Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich dieses Buch (richtig) verstanden habe, als ich diese Rezension begann, hätte ich auch da bereits unheimlich viel darüber schreiben können. Mittlerweile habe ich die Autorin zu einzelnen Aspekten befragt und stelle fest, dass ich das meiste davon tatsächlich ähnlich eingeordnet hatte.
Der Prolog spielt im März 2020 und wir alle erinnern uns zu gut, was das für eine Zeit war. Erst im Laufe der weiteren Lektüre habe ich ihn einordnen können: Die Corona-Zeit mit den Einschränkungen des öffentlichen Lebens, waren eine krasse Beschneidung der individuellen Freiheit (nicht, dass diese nicht gerechtfertigt waren) und katapultiert die Hauptprotagonistin ungewollt zurück in eine Phase ihres Lebens, in der sie ebenfalls unfrei war.
Die zentralen Themen, die hier behandelt werden, sind für mich ganz klar Freiheit und Selbstbestimmung im Allgemeinen sowie für Frauen in stark patriarchal geprägten Strukturen/Kulturen im Besonderen oder eben das Gegenteil davon: Unterdrückung, Abhängigkeit, Identitätsverlust und wie die eine Seite ins Gegenteil verkehrt werden kann.
Mein Eindruck, dass dieses Buch autobiographisch geprägt ist, bestätigte mir die Autorin und so wirkt es auf mich wie ein Befreiungsschlag, den ich ihr von Herzen gönne. So, wie allen Frauen, die so etwas durchleben mussten, meine Solidarität gehört und denen, die sich gar selbst daraus befreien konnten, mein größter Respekt.
Die Lektüre zeigt, dass und wie sogar modernste, unabhängigste Frauen mit guten Karriere-Aussichten schnell in eine Abwärtsspirale aus seelischer Gefangenheit geraten können, aus der auszubrechen mit jedem Tag schwieriger wird. Es geht um das Dilemma als Mutter, an einen Punkt zu kommen, an dem frau sich zwischen sich selbst (Selbstliebe wäre noch zu hoch gegriffen, eher Selbsterhaltung) und ihrem Kind und dessen Schutz entscheiden muss. Es geht auch um die Fragen, wie die Umgebung einen Menschen formt und verändert und wie essentiell und existentiell Kunst(schaffen) sein kann.
Mit all dem und noch viel mehr wird sich auf gerade mal 230 Seiten in besonderer Schreibart auseinandergesetzt. Gegliedert ist der Roman in 3 Teile, welche vielleicht die 3 Dimensionen der Würde widerspiegeln, die zum Ende hin angesprochen werden. Allgemein sind inhaltliche und sprachliche Ebene eng miteinander verknüpft. So wechselt auch die Erzählperspektive von der ersten Person Singular in die dritte und wieder zurück – passend dazu, wie sich unsere Hauptprotagonistin von sich selbst entfremdet und wiederfindet. (In meinen Notizen nannte ich es eine Art Coming-of-Age-Roman für erwachsene Frauen.) Unterstützt wird dies auch durch immer wieder eingestreute kursive Passagen, die sehr metaphorisch, ja, philosophisch daherkommen. Dadurch hat es etwas Lyrisches an sich, was mir natürlich gut gefiel, zugleich aber auch durchaus verwirrend und komplex ist.
Zusammenfassend eignet sich dieses Werk perfekt für eine Leserunde – tatsächlich hätte ich mich über einen Austausch während des Lesens sehr gefreut, bin aber umso dankbarer für den Austausch mit der Autorin direkt – Herzlichen Dank dafür noch einmal wie auch für dieses Rezensionsexemplar, es war ein sehr außergewöhnliches Lese-Erlebnis!
Eine Empfehlung an alle, die an feministischen und vielschichtigen Texten interessiert sind!
„frag-ment-iert (182,5)“ von Ev Arlt ist ein gleichzeitig faszinierender und bedrückender Roman, der die Themen Freiheit, Selbstbestimmung, Unterdrückung und Identitätsverlust behandelt.
Im Zentrum des Romans steht Liv, eine intelligente und unabhängige Frau Mitte Zwanzig, die das Recht eines jeden, seinen eigenen Lebensplan zu finden und auszuleben – und dies mit einer geradezu rücksichtslosen Zielstrebigkeit - rigoros verfolgt. Individuelle Freiheit steht für sie an erster Stelle, was bedeutet, dass Beziehungen sehr oberflächlich bleiben und schnell beendet werden, wenn sie nicht mehr in Livs Lebenskonzept passen. Die einzigen wirklichen Ankerpunkte in Livs Leben sind ein paar Freunde und ihre Arbeit als Radiomoderatorin. Trotz aller Freiheit und beruflicher Erfolge fühlt Liv ab und zu eine gewisse Leere, Verlorenheit und Ziellosigkeit in sich hochsteigen, was sie dazu veranlasst, beruflich noch mehr Gas zu geben, um diese Leere mit Aktivität zu vertreiben. Also ja nicht innehalten und über diese unwillkommenen Gefühle nachdenken! Für mich hatte es den Anschein, als ob Liv auf Autopilot durchs Leben hetzen, vor sich selbst fliehen und gedankenlos durch den Alltag driften würde. Wirkliche Tiefe und Sinn können so gar nicht erst entstehen.
Livs Leben nimmt schließlich eine unerwartete Wendung, als sie im Italienurlaub einen Mann kennenlernt, der in einer stark männlich geprägten Gesellschaft aufgewachsen ist und diese Liv nun aufzwingt. Liv verliert zunehmend ihre Identität, da sie gezwungen ist, sich einem System zu unterwerfen, das nicht ihres ist. Die psychischen Folgen sind verheerend und beklemmend.
Ich persönlich fand die Schilderung einer Frau, die von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung plötzlich in ein Leben in totaler Abhängigkeit schlittert, sehr fesselnd und bedrückend. Die Autorin hat es ausgezeichnet verstanden, diesen Prozess psychologisch schlüssig zu beschreiben. Man sitzt quasi im Kopf von Liv, denkt ihre Gedanken, fühlt ihre Emotionen und spürt die Ausweglosigkeit, in der sie sich befindet. Liv sehnt sich nach ihrem selbstbestimmten Leben, das sie geführt hat, doch vergisst sie meiner Meinung nach, dass auch dieses Leben nicht perfekt war, war sie doch ständig auf der Flucht vor dieser „Leere“. Unterbrochen wird Livs Erzählung von in kursiv geschriebenen Passagen, in denen eine dunkel gekleidete Frau, offenbar Liv selbst, auftaucht und kryptische Nachrichten verbreitet. Für mich stellt dieses traumhaft wirkende Geschehen Livs Unterbewusstsein dar, das metaphorisch zu verstehen gibt, in welchem Dilemma Liv sich befindet.
Das Buch hat mich jedenfalls von Anfang bis Ende überzeugt, gefesselt, betroffen gemacht. Sprachlich ist der Roman auf hohem Niveau, man merkt auch, dass die Autorin sich in den Bereichen „Psychologie“ und „Soziologie“ bestens auskennt, was dem Roman zusätzlich Authentizität verleiht.
Die Frage, die die Autorin in ihrem Buch aufwirft, ist jene, ob wir überhaupt jemals frei von sozialer Konditionierung sind, ob der Begriff „Freiheit“ nicht nur eine Illusion ist.
Von mir gibt es daher – nicht nur für Frauen! - eine ganz klare Leseempfehlung!!!