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Kartonwand

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Als Fatih Çevikkollus Mutter starb, war das für ihn ein Wendepunkt. Sie litt an einer Psychose und war im Alter nicht mehr gesellschaftsfähig. Und er fragte sich: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen und ihrem Schicksal als sogenannte Gastarbeiterin in den Sechzigerjahren in Deutschland?

Alle Arbeitsmigrant:innen kennen sie, denn sie steht symbolisch für den Traum vom baldigen Glück in der Heimat: eine ganze Wand aus Kartons, in denen alles verstaut wurde, was schön und wertvoll war – für das spätere Leben in der Türkei. Willkommen war man in Deutschland nicht, doch was hält man nicht alles aus, wenn es nur von kurzer Dauer ist? Es lohnte sich weder, die deutsche Sprache zu lernen, noch sich ein Zuhause zu schaffen, schließlich sollte es bald zurückgehen. Die Kinder wurden als Kofferkinder hin- und hergeschickt. Was macht es mit Menschen, wenn sie irgendwann merken: Der Traum zurückzukehren hat sich nicht erfüllt?

Fatih Çevikkollu beschreibt sein Leben und das seiner türkischen Familie, die Träume und Enttäuschungen seiner Eltern, und er spricht mit Expert:innen über die Folgen der Arbeitsmigration, die bis heute in den Familien Wunden hinterlassen hat. Ein Thema, das bisher nur in Fachkreisen behandelt wurde und dringend in den Mittelpunkt der Debatten gehört.

207 pages, Paperback

Published August 17, 2023

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Displaying 1 - 20 of 20 reviews
Profile Image for Menus.
16 reviews1 follower
January 23, 2024
Als Enkelin von Gastarbeitern, in der dritten Generation hier in Deutschland, hat mir das Buch geholfen meine Großeltern aber auch meine Mutter besser zu verstehen. Das Buch hat mir das bestätigt, was ich schon länger vermutet habe: in meiner Familie gibt es eine große Wunde („Bir de gurbet yarası var hepsinden derin”). Die Migration und die damit einhergehenden Erfahrungen haben die Lebensgeschichte meiner Familie so stark verändert, dass ich, und vielleicht auch Generationen nach mir, die Auswirkungen spüren werde. Trauma ist vererbbar, da bin ich mir sicher.
Profile Image for Damla.
92 reviews9 followers
January 25, 2024
Schon auf der ersten Seite von Fatih Çevikkollus „Kartonwand“ treffen mich seine Worte mit ungeahnter Ehrlichkeit. Ich fühle mich sofort verstanden, denn Çevikkollu erzählt hier nicht nur seine eigene Lebensgeschichte, sondern auch die vieler anderer Familien, die nach Deutschland migriert sind.

Çevikkollu, der sich in seiner Jugendzeit immer mehr vom Elternhaus abgrenzen will und sich selbst als „Deutscher“ wahrnimmt, versteht mit dem Tod seiner Mutter schlagartig, dass das Türkische zu ihm genau so dazu gehört. Mit einem hohen Maß an Selbstreflexion beschreibt er den Schmerz der ersten und zweiten Generation der sogenannten Gastarbeiter sehr treffend. Er reflektiert intensiv die Beziehung zu seinen Eltern und versucht rückblickend die Familientraumen aufzuarbeiten. Er erläutert das Leben der „Kofferkinder“ - Kinder, die von den arbeitenden Eltern in die Türkei geschickt wurden, um kurze Zeit und manchmal sogar mehrere Jahre bei den Großeltern oder anderen Familienmitgliedern zu leben, da man ja „bald“ wieder zurück wollte. Mitbetrachtet werden auch die Auswirkungen von fehlenden Integrationsangeboten und die Nichtakzeptanz in der Gesellschaft auf die damaligen Migrant:innen.

Mit dem Fortschreiten des Krankheitsbildes der Mutter, erlebt Fatih Çevikkollu wie es ist, wenn sich plötzlich das Kind um einen Elternteil kümmern muss und beschreibt dieses Unvermögen, das Gefühl, dass einem „die Hände gebunden sind“, absolut authentisch.

Bei der vorbereiteten „Rede“ und den Fragen an seinen Vater hatte ich Tränen in den Augen, denn ich verstehe Çevikkollus Bedürfnis nach Verständnis, aber auch das Schweigen dieser ersten Generation. Man wünscht sich an vielen Stellen, dass sich alle an einen Tisch setzen und über ihre Sorgen, Ängste und Wünsche sprechen - das ist aber in einer solchen Form aus verschiedensten Gründen nicht (mehr) möglich.

Ich habe mir so viele Zeilen in diesem Buch markiert, dass ich mich an dieser Stelle schwer für mein liebstes Zitat entscheiden kann. Am liebsten würde ich Çevikkollu aber noch fragen: Wie hat der eigene Vater auf das Buch reagiert? Und welche Ratschläge würde er nach seinen Erlebnissen und Schreiben dieses Buches nun Menschen geben, die Ähnliches erlebt haben/erleben?

„Kartonwand“ ist für mich ein Highlight und Fatih Çevikkollu hat mich mit seiner feinfühligen und authentischen Art tief gerührt. Vielen Dank für das Sichtbarmachen der komplexen Problematiken, die unsere Eltern oder Großeltern durchgestanden haben und zum Großteil versuchen zu verdrängen. Eine große Empfehlung, für Migranten der 2. und 3. Generation und für alle, denen ein verständnisvolles Miteinander in der Gesellschaft wichtig ist.
Profile Image for Wandaviolett.
467 reviews68 followers
August 16, 2023
Kurzmeinung: Wir haben Nachholbedarf an Literatur über türkische Emigration.
Später ist zu spät.

Als seine Mutter stirbt begreift Fatih Çevikkollu zwei Dinge, erstens, dass er seiner Familie entfremdet ist und zweitens, dass seine Mutter trotz aller Probleme und Missverständnisse und trotz der Distanz zwischen ihnen beiden, eben die Mutter gewesen ist. Das Sterben der Eltern ist für jeden Menschen ein besonderer Einschnitt ins Leben. Die Mutter ist zentral.
Längst ist Fatih Çevikkollu erwachsen und hat selber Kinder. Trotzdem ist der Zeitpunkt gekommen, sich noch einmal mit seiner Identität auseinanderzusetzen. Was ist er, wo kommt er her, wohin gehört er?

Fatih Çevikkollu hat seinen Platz in der Gesellschaft längst gefunden. Er macht inzwischen Theater und Schauspiel. Man kennt ihn. Der Weg dorthin war nicht eindeutig, er hat längere Zeit gebraucht, um herauszufinden, was er im Leben machen möchte. Hängt diese Vagheit und Unentschlossenheit, was er im Leben tun will, mit seiner Herkunft zusammen, mit der Migration der Eltern, hängt die psychische Erkrankung seiner Mutter vielleicht auch mit der Emigration aus der Türkei und im fortgeschrittenen Alter krank zurück, damit zusammen? Legitime Fragen, die freilich unbeantwortbar sind.

Der Kommentar:
Die Sache mit der Kartonwand, könnte lustig sein, wenn sie nicht andererseits so tragisch wäre. Was ich bereits im “Unser Deutschlandmärchen” belustigt gelesen habe, war wohl Usus. Die türkischen Mitbürger wollten zurück und sie horteten alles, was schön war und was sie mit ihrem schmalen Gehalt einkaufen konnten, in einer Kartonwand, für später.
Das Leben für Später war eine Illusion. Das erkennt Fatih Çevikkollu. Er macht seinen Eltern keine Vorwürfe, dennoch haben er und seine Geschwister Narben davongetragen, weil sie nicht wussten, wo sie hingehörten und hin- und hergeschickt wurden. Stichwort Kofferkinder. Auch die Eltern haben diese Narben, Entfremdung von den Kindern, ein Leben lang gespürt. Und jeden Luxus haben sie sich versagt. Stattdessen Ansprüche aus der Heimat. Unterstützung war nirgendwo in Sicht.

Es ist wichtig, dass Gastarbeiterschicksale allmählich literarisch verarbeitet werden und stärker ins Bewusstsein rücken! Und es ist höchste Zeit, die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland zuzulassen. Es könnte manche Probleme lösen, praktische und emotionale.
Eines sollte man jedoch nicht vergessen, in den 50er und 60er Jahren ging es auch nicht allen Deutschen gut. (Selbst heute nicht). Und wenn man die Schuldfrage schon stellen muss, obwohl das müßig ist, dann muss man sie doppelt stellen.
Das Ankunftsland hat diskriminiert, ohne Frage, und diese Diskriminierung muss ohne Wenn und Aber beim Namen genannt werden, aber wenn es um fehlende Hilfestellungen geht, glänzt auch das Herkunftsland nicht.

Fazit: Dessen ungeachtet, mag ich dieses Buch. Ich mag seine Ehrlichkeit und Unverblümtheit. Es zeigt Zerrissenheit bis in die dritte Generation. Das ist Migrantenschicksalen eigen. Tiefe Wunden brauchen viel Zeit zum Heilen. Und es braucht eine Plattform, die Erzählungen von diesen Wunden adäquat unters Volk bringen. Sie gehören unbedingt zu unserer gemeinsamen Geschichte.

Kategorie: Migrationsliteratur + Gesellschaftskritik
Verlag: Kiwi, 2023
Profile Image for G.
328 reviews
February 4, 2024
Kartonwand hätte das notwendige, aufschlussreiche Aufarbeiten eines spezifischen türkisch/deutschen Schicksals sein können, die Geschichte einer Familie, die sich durch den einerseits gewählten, andererseits im Effekt unvorhersehbaren Lebensentwurf selbst zersplittert... und damit im Rahmen der Migrationsgeschichte womöglich eher die Regel darstellt als die Ausnahme. Die sich an der Realität zerschleißenden Träume von Rückkehr und Reichtum der Elterngeneration, symbolisiert durch die allgegenwärtige "Kartonwand", und die innere Zerrissenheit der hier Geborenen oder zumindest in Deutschland Sozialisierten wären das perfekte Sprungbrett gewesen für einen tiefen Einblick in diese Welt, in der die eine Generation nie wirklich ankommen kann und die andere es nicht darf -- um die Eltern nicht zu "verraten", aber auch, weil dieses Land, in dem sie aufgewachsen sind, sie nicht lässt.
Konflikt auf allen Seiten, und in der Familiengeschichte des Herrn Çevikkollu kommen dazu noch Eheprobleme, ein charismatischer, aber sein Innenleben hermetisch abriegelnder Vater und eine Mutter, die ihre hochprogressive Karriere als Lehrerin aufgibt, um ihrem Mann nach Deutschland zu folgen (und dort einschlägige "Gastarbeiterinnenjobs" anzunehmen), und mit den Jahren tiefer und tiefer in undiagnostizierter psychischer Krankheit untergeht. Am Ende liegt diese ehemals stolze, gebildete, selbständige Frau tot in ihrer Wohnung, allein, und es dauert Tage, bis es überhaupt jemand bemerkt: Tragischer wird es eigentlich nicht.
Leider beschränkt Herr Çevikkollu sich in seinem Buch nicht auf die Geschichte seiner (in Sachen zwischenmenschlicher Dynamik hochinteressanten) Familie. Mir ist nicht ganz klar, wieso, er hätte wie gesagt so viel über die Erfahrung als "Gastarbeiter" im Deutschland der 60er und die Auswirkungen auf die Folgegeneration sagen können, ohne dafür weiter ausholen zu müssen. Stattdessen verfolgt er nicht nur (s)eine rein subjektive Idee, ob die psychischen Probleme seiner Mutter nicht eventuell auf ihre Zeit als Migrantin zurückzuführen seien (was bereits reine Spekulation darstellt), er versucht sich auch noch an der These, dass es sich hier womöglich um ein kollektives Problem der migrantischen Bevölkerung der 50er und 60er handeln könne.
Das ist u.U. eine interessante Frage, nur fehlt dem Autor in diesem Punkt natürlich jegliche Objektivität (die es bräuchte, um so einen großen Bogen schlagen zu können), und seine Versuche in Sachen wissenschaftlicher/psychosozialer Untermauerung beschränken sich auf das Gespräch mit einem (!) Psychotherapeuten, aus dem im Buch gern und üppig zitiert wird, ohne das Gesagte in irgendeiner Weise nochmal von anderer Seite gegenprüfen zu lassen. Da steht also einfach nur Meinung. Dann noch ein bisschen Geschichte der Migration in Deutschland dazugegeben, und aus dem persönlichen Schicksal einer Familie wird ein buntes BRD-historisches Allerlei, in dem viel verbraten wird, aber wenig vorkommt.

Ich finde das sehr schade. Ich hätte mir gewünscht, Herr Çevikkollu hätte die (wirklich hochinteressanten) Charaktere seiner Eltern in den Mittelpunkt gestellt, ohne explizit auf Allgemeingültigkeit zu schielen -- dass tatsächlich die Jahre in Deutschland schuld sein sollen an der Erkrankung seiner Mutter, ist schließlich nicht nachzuweisen, wie ihm auch der Psychotherapeut nahelegt. Eine starke, moderne Frau, die ihre privilegierte Stellung in der Türkei aufgibt, um einem Mann in die Fremde zu folgen, mit dem ihre Eltern absolut nicht einverstanden sind; ein Mann, dessen Methode, mit negativen Gefühlen und schlechten Erinnerungen umzugehen, darin besteht, beides in einem inneren Tresor wegzuschließen, und der für seine eigenen Kinder weitgehend ein Unbekannter bleibt; ein Sohn, der sein Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, in eine Karriere als Kabarettist umgewandelt hat, aber für sich selbst so lebenslang wie ratlos auf der Suche nach seinem Platz im Leben bleibt, symbolisiert etwa durch seinen Zwiespalt bei der Wahl der Partnerin oder seiner Rolle als Vater einer deutsch/türkischen Tochter -- das hätte SO viel Stoff hergegeben, soviel Tiefe. Sehr viel mehr, als seinen Weg in dieses 200 Seiten dünne Buch gefunden hat, das offenbar selbst nicht ganz weiß, was es sein möchte.
Ich würde mir wünschen, dass der Autor irgendwann noch einmal auf das Thema seiner Familiengeschichte zurückkommt, nur diesmal ohne unnötigen Überbau. Das hätte dann wirklich das Zeug zu einem großen Wurf.

Mein Dank an Netgalley und den Verlag für die Überlassung eines Lese-Exemplars im Gegenzug für eine ehrliche Rezension.
Profile Image for Dunja Brala.
593 reviews41 followers
August 24, 2023
Dieses Buch hat mich tief getroffen und berührt, und zwar genau da, wo meine eigene Biografie anfängt. Denn auch ich bin ein Kind der ersten „Gastarbeiter“ Generation, zumindest zur Hälfte.

Fatih Cevikkollu erzählt die Geschichte seiner Familie und seines Aufwachsens in Köln. Besonders seine Mutter beschäftigt ihn sehr. Sie kam, hoch ausgebildet, als „Ehefrau“ nach Deutschland, lebte relativ isoliert und immer mit dem Gefühl, bald in die Türkei zurückzukehren. Wunderschöne Dinge benutzt sie nicht im Alltag, sie sammelte sie für die Heimkehr, für das richtige zu Hause in der Türkei, das war so üblich. In Kartons verstaut, entstanden so Wände mit Kostbarkeiten, die nie zum Einsatz kamen. Denn wie bei so vielen Migrant*innen wurden aus den zwei Jahren mehr und am Ende fast ein ganzes Leben.
Cevikkollus Mutter hat die Unsicherheit, die Einsamkeit und das Fremde nicht gut verkraftet. Mit zunehmendem Alter wurde sie „komisch“, bekam Psychosen und starb schließlich einsam in der Türkei.
Der Sohn macht sich nun auf, das Leben seiner Eltern zu ergründen und sein eigenes aufwachsen zwischen zwei Kulturen zu reflektieren. Und das ist ihm sehr gut gelungen.

Er erzählt uns alles, was er weiß, von beenden Verhältnissen und wenig Anerkennung, obwohl man doch in diesem Deutschland geboren ist. Aber er berichtet uns auch von dem Schweigen seines Vaters, der in der Vergangenheit nicht stochern will.

Es wird Zeit, die Biografien dieser ersten Migrant*innen Generation zum Thema zu machen und die psychischen Probleme, die daraus resultieren, nicht im Verborgenen zu halten. Viel zu wenig ist das präsent, aber es ist trotzdem da, dass kann ich bestätigen

Ich habe sehr oft nicken müssen, Situationen eins zu eins wiedererkannt und mitgefühlt. Auch wenn meine Familie keine Verbindung zur Türkei hat, so ist das Land, aus dem meine Vorfahren stammen, zwar anerkannter in Deutschland, das Schicksal meiner Eltern ist aber so anders nicht.
Jetzt sterben die ersten „Gastarbeiter*innen“, die nie Gäste waren, sondern Mitbürger. Die hier gearbeitet haben, dieses Land mit groß gemacht haben, Steuern gezahlt und die Rente der Generation davor finanziert haben. Es wäre sehr wichtig, sie in den Mittelpunkt zu rücken. Fatih Cevikkollu hat damit angefangen. Und das ist sehr lesenswert.
Profile Image for Isa ◡̈ .
232 reviews40 followers
August 18, 2023
In seinem erzählenden Sachbuch »Kartonwand: Das Trauma der Arbeitsmigrant/innen am Beispiel meiner Familie« schreibt der Kabarettist, Schauspieler und Autor Fatih Çevikkollu über seine Familie und den (möglichen) Einfluss von Arbeitsmigration auf die Psyche.

Zu Beginn des Buches werden Grundlagen der Arbeitsmigration erläutert und mit weiteren Quellen belegt bzw. Literaturverweise gegeben. So wird bspw. dargestellt, warum es ein Abkommen zwischen der Türkei und Deutschland gab, wie sich die ablehnende, offen diskriminierende Haltung gegenüber den Arbeitsmigrant*innen in Deutschland zeigte und mit welchen Mitteln Deutschland - z. B. § Rückkehrförderungsgesetz (1983) - diese Arbeitsmigrant*innen loswerden wollte.

Geprägt von diesen Lebensumständen schildert der Autor die Geschichte seiner Familie, an deren Beispiel die Zerrissenheit zwischen dem Leben in der Türkei und dem Arbeiten in Deutschland deutlich wird. Die »Kartonwand« beschreibt dies eindrücklich:

»Es gibt die Türkei als Lebensziel, und alles wird dorthin ausgerichtet. Das ist der Klassiker. […] Alle hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, […] , in denen die Sachen, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrt wurden. Alles Schöne und Wertvolle wurde aufgespart. Oder eben Dinge, die in Deutschland gut und günstig sind. Das Hässliche wird in Deutschland benutzt, das Schöne geht mit ins Paradies.« (S.29)

Für viele türkische Arbeitsmigrant*innen war Deutschland ein Provisorium und die Rückkehr in die Türkei das Ziel. Dies zeigt sich bspw. in einer Kartonwand, aber auch darin, dass z. B. Kinder (vorerst) in der Türkei bei Verwandten gelassen worden sind. Oder in Deutschland geborene Kinder, die in die Türkei zur Schule geschickt worden sind, damit sie schon einmal dort seien, wenn die Eltern zurückkommen würden. ‚Kofferkinder‘ nennt Fatih Çevikkollu diese Kinder, die nicht selten zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt worden sind. Das macht natürlich auch viel mit den Kindern, wie sich am Beispiel des Autor zeigen lässt:

»Ich bin Deutscher, aber ich habe immer das Konzept der Türkei im Kopf. Wie ein Betriebssystem, das nicht genutzt wird, ein Upload, der nicht gestartet wird, aber immer präsent ist wie ein Avatar.« (S.29)

Parallel zu den politischen, gesellschaftlichen und strukturellen Themen um Arbeitsmigration, die Çevikkollu darstellt, schreibt er über seine Familie als Beispiel dessen. Es wird schnell deutlich, wie verheerend diese Kombination aus Rassismus, günstige Arbeitskraft und Deutschland als Provisorium sein kann. Zumindest im Falle seiner Mutter hat dies zu psychischen Problemen geführt. Ganz unabhängig davon, dass auch die Familie und das gemeinsame Zusammensein und Glück darunter leiden.

»Migration löst keine psychischen Krankheiten aus, stellt aber in jedem Fall eine seelische Belastung dar. Sie kann unter Umständen dazu beitragen, dass krankheitsauslösende Faktoren begünstigt werden. Meine Eltern lebten nicht in Deutschland, sie arbeiteten hier. Ihre dreißig Jahre in Deutschland waren ein Provisorium, und keiner machte sich klar: Die baldige Rückkehr sollte sich zur Lebenslüge entwickeln.« (S.31)

Ich finde den Satz »Meine Eltern lebten nicht in Deutschland, sie arbeiteten hier.« (S.31) sehr vielsagend. 💔

Das Buch thematisiert Arbeitsmigration aus verschiedenen Perspektiven, die ich als sehr bereichernd und wichtig empfinde. Dies wird durch das persönliche Beispiel der Familie Çevikkollu verstärkt. Sicherlich gibt es noch einige weitere Aspekte, die hier nicht berücksichtigt worden sind, aber der Subtitel gibt sehr gut vor, was in diesem Buch erwartet werden kann. Einziger Kritikpunkt ist, dass sich Inhalte zum Teil sehr stark wiederholen, was vielleicht daran liegen könnte, das Kapitel einzeln verfasst bzw. überarbeitet worden sind.

Insgesamt ein sehr wichtiges, aktuelles und eindrückliches erzählendes Sachbuch, das ich sehr empfehle. 🧿💙
5 reviews
October 20, 2024
So ein guter wichtiger Einblick in das Leben von Familien, die im Rahmen von Gastarbeiterverträgen nach Deutschland kamen! Das besondere Thema dieses Buches, der Zusammenhang psychischer Erkrankungen mit Migrationsgeschichte und -Traumata, bedarf sicher noch viel mehr Forschung! Es ist sehr beachtlich, wie Fatih Çevikkollu es schafft, seine eigene Geschichte so differenziert und empathisch zu betrachten. Wenn wir "Bio-Deutschen" es nicht schaffen, diese Empathie und dieses Interesse an unseren Mitmenschen aufzubringen, dann wird es uns auf lange Sicht allen schlecht gehen.
37 reviews
November 1, 2023
Dieses Buch war wichtig für mich. Es hat einen Karton (hah) geöffnet, der seit ich denken kann existiert, in den ich hier und da mal hereingeschaut habe, aber den ich konsequent abgelehnt habe. Inhalt dieses Kartons ist die Geschichte meiner Großeltern und meiner Eltern, und, in Erweiterung, auch meiner Geschichte.

Fatih Çevıkkollu beschreibt sehr zugänglich sein eigenes Öffnen dieses Kartons nach dem Tod seiner Mutter. Er arbeitet seine eigene Geschichte auf und weist in diesem Zuge auf viele Missstände hin, die die Generation "Gastarbeiter" in Deutschland erfahren musste. Für mich 4 von 5 Sternen.
34 reviews15 followers
October 31, 2023
Manches in Fatih Çevikkollus “Kartonwand” erinnert an Dschinns von Fatma Aydemir, 2022 für den Buchpreis nominiert: Auch hier beginnt die Geschichte mit dem Tod eines Elternteils einer türkischen Gastarbeiter-Familie.

Als der Autor vom Ableben seiner entfremdeten Mutter in der Türkei erfährt, löst dies bei ihm zunächst eine Schockstarre aus. Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass die Mutter psychisch krank war: Çevikkollu bezeichnet sie anfangs des Buches als ‘wunderlich’, eine Frau, die Selbstgespräche führte; später wird klar, dass sie im Laufe ihres Lebens immer stärkere psychotische Züge entwickelte. Den Autor lässt die Frage nicht los, wie es dazu kommen konnte. Eine wesentliche Hypothese des Buches ist, dass die Migrationsgeschichte der Familie einen wesentlichen Anteil an der seelischen Krankheit hat – jener seiner Mutter, aber auch der vieler Arbeitsmigranten. Fortan macht er sich an eine Aufarbeitung der Familiengeschichte, auch an seine eigene.

Herausgekommen ist eine Mischung aus Biografie (seine eigene und die seiner Eltern) und Sachbuch über die Arbeitsmigration in Deutschland. Beide sind verwoben in einer losen Abfolge von 32 sehr kurzen Kapiteln, eher Vignetten – ohne dass dabei ein größerer Bogen oder eine übergeordnete Struktur erkennbar wäre.

Den größten Teil nehmen dabei Erinnerungen des Autors an seine eigene Jugend in Köln und seine spätere Flucht aus der Enge der heimischen Familie ein – vor dem eher abwesenden, in sich gekehrten Vater, der seine Frustration durch willkürliche Brutalität und seelische Grausamkeit gegen den jungen Fatih entlud. Vor der kontrollierenden, strengen Mutter, die sich immer mehr in religiösen Fanatismus flüchtete. Und nicht zuletzt vor der beengten, lieblos-chaotischen Wohnung mit ihrer titelgebenden ‘Wand’ aus Umzugskartons, gefüllt mit angehäuften Reichtümern für die immer wieder verschobene Rückkehr ins gelobte Heimatland Türkei. Es ist eben jene Kartonwand, die für Cevikkollu das irdische Jammertal des deutschen Arbeits-Exils symbolisiert: ein Leben als ständiges Provisorium, die Zukunft als Gatsby’sches ‘grünes Licht’, das mit jedem Jahr weiter in die Ferne rückt.

Auch wenn diese Erinnerungs-Fragmente einen nicht uninteressanten Einblick in die Welt einer Gastarbeiter-Familie geben, enthält das Buch alles in allem nur wenig wirklich Erhellendes. Das liegt zum einen daran, dass die Versuche des Autors, die Familiengeschichte zu ergründen, mehr oder weniger im Sande verlaufen. Da die Mutter tot ist, und der Vater sich verschlossen gibt und die Verdrängung zur Überlebensformel erklärt hat, bleiben als Quellen nur bruchstückhafte Berichte einiger weniger Verwandter und alter Bekannter der Familie. Was übrig bleibt, sind nicht viel mehr als Spekulationen. Und auch wenn mich als Leser das Familienschicksal nicht völlig unberührt lässt: es trägt als Biografie kaum ein ganzes Buch, noch nicht einmal ein halbes.

Als Sachbuch wiederum ist “Kartonwand” äußerst unbefriedigend. Wer vom Buch tiefere Einblicke in die Geschichte der Arbeitsmigration in Deutschland, eine Bestandsaufnahme der psychischen Gesundheit jener Migranten oder gar eine weitergehende Analyse der Zusammenhänge erwartet, wird enttäuscht – ganz zu schweigen von einem Blick über den Tellerrand nicht-türkischer Migranten oder anderer Einwanderer-Länder. Abgesehen von einem kurzen, hemdsärmeligen Abriss des deutsch-türkischen Anwerbe-Abkommens 1961 und der eher protokoll-haften Wiedergabe eines Gesprächs mit einem Psychotherapeuten liefert Çevikkollu wenig Substanzielles. Das spiegelt sich auch im Literatur-Verzeichnis wider, das nicht einmal einen zweistellige Zahl an Referenzen erreicht.

Über all dies könnte man vielleicht hinwegsehen, wäre das Buch eloquent oder unterhaltsam geschrieben. Fatih Çevikkollu ist Schauspieler und Comedian, und man könnte an Trevor Noah denken, der in “Born a Crime” in einfacher, klarer Sprache voller Wortwitz und Lebendigkeit schrieb. Dagegen kommt dieses Werk in einer holprigen, ungelenken Art daher. Es wimmelt von Fehlern, unnötigen Wiederholungen und überhaupt stilistischen Nachlässigkeiten, die eher an einen unter Zeitdruck hingeschluderten Schulaufsatz erinnern als an ein inspirierendes Sachbuch.

Ähnlich wie das oben zitierte “Dschinns” ist dies ein wütendes Buch – doch anders als bei Aydemir sucht man hier jegliche Momente der Leichtigkeit, Ironie, Humor oder gar Weisheit vergeblich. Man mag das nachvollziehbar finden. Doch dieses wichtige Thema hätte ein gut geschriebenes Sachbuch verdient. Wer darauf nicht warten möchte, kann sich die Zeit bis dahin mit Aydemirs Roman vertreiben.

Profile Image for Alina_liest07.
132 reviews6 followers
August 17, 2023
Das Leben als Provisorium – ein wichtiges Buch!
„Kartonwand“ ist ein schmales, aber beeindruckendes Buch. Ausgehend von dem Schicksal seiner Mutter, die im Alter an einer nicht diagnostizierten Psychose litt, untersucht und hinterfragt Fatih Cevikollus die Zusammenhänge der Krankheit und die Geschichte der Arbeitsmigration seiner Eltern.

Der Autor hat mich mit diesem Buch sehr berührt und beeindruckt. Irgendwo zwischen persönlicher Erzählung und Sachbuch nimmt er uns mit in die Geschichte seiner Familie. Private Erzählungen und Schicksale werden gepaart mit Fakten und Informationen zur den sogenannten Gastarbeiter:innen, die in den Sechzigerjahren nach Deutschland kamen. Neben den generellen Herausforderungen der Migration werden die teils offen rassistische politische und gesellschaftliche Stimmung, die teils menschenunwürdigen Unterbringungen und vor allem die Sehnsucht nach Heimkehr für viele Arbeitsmigrant:innen ehrlich und berührend beschrieben.

Viele Probleme und Herausforderungen wie fehlende Integrationsangebote, der Verlust von Sprache und Status sowie die komplett fehlende Wertschätzung für die Lebensleistung dieser Menschen, sind hierzutage immer noch viel zu wenig Teil der Debatte und verdienen unbedingt mehr Aufmerksamkeit! Die ein oder andere Doppelung, die sich eingeschlichen hat, haben mich nicht gestört und haben dem Lesefluss und der Begeisterung keinen Abbruch getan.

Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen, dieses schmale aber wichtige und nachhallende Buch von Fatih Cevikkollus lesen werden – dringende Leseempfehlung!
Profile Image for Jin.
840 reviews147 followers
August 17, 2023
Ich kannte Fatih Cevikkollu nicht vor der Lektüre und kannte mich auch sehr wenig mit der Geschichte der türkischen Gastarbeiter in Deutschland aus. Mein Vater war kein Gastarbeiter, sondern ein Expatriate, und wir kamen aus Südkorea und nicht aus der Türkei, trotzdem gab es verblüffend viele Parallelen zwischen dem Autor und mir, was mich sehr überrascht hat.
Ich fühlte mich getröstet und abgeholt. Fragen, die sich in meinem Kopf noch nicht klar formuliert hatten, wurden beantwortet. Das Buch las sich gut, auch wenn hier uns da nach meinem Gefühl ein paar Wiederholungen drin waren. Mir ist bewusst, dass dies keine wissenschaftliche Arbeit ist, trotzdem gibt der Autor eine sehr gute, solide Einleitung und inkludiert Referenzen aus den spärlichen Ressourcen, die es zu diesem Thema gibt. Es ist absolut überraschend, dass es zu diesem Thema bis jetzt vergleichsweise so wenig Material gibt, aber wenn man länger darüber nachdenkt, ist es vielleicht auch keine so große Überraschung. Der Autor bekommt großen Applaus für den Mut aus seiner persönlichen Geschichte zu erzählen und über seine Grenzen zu sehen. Ich finde, wir brauchen noch mehr von solchen Büchern, damit der Diskurs öfter angeregt wird.

** Dieses Buch wurde mir über NetGalley als E-Book zur Verfügung gestellt **
66 reviews
September 3, 2023
(Kategorie Sachbuch / Memoir)

Sehr berührend. Zwar eher ein Lebensbericht, dennoch sehr stark in seiner Wirkung und gut zu lesen. Das Thema Kofferkinder ist sehr gut beschrieben. So traurig. Mir gefällt auch die Suche nach Gründen für die Krankheit der Mutter durch Befragungen von Psychotherapeuten und anderen Familienmitglieder. Gerade durch das Fachwissen wird die Geschichte zu einer universellen. Große Anerkennung für die Ehrlichkeit des Autors, sein Inneres so nach Außen zu kehren. Konklusion: Migration führt nicht zu psychischer Krankheit ist aber ein enormer Stressfaktor.

Notiz: Ich frage mich, wie diese Erkenntnisse anderen helfen könnten. Es müsste mehr Angebote zu Empowerment geben.
Profile Image for Margarethe.
572 reviews
October 5, 2023
Das Buch hat mich beeindruckt. Ich komme aus der gleichen Zeit ohne Migrationshintergrund. Was hat die deutsche Gesellschaft da gemacht?
Ich sehe die Mamas meiner Spielkameraden nun mit anderen Augen auch wenn mich immer wieder der Unmut packt, das die Frauen nach 40 Jahren Deutschland immer noch nicht angekommen sind und der Unwille hineininterpretiert wird.
Was die Migration mit den Frauen gemacht hat, versucht Cevikkollu am Beispiel seiner Mutter zu ergründen, die daran zerbrochen ist.
An der Kartonwand zerbrochen, das zerreisst das Herz.
6 reviews
February 21, 2025
Das Buch erzählt eine mitreißende Geschichte und untersucht dabei eine Frage, die mir bis jetzt noch nicht in den Sinn gekommen war.
Der Einblick in die Perspektive von „Gastarbeitenden“ in erster Generation ist für mich sehr bereichernd. Zudem gefällt es mir, dass die ganze Geschichte drum herum kurz dargestellt wird.
100% Lese-Empfehlung von mir :D
Profile Image for Lenny Zar.
3 reviews
September 7, 2023
Emotional geschriebenes Buch, welches als guter Einstieg dienen kann in die Thematik. Wertvolle Querverweise!
4 reviews1 follower
March 15, 2025
Unfassbar krass. Ich habe gruselig viele Übereinstimmungen mit seiner Lebenserfahrung.
Profile Image for Doros Lesesofa.
354 reviews2 followers
January 21, 2024
Es hat mich nicht kalt gelassen. Mit Kindern wie Fatih bin ich zur Schule gegangen.
Displaying 1 - 20 of 20 reviews

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