunft bei moralischen Handlungen kann man vergleichen mit dem Panopticon, jenem Gefängnisbau, den der Philosoph Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert konzipierte:
"In der Mitte steht ein Wachturm, von dem man alle Zellen sehen kann; kein Insasse weiß, ob hinter den dunklen Scheiben der Kontrollzentrale tatsächlich ein Wachmann steht, doch jeder fühlt sich beobachtet, daher verhalten sich alle so, wie man es von ihnen erwartet. Das ist die kommunikative Seite der Moral. Wir wollen nicht nur unsere moralische Identität verteidigen, sondern zugleich allen anderen unseren moralischen Status mitteilen, und zwar umso deutlicher, je mehr Menschen uns beurteilen können. Denn wie überall im Leben geht es auch bei der Moral um Anerkennung, oder noch genauer: um Status." Dieses Statusspiel ist nicht nur auf Politikhobbyisten beschränkt – wir alle machen mit. Wir handeln moralisch, um von anderen anerkannt zu werden. Unsere Vorfahren haben vor Hunderttausenden von Jahren etwas Neues erschaffen, das es zuvor noch nie gegeben hatte. Zuvor war soziale Hierarchie – wie im Tierreich – nur durch Stärke bestimmt. Unsere Vorfahren fanden jedoch eine andere Möglichkeit aufzusteigen: durch Prestige. Menschen, die potenziell stärker waren, waren erstmals bereit, ihre Vorteile anderen freiwillig abzugeben. Was genau Prestige ist, erklärt der Autor wie folgt:
"Prestige kann man also auf vielen Wegen erlangen. Vier grundlegende Prestigekategorien lassen sich unterscheiden. Erstens Besitz wie Geld, Immobilien, Schmuck, Kunst oder Autos. Zweitens Fähigkeiten, also Wissen und Können, ob in Form von Allgemeinbildung, sportlichem Geschick oder musikalischem Talent. Drittens Beziehungen, also ein beeindruckender Freundes- und Bekanntenkreis sowie einflussreiche Jobkontakte. Und viertens Attraktivität, wozu unter anderem Schönheit, Charme, Sexappeal, Geschmack und ein elegantes Auftreten gehören." Viele Studien und Umfragen zeigen, dass Moral heutzutage wichtiger denn je ist. Viele Menschen geben an, dass bei der Partnerwahl Moral an erster Stelle steht. Betrachtet man die vier oben genannten Kategorien, erkennt man, dass Moral eine nicht zu unterschätzende – ja, sehr große – Rolle spielt. Zwischen kostspieligen Signalen, die Einsatz und Ressourcen erfordern, und billigen Signalen, die oft durch Übertreibung oder im Extremfall durch Lügen gekennzeichnet sind, um moralisch aufzufallen, unterscheidet der Autor zwischen Nahbereich und Fernbereich.
Der Nahbereich ist zwar an sich ein billiges Signal, kann jedoch schnell entlarvt werden – und die Prestigeverluste einer Lüge sind größer als der kurzfristige Gewinn. Wenn man also von sich behauptet, großzügig zu sein, dies aber nicht durch Taten untermauert, wird man nicht nur als geizig, sondern auch als Hochstapler wahrgenommen. Die gesellschaftliche Folge ist doppelt so hart. Daher die Flucht in den Fernbereich: "Weil sich Behauptungen über den Nahbereich leicht überprüfen lassen, sind Signale über den Fernbereich für die moralische Selbstdarstellung so beliebt. Wer über Geister und Dämonen spricht oder über das Leben nach dem Tod, über Weltpolitik oder über den »Systemwechsel«, der nimmt Zusammenhänge in den Blick, die so unüberschaubar groß, fern, komplex oder fantastisch sind, dass man Annahmen darüber schwer oder gar nicht überprüfen kann. Wer beispielsweise über die Lösung des Nahost-Konflikts oder die Abschaffung des Kapitalismus urteilt, wird erstens selten mit Fakten konfrontiert, die eine Fehleinschätzung widerlegen könnten. Und zweitens kann man vom heimischen Sofa aus leicht über existenzielle Nöte oder ein »ganz neues System« urteilen, weil man seine eigene Haut nicht riskiert, also keine Skin in the Game hat, wie das gleichnamige Buch des Ökonomen Nassim Taleb heißt, der darin den Übermut vieler Investmentbanker beschreibt, die an der Börse spekulieren, ohne ihr eigenes Kapital einzusetzen." Abgesehen von der Selbstdarstellung, die per se niemandem aktiv schadet, gibt es Aspekte, in denen Moral zur Waffe wird. Wenn man annimmt, dass Prestige Macht bedeutet – weil Prestige Menschen dazu bringt, sich den Urteilen und Bedürfnissen anderer unterzuordnen, ohne dass Zwang besteht –, dann erhält derjenige, der moralische Urteile fällt, Macht.
"Auch moralisches Kapital kann einem Macht verschaffen, selbst wenn das vielleicht erst auf den zweiten Blick sichtbar wird. Wer starke moralische Urteile fällt und seine Ansichten selbstsicher vorträgt, kann Menschen für seine Sache gewinnen. Wer anderen Fehlverhalten vorwirft, kann sie verunsichern, dominieren oder ihnen langfristig schaden. Und Einschätzungen moralischer Autoritäten erhalten oft mehr Aufmerksamkeit und finden mehr Zustimmung als besser begründete Aussagen von Unbekannten. So ist es kein Wunder, dass lange vor der modernen Rechtsprechung Priesterinnen und weise Berater mächtig waren, weil sie Urteile über Fehlverhalten fällten und den Herrschern Ratschläge erteilten." An dieser Stelle zitiert der Autor John Stuart Mill, einen Vordenker des Liberalismus, dessen Entwurf einer idealen Gesellschaft deutlich von dem abweicht, was heute unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Ungleichheit geschieht. Der Liberalismus wird zunehmend verdrängt zugunsten jener, die – gewollt oder ungewollt – die Freiheit einschränken, mit der Behauptung, dadurch mehr Teilhabe für sogenannte marginalisierte Gruppen zu schaffen. Dabei verliert man die Bereitschaft, konstruktiv über Ideen anderer zu sprechen, statt schnelle Urteile zu fällen – aus Angst, selbst zum Ziel solcher Urteile zu werden. In dieser Hinsicht liegt die Fürsorgekultur dem rechten Reinheitsprinzip näher, als viele zugeben möchten: "Während Traditionalisten »Unreinheit« eher in »gefährlichen Fremden« oder einer liberal gelebten Sexualität entdecken, haben insbesondere Menschen in Fürsorgekulturen Angst vor Ideen und Taten, die so wirken, als würden Opfergruppen einen Schaden nehmen. Daher wollen sie den Kontakt zu diesen Ideen und zu Menschen, die sie vertreten, um jeden Preis vermeiden. Die physische Nähe zu einem Professor im Vorlesungssaal, zu einer umstrittenen Kabarettistin auf der Bühne oder einem konservativen Autor im Verlagsprogramm kann da schon ausreichen. Vordergründig rechtfertigen viele dieses Reinheitsstreben mit dem edlen Ziel, die Unterdrückten zu schützen und Diskriminierung zu bekämpfen. Tatsächlich ist der tiefere Grund für moralische Reinheit ebenfalls unser digitales Reputationsmanagement. Wer moralische Reinheit praktiziert, vermeidet nämlich mehrdeutige Signale." Der Autor merkt an, dass dieses moralische Reinheitsgebot manchmal so weit geht, dass man bestimmten Akteuren nicht einmal dieselben Begriffe zugestehen will. Ob das in den meisten Fällen tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit führt, ist fraglich. Dennoch drehen Sprachpolizisten eifrig an diesem Rad und sortieren Begriffe aus dem Sprachgebrauch aus – letztlich, um für mehr Prestige innerhalb der eigenen Gruppe zu sorgen, durch die Perfektionierung des eigenen Soziolekts: "Das zeigt schon die euphemistische Tretmühle (euphemistic treadmill, wie der Psychologe Steven Pinker sie nennt, also eine Spirale der Beschönigung. [...] Tatsächlich sind es die Einstellungen, die sich ändern müssen, nicht die Worte, die zu ändern oft nur billige Ersatzhandlungen darstellen. […] Die sogenannte inklusive Sprache ist das neue Latein der akademischen Elite. Auch dieser Jargon ist schwer zu lernen, weil er – wie könnte es anders sein – vor allem aus lateinischen Fachwörtern, aber auch aus englischen Ausdrücken und Abkürzungen besteht, die sich obendrein noch ständig ändern, sodass nur mitreden kann, wer zu den eingeweihten Kreisen gehört. Sagt man überhaupt noch »PoC« oder schon »BIPoC« für »Black, Indigenous, Person of Color«? Sagt man noch »LGBT« oder schon »LGBTQI+« für »Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual« und alle weiteren
Hübl, Philipp. Moralspektakel: Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht (German Edition) (S.287). Siedler Verlag. Kindle-Version. Philipp Hübl meint, „alle großen Ideen ereignen sich zweimal, das eine Mal als Theorie und das andere Mal als Hashtag“ (233). Damit sind Ton und Inhalt des Buches gut getroffen. Hinzuzufügen wäre, dass in dem gemeinten Vorbild dieses Spruchs das Hashtag noch eine „Farce“ war, was es heute wohl immer noch ist. Bei Hübl geht es in diesem Sinne um das „Moralspektakel“, das in den mit „Hashtag“ hinreichend gekennzeichneten (asozialen) Medien permanent aufgeführt wird und das dann vorliege, „wenn es in der moralischen Auseinandersetzung nicht um die Sache, sondern vorrangig um Selbstdarstellung geht“. (11) Während der Autor dem Moralanspruch unseres Denkens, Sprechens und Handelns durchaus Verständnis entgegenbringt („Körper wecken Lust in uns, aber erst Moral lässt Liebe entstehen“/ 70), kritisiert er doch dessen narzisstisch- neurotische Begleiterscheinungen. Die führen mittlerweile zu einer „Empörungserschöpfung“ (18), was man dem Buch anmerkt: Sein Diktum ist bei aller Kritik unaufgeregt und angenehm frei von Rechthaberei, Schuldzuweisungen und eben auch frei von aller Empörung.
Eher hat Hübl Mitleid mit denen, die meinen, im Netz ständig „Reputationsmanagement“ betreiben zu müssen, was allerdings angesichts der grassierenden Hypermoral notwendig erscheint. Klare moralische Signale sollen verhindern, absichtlich oder unabsichtlich missverstanden zu werden. Das klappt natürlich nicht, was mit dem Wesen sprachlicher Äußerungen erklärt wird, die zum halbwegs geglückten Verständnis genau den Kontext brauchen, aus dem sie in Kurznachrichten normalerweise gerissen werden. Was übrig bleibt, ist „moralische Effekthascherei“ (25), die aus der Verführung resultiert, es mit der Selbstdarstellung zu übertreiben, die „uns, je nach politischer Gesinnung, besonders engagiert, sensibel, mitfühlend, besonders unabhängig, selbstbestimmt und ehrgeizig oder besonders religiös, rein und ehrenhaft“ erscheinen lassen soll: „Auf eine Formel gebracht lautet die These also: Statusspiel + digitale Medien = Moralspektakel.“ (21) Statt die nach Kant alle Moral begründende Frage nach dem richtigen Handeln zu stellen (»Was soll ich tun?«), „fragen wir jetzt vor allem: »Wie soll ich darüber reden?« (22) Das ist bitter und doch treffend bemerkt. Nicht zu vergessen das gute Gefühl, das sich heutzutage einstellt, wenn man – statt etwas zu tun (und sei es auch nur seinen Arsch heben und auf die Straße zu gehen) – eine Online- Petition unterzeichnet. Anhand vieler Beispiele illustriert Hübl die „neue Moralkultur“ bspw. vieler Firmen oder Netzaktivisten als „Ersatzhandlungen“. (27)
Philosophischer und ziemlich interessant ist die Beobachtung, es gäbe im Westen eine neue, von den USA ausgehende und auf die südöstlichen Kollektiv- bzw. die westlichen Individualkulturen der bisherigen Kulturgeschichte folgende „Fürsorge- Kultur“, deren Diversifizierungstendenzen zum einen den überwunden geglaubten Kollektivismus durch die Entstehung von „Opferkollektiven“ (die sich freilich sofort in erbitterte Kämpfe untereinander verstricken = „Opferkonkurrenz“) wiederbeleben und zum anderen den Fokus vom Betroffen- Sein hin zum Sich- Betroffen- Fühlen verschieben: „Wenn Menschen nicht mehr durch Kriege traumatisiert sind, beginnen sie irgendwann, auch ein missglücktes Date als »traumatisch« zu beschreiben.“ (42) Das sei u.a. eine Folge der schwindenden Fähigkeit, in einer Weise über die Welt nachzudenken, die Distanz zu uns selbst und unseren spontanen Impulsen wahrt. Was da fehlt? „Der traditionelle Begriff für diese Fähigkeit lautet Vernunft.“ (64) Ich würde hinzufügen, dass es auch für all den anderen Betroffenheits- und Wachsamkeits- Quatsch ein gutes altes Wort gibt, das Verhaltensweisen beschreibt, die dem gesellschaftlichen Zusammenleben förderlicher sind: „Anstand“.
Wer nun aber meint, Hübl würde in den Chor derjenigen einstimmen, die Cancel- Culture ablehnen und Wokeness verdammen etc., der irrt. Die Bezeichnung „Sonderbare Länder“, in denen all das Tendenz ist, wird hingegen positiv bedeutet, denn eben diese Länder „belegen auf vielen Indizes die obersten Plätze, unter anderem für Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, sozialstaatliche Leistungen, Lebenserwartung, Bruttoinlandsprodukt, Lebenszufriedenheit, Gesundheitsversorgung, religiöse Toleranz, Schutz von Minderheiten sowie Meinungs- und Pressefreiheit. Umgekehrt liegen sie bei Korruption, Diskriminierung und Gewaltkriminalität auf den hintersten Plätzen.“ (80) Die Lage ist also nicht so schlecht, wie man gemeinhin annimmt, weshalb wir – da wirkliche Probleme weitgehend fehlen – immer mehr Kraft auf die Erfindung oder Lösung von Scheinproblemen verwenden können. Welch ein Luxus!
Und doch schwingt Kritik mit: „Während Anhänger der Würdekultur (aus einer anderen Perspektive = Individualkultur) stolz auf ihre innere Stärke und Widerstandskraft sind, betonen Mitglieder der Opferkultur ihre Empfindsamkeit.“ (84) Was an sich nicht schlecht ist, führt aber dazu, die „Autonomie“ des Individuums in Frage zu stellen, die eine Formulierung allgemeiner (und eben nicht gruppenspezifischer) Menschenrechte erst möglich gemacht hat. Nicht die Achtsamkeit an sich ist dem Philosophen verdächtig, sondern die daraus folgende Aufhebung der größten moralischen Errungenschaft der Aufklärung überhaupt, nämlich jenes Universalismus, nach dem jeder (!) Mensch frei und gleich an Rechten geboren sei, wie es bei Jefferson heißt. Spannend, dass man nach Hübl die neue „Fürsorgekultur“ auch „als Extremform und vorläufigen Endpunkt der weltweiten Feminisierung betrachten kann“ (91). Die negativen Seiten des aus der Fürsorgekultur folgenden Kollektivismus kann der Autor dabei ebenso prägnant wie satirisch gekonnt beschreiben. „So ist es sicher kein Zufall, dass ihr Aufstieg mit dem weltweiten Erfolg sozialer Medien zusammenfällt, die die Welt zu einem digitalen Dorf gemacht haben, mit all den Zwängen, die das Dorfleben nun einmal mit sich bringt. In der Fürsorgekultur ist man nicht für Ehrverletzungen sensibilisiert (wie in den alten Kollektivkulturen – F.S.), sondern hat Sorge, Benachteiligung, Diskriminierung oder Unterdrückung zu übersehen. Gleichzeitig sind alle ständig nervös und ängstlich, selbst einen vermeintlichen Schaden anzurichten, weil oft schon unachtsame Worte und Gesten ausreichen, um den Zorn der Tugendwärter auf sich zu ziehen.“ (97)
In Anlehnung an Bourdieu begründet Hübl dann seinen Vorschlag der Erweiterung der altbekannten Sorten „kulturellen Kapitals“ um die Kategorie des „Moralkapitals“, das er wesentlich als eine weitere Form des „Prestiges“ fasst: „Humankapital ist »was du kannst«, soziales Kapitel hingegen »wen du kennst«. Betrachtet man die unterschiedlichen Prestigekategorien unter dieser Perspektive, zeigt sich, dass ihnen allen eine besondere Form von Kapital entspricht: Das gilt für Besitz (ökonomisches Kapital), Wissen und Fähigkeiten (Humankapital) und soziale Beziehungen (soziales Kapital) ebenso wie für Attraktivität (erotisches Kapital) und die richtige Moral.“ (125/126) Was aber ist „richtige Moral“ in einer Welt, in der sie „Kapital“ (also allgemeines Vermögen im Sinne von Etwas- Wirken- Können) wird? Aus dem moralischen Anspruch muss unter den gegebenen Bedingungen Scheinheiligkeit werden. So befürworten die moralisch „richtig“ Fühlenden „die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland, sind aber als Stadtbewohner nie unmittelbar mit ihrem Verhalten konfrontiert wie Schäfer, Bauern oder Jäger auf dem Land, wo die Rudel umherstreifen. Sie beziehen Ökostrom, blicken aber nicht auf große graue Windräder, wenn sie aus ihrem Wohnzimmer schauen. Und gerade Akademiker geben sich tolerant, indem sie »Body Positivity« unterstützen, also auch stark übergewichtige Figuren als »schön« bezeichnen, setzen aber alles daran, selbst schlank und sportlich zu sein, stellen diese Ansprüche auch an ihre Sexualpartner und müssen so nicht mit negativen Folgen rechnen, etwa mit Einbußen ihrer Attraktivität oder mit Knieschäden, Diabetes oder einer verkürzten Lebenserwartung durch Übergewicht.“ (214) Besser kann man es nicht sagen.
Und weil das so ist, muss das Buch am Ende doch den Gestus ein bisschen ändern, denn alles verstehen kann nicht mehr bedeuten auch alles zu verzeihen: „Weil oft die Haltung wichtiger ist als die Lösung eines Problems, befindet sich die öffentliche Diskussion in einer gesinnungsethischen Schieflage, wenn es um politische Fragen geht, die fast immer Abwägungsfragen sind“. (281) Die Wissenschaft leide ebenfalls, „wenn Faktenfragen durch Identitätsschutz oder moralische Selbstdarstellung verzerrt werden. Und das wiederum macht es schwerer, große Wertfragen informiert zu beantworten und die richtigen politischen Maßnahmen zu ergreifen, die sich immer auf objektiv ermittelte Daten stützen müssen. Außerdem verlieren die Bürger ihr Vertrauen in Institutionen wie Universitäten, Gerichte oder die Medien, sobald sie diese als ideologisch oder parteiisch wahrnehmen.“ (287) Leider wahr. Seufz.
Das Fazit, mit dem dieses überaus lesenswerte und erhellende Buch, dem eine möglichst weite Verbreitung besonders an Universitäten und in studentischen Kreisen zu wünschen ist, die den gendernden Elitesprech als neues Zugehörigkeitssignal kultivieren ohne zu bemerken, dass ihr andere inkludierender Anspruch sich unter der Hand zu einer andere ausschließenden Redeweise ändert, lautet: „Im Leben hat nicht alles, was etwas kostet, einen Wert. Doch nichts, was einen Wert hat, gibt es umsonst.“ (288) In diesem Sinne fordert das Buch die Anstrengung eigenen Denkens ohne Leitung irgendeines aktivistischen Kollektivs heraus und möchte junge Menschen darin bestärken, zweimal nachzudenken, ehe sie „ihrem Mainstream“ folgend gegen den vermeintlichen Mainstream nicht- woker Andersdenkender aufbegehren. Hübl fordert das pointiert im Namen einer Verteidigung der Vernunft! Und darum muss es in den Diskussionen, die auf das Buch mit Sicherheit folgen werden, auch gehen. Uneingeschränkt zur Lektüre empfohlen.
Der Verfasser ist Philosoph, doch argumentiert er in seiner Abrechnung mit dem „Moralspektakel“ primär auf der Grundlage von Argumenten und Beispielen aus dem Bereich der Kognitionswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft. Das ist an sich positiv, doch ist nicht alles neu, und manches etwas oberflächlich. Zunächst schildert Hübl die evolutionären Grundlagen moralischen Empfindens, seine Bedeutung für den Zusammenhalt von Gruppen, aber auch warum Menschen zur moralischen Selbstüberschätzung neigen. Für jemanden, der sich mit diesen Fragen schon auseinandergesetzt hat, findet sich hier nichts neues, doch sind diese Abschnitte eine gute Einführung für diejenigen, die neu in der Materie sind. Sein Hauptargument ist jedoch, dass Individuen und Gruppen versuchen, mit „moralischem Kapital“ ihren Status zu heben. Hierbei knüpft er an Bourdieus Theorie verschiedener Kapitalformen an, und man könnte einwenden, dass es sich um eine Sonderform des „kulturellen Kapitals“ handelt. Er Unterschied ist allerdings, dass das moralische Kapital recht leicht durch bestimmte performative Praktiken zu erwerben ist. Dass das Streben nach Statusgewinn – in der eigenen Gruppe wie der gesamten Gesellschaft – durch moralisches Kapital momentan gerade so virulent ist, führt Hübl auf verschiedene Gründe zurück. Die sozialen Medien erleichtern den Zugang zum Publikum ungemein. Zudem ermöglicht es Menschen in materiell prekären Verhältnissen, mit Hilfe der Kenntnis der richtigen Codes Macht über in anderer Hinsicht Bessergestellten auszuüben. Zum Beispiel die Genderbeauftrage mit einschlägigem Studium, die naturwissenschaftliche Forschungsanträge wegen mangelnder Genderperspektive kritisiert. Da sich die richtigen Codes ständig ändern, haben diejenigen, die Zeit haben sich permanent mit diesen Änderungen zu beschäftigen, einen Vorteil gegenüber jenen, die primär ihren Lebensunterhalt bestreiten. Attraktiv ist das Moralspektakel jedoch auch für Bessergestellte,* die mit Hilfe von „Luxusauffassungen“, deren Konsequenzen ihren Lebensbereich nicht betreffen, nach innen und außen einen moralischen Überlegenheitsanspruch kommunizieren. Hübl zeigt zuletzt auf, dass die Problematik nicht nur im Herrschaftsanspruch der Veranstalter des Moralspektakels liegt. Da es primär dem Verlangen nach Verbesserung des eigenen Status entspringt, macht es blind dafür dass manche Maßnahmen kontraproduktiv sind („Jute statt Plastik“), oder gar die Akzeptanz bestimmter, wichtiger politischer Maßnahmen untergräbt (Aktionen radikaler „Klimaschützer“). Gerade dadurch begünstigt das Moralspektakel populistische Reaktionen. Als Alternative zur Empörungsmoral empfiehlt er eine Rückkehr zur empiriebasierten, kompromissoffenen Vernunftmoral.
Die konkreten Beispiele für das Moralspektakel stammen meist aus dem deutschen und amerikanischen Kontext, Hübl knüpft an frühere Beiträge, z.B. Yascha Mounk an, ist aber im Gegensatz zu ihm mehr an der zugrundeliegenden sozialen Dynamik als an den geisteswissenschaftlichen Wurzeln interessiert.
*Die besondere Rolle von Erben wird von ihm allerdings nicht thematisiert.
Das Buch hat mich erinnert, wieder Leseproben zu lesen, bevor ich es kaufe (zum Glück kann man bei Thalia den Kauf noch widerrufen). Mich hat gleich zu Beginn gestört, wie typisch über Wokeness geschimpft wird (ohne das Wort zu erwähnen). Bei einem Buch, dass sich mit dem Thema Moral beschäftigt erwarte ich eine Einordnung von verschiedenen Motivationen. Ein Beispiel im Buch war ein Comedian, der für einen Witz kritisiert wird. Diese Witze können Menschen verletzen. Im Beispiel von J. K Rowling erfolgt erstmal eine Erklärung, ob es biologisch mehr als zwei Geschlechter geben kann. Sie benutzt aber ihre Einnahmen aus den Büchern, um Organisationen zu unterstützen, die Menschen verletzen. Laut Buch geht es aber darum, seine moralische Überlegenheit darzustellen. Ich erwarte da eine viel differenziertere Sicht. Wenn ich einfach nur Gemecker über moderne Moralvorstellungen hören möchte, dann kann ich auch Kommentarspalten auf Instagram lesen und muss nicht dieses Buch kaufen. Ich empfehle jedem dringend die Leseprobe zu lesen um zu schauen, ob das Buch für einen passt.
Das Buch ist lesenswert aber leider viel zu oberflächlich, eine große Sammlung an Themen, ohne tiefgründig die auseinanderzusetzen. Gefühlt an vielen Ecken nur Kritik an der progressiven Politik ohne tiefer einzutauchen.
Als „Moralspektakel" bezeichnet Hübl das Phänomen, dass Menschen ihr Handeln zwar als moralisch aussehen lassen, dies aber nur dem eigenen sozialen Status dient. Es geht dann nicht um die Sache, sondern darum, wie man von anderen wahrgenommen wird (11, 263). Eng verbunden mit diesem Begriff ist eine Theorie des moralischen Kapitals als Ergänzung zu ökonomischen Kapital, Humankapital usw.: Es sei mittlerweile in nahezu allen gesellschaftlichen Feldern (Wirtschaft, Kultur, privaten Beziehungen usw.) vorteilhaft, als moralisch wahrgenommen zu werden. Was vorteilhaft ist, wird jedoch gerne und oft vorgetäuscht oder gefälscht. Es kommt zu Kaskaden, in denen Menschen immer neue moralische Defizite entdecken und vorgeblich bekämpfen, um als moralischer und damit hochrangiger als andere dazustehen. Dem Moralspektakel gegenüber stellt Hübl eine Verteidigung der wirklichen! echten! philosophischen! Moral, der es darum geht, echte statt bloß vermeintliche Defizite evidenzbasiert statt emotionalisiert zu lösen statt nur zu benennen.
Das wäre alles irgendwie akzeptabel und vielleicht sogar lesenswert, wäre Hübl nicht an vielen Stellen falsch abgebogen.
- Methodisch zieht das Buch eine Mischung aus evolutionären und sozial-pychologischen Erklärungen heran. Kriterien dafür, was wann angemessen ist, werden jedoch nicht entwickelt. Alle Ansätze haben jedoch so ihre Schwierigkeiten: Evolutionäre Erklärungen laufen Gefahr, auf "just so stories" zurückzugreifen und zu übersehen, dass die Evolution des Menschen nicht in der Steinzeit abrupt endete. Sozialpsychologische Erklärungen leiden an der Replikationskrise und Problemen mit ökologischer Validität. Dennoch schreibt Hübl mit einer selbstgerechten Haltung, er (und nur er) habe stets die Wissenschaft auf seiner Seite.
- Ob Hübls Theorie etwas taugt, würde sich zeigen, wenn die Beispieldiät nicht so einseitig wäre. Die drölfzigste Kritik von Moralismus, Wokeismus und social justice warriors beweist gar nichts. Ich hätte auch eine Diskussion erwartet über die Selbstgerechtigkeit der recycelnden (aber nicht klimaklebenden), tierlieben (aber nicht veganen), ehrenamtlich engagierten (aber nicht revolutionären) Mittelschicht, über die noch größere Selbstgerechtigkeit der philanthropen Oberschicht, über Leistungsgesellschaft, Bauern- und Autokultur (Bauern und Autofahrer gerieren sich als Malocher, die hohe Mühen bzw. Kosten auf sich nehmen, um unseren Tisch zu decken bzw. zur Arbeit zu fahren, so dass jede Kritik an ihnen in eine Kritik am arbeitenden Rückgrat der Gesellschaft umgedeutet wird) usw., nicht primär eine Diskussion des Genderns usw.
- Hübl kann sich nicht entscheiden, ob er z.B. Gendern als eine ungeeigneten Lösungsansatz für ein reales Problem oder als „Lösung" eines nicht-existenten Problems kritisieren will. Wenn er denkt, dass es das Problem schon nicht gebe, würde es genügen, darüber aufzuklären. Es braucht dann keine Kritik am Moralspektakel, sondern eine Kritik an unseren Erfindungsreichtum, was „Probleme", „Sorgen" und „Nöte" angeht. Wenn er das Moralspektakel kritisieren will, braucht es keine Exkurse zum Stand der Emanzipierung.
- Wenn Hübl sich schon mit social justice warriors beschäftigen muss, sollte er auch versuchen, ihr Anliegen zu verstehen. Dass es hier ausschließlich um Selbstdarstellung gehe, ist doch arg simplifzierend. Selbst wenn Hübl der Meinung ist, dass es nicht die Spur eines realen Problems gebe, könnte er z.B. anerkennen, dass manche Menschen sich schlicht ein anderes Zusammenleben wünschen, in dem sie verschiedene Identitäten ausleben oder auch wechseln können. Sie halten das dann schlicht für einen attraktiven Lebensentwurf aus Freude am Sichausprobieren oder aus freundlichem Entgegenkommen gegenüber offen anders lebenden Menschen. Nicht hinter jeder Vorstellungsrunde mit Pronomenabfrage steckt moralischer Aktivismus oder moralische Selbstdarstellung. Eine Vorstellungsrunde mit Pronomenabfrage ist manchmal einfach nur eine Vorstellungsrunde mit Pronomenabfrage. Hübls Unterstellung, „Menschen mit Pronomen" dächten, sie würden damit wundersamerweise gravierende moralische Probleme lösen können, ist geradezu unverschämt.
- Man sollte Hübl mehr Ambiguitätstoleranz ans Herz legen. Gesellschaftliche Wirklichkeit ist nun einmal verwirrend. Wer weder ständig gefragt werden möchte, woher er denn (ursprünglich) komme, noch möchte, dass wir Herkunft vollständig ignorieren, widerspricht sich nicht selbst, wie Hübl suggeriert (243 f.). Das zeigt nur, dass es für die soziale Frage, wie wir mit Multikulturalität und Multiethnizität umgehen wollen, keine einfache Lösungen gibt.
- Hübls Gegner ist in seiner Beschreibung groß und klein zugleich: Er ist so groß und mächtig, dass er eine ganze Reihe an Menschen aufgrund kleinster, teilweise imaginierter Verfehlungen in den ökonomischen Ruin treiben und DFG und Nature mit unwissenschaftlichen Theorien unterwandern könne. Er ist so klein, weil er nur aus einer kleinen, aber lauten Minderheit von social media Schreiberlingen und ein paar Studierenden an ein paar Elite-Universitäten besteht, die keinen Millimeter moralischen Fortschritt erreicht hätten. Das hat mit dem alten akademischen Grundsatz „Kritik nur wem Kritik gebührt!" nichts mehr am Hut.
Ganz schwierige Kiste. Teilweise sehr scharfsinnig und präzise analysiert und mit amüsant-cleveren Polemiken bestückt, dabei aber weit vom ätzenden und unnachgiebigen Tonfall vieler Werke mit ähnlichen Positionen entfernt. Die Ausführungen zum moralischen Kapital und den Moralkulturen fand ich wahnsinnig interessant und viele Kritikpunkte sehr treffend, auch wennich mich immer wieder auch selbst entlarvt gefühlt habe. Bemerkenswert erschien mir auch der Ansatz, auch nichtlinke Positionen zu betrachten, auch wenn er gerne hätte vertieft werden können. Aufgestoßen ist mir jedoch die Darstellung von Transidentität und Geschlechtspluralismus als abwegige Absurdität und Teilursache für den Erfolg der politischen Rechten. Wer Universalismus jenseits von Identität predigt, sollte vielleicht nicht unbedingt Margianalisierte unter den sprichwörtlichen Bus werfen.
9/10 würde ich dem Buch geben. So im dritten Viertel des Buches wird es teilweise ein bisschen redundant, aber das Ende ist dann nochmal stark und rundet das Buch wirklich zu etwas lesenswertem ab.