What do you think?
Rate this book


212 pages, Kindle Edition
Published November 14, 2024
All das hätte anders sein können, Mascha Kalékos im besten Sinn volkstümliche Gedichte wären ihrer Natur nach nicht bestimmt gewesen für die Randständigkeit: Sie sind so gut zu merken, so leicht auswendig zu lernen, so musikalisch und singbar, so witzig und kraftvoll, dass sie unter anderen Umständen ohne Zweifel noch zu Lebzeiten so populär geworden wäre wie Heinrich Heine, wie Joachim Ringelnatz oder Erich Kästner. Dass es nicht so kam und dass es nach den leuchtenden Jahren in ihren Werken vor allem um Emigration, Heimatlosigkeit, Trauer und Verlust ging, war natürlich eine Folge der katastrophalen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Horst Krüger beschreibt es gültig in seinem Nachruf: "Natürlich gehört ein solches Leben: wie es aufbrach, kurze Zeit blühte, sich ducken mußte und dann über Jahrzehnte eigentümlich verrann in lauter freundlichen Verlegenheiten, zu den Spätfolgen des deutschen Faschismus. Es ist ein jüdisches Schicksal zu beklagen was denn sonst?"
Umso erfreulicher, dass die Geschichte der Literatur manchmal jene Gerechtigkeit herstellt, zu der die Literaturgeschichten nicht imstande sind. Mascha Kaléko wird heute gelesen und vorgetragen, sie wird vertont, bewundert und auswendig gelernt. "Auch meine Lieder, sie waren einst / Im Munde des Volkes lebendig", heißt es in einem ihrer schönsten Gedichte. Die Vergangenheitsform ist hier aber nicht mehr berechtigt. Ihre Lieder sind wieder am Leben, ein Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie. Und nur der Respekt vor ihrer Abneigung gegen Pathos hindert einen daran, zu sagen, dass einige davon unsterblich geworden sind. Solange man in deutscher Sprache überhaupt noch Gedichte liest, werden jene von Mascha Kaléko dabei sein. - Vorwort von Daniel Kehlmann
Wenn man nachts nicht schlafen kann
Wenn man nachts nicht schlafen kann,
Hört man von den schiefergrauen
Dächern junge Katzen miauen,
Und das hört sich schaurig an.
Brave Menschen – heißt es – beten,
Dann schickt ihnen Gott den Schlaf.
– Doch man selbst ist niemals brav
Schlaflos starrt man auf Tapeten,
Zählt die Muster Stück für Stück.
Plötzlich hört man draußen Schritte,
Und vom Ausgang kehrt Brigitte
Wieder mal zu spät zurück.
Von der Straße tönt Gesang:
Durch die mondbeglänzte Stille
Wankt ein Mann aus der Destille,
Glücklich, weil er sich betrank.
Leise bellt ein Hund im Traum,
Und im Hausflur blüht die Liebe.
Still zur Arbeit ziehen Diebe,
Ihre Schlüssel hört man kaum …
Endlos lang dehnt sich die Nacht.
Eine Uhr schlägt Stund’ um Stunde.
Wächter machen ihre Runde,
Und man zählt bis tausendacht …
Gähnend schleicht der Tag sich ein.
Autos rasseln schon und Wagen.
Fröstelnd, nachtdurchwacht, zerschlagen,
Dämmert man am Morgen ein.
Einsamer Abend
Die Stille sickert leis durch Türritzen.
Durch meine Stube kriecht die Einsamkeit
Und bleibt dann stumm auf kahlen Bänken sitzen.
Der Abend lässt sich heute sehr viel Zeit.
Tief schweigt der Raum. Nur müßige Dielen knarren.
Die Ecken sind mit Schatten angefüllt.
Ich bin allein mit meinem Spiegelbild,
Man soll im Dunkeln nicht in Spiegel starren …
Da draußen hält der Regen Monolog
Und spielt mit dem Applaus der Fensterscheiben.
Man blättert gelangweilt im Katalog.
Wie kann man in der Großstadt trotzdem einsam bleiben?!
Geburtstag
Wenn ich so gegen fünf nach Hause fahre,
Gibt´s Erdbeereis, Besuch und Radio-Tanz.
Spät abends erst mach ich für mich Bilanz
Und wünsch mich wieder in vergangne Jahre.
Ich möchte wieder in der Tertia sitzen
und schwänzen, wenn die Günther Englisch gibt.
Ich möchte manchmal in die Haustür ritzen:
„In Werner Birken bin ich toll verliebt!!!“
Ich möcht so gern noch mal Theater spielen
und heulen, wenn Luise Miller stirbt.
Des Nachts vorm Spiegel wie die Carmen schielen
– Obgleich das den Charakter sehr verdirbt.
Möcht wieder mal auf Äppelkähnen krauchen,
Verschämt die Affen im Zoolog´schen sehn
Und hustend erste Zigaretten rauchen,
In einen Film für „über achtzehn“ gehn.
Ich möcht noch mal – zum allerersten Mal
Ganz still für mich den Pan von Hamsun lesen,
An Menschen glauben, die das Ideal
Der halbverträumten Jugendzeit gewesen.
Nun bin ich groß. Mir blüht kein Märchenbuch.
Ich muss schon oft „Sie“ zu mir selber sagen.
Nur manchmal noch in jenen stillen Tagen
Kommt meine Kindheit heimlich zu Besuch …
Sehnsucht nach einer kleinen Stadt
Jetzt müsste man in einer Kleinstadt sein
Mit einem alten Marktplatz in der Mitte,
Wo selbst das Echo nächtlich leiser Schritte
Weithin streut jeder hohle Pflasterstein,
Wo vor dem Rathaus rostge Brunnen stehen
In einem toten, längst vergessnen Stil,
Wo selbst aus Erz die Statuen mit Gefühl
Des Abends Liebespaare wandeln sehen,
Wo alte Höfe unentdeckt noch träumen,
Als wären sie von einer andern Welt,
Nur ab und zu ein Dackel leise bellt,
Und blonde Kinder spielen unter Bäumen.
Da blühn Geranien, Tulpen und Narzissen
Vor Fenstern winzig wie im Puppenhaus.
Zum ziegelroten Giebeldach heraus
Hängt buntkariert ein bäurisch Federkissen.
Hier haben alle Menschen immer Zeit,
Als machte das Jahrhundert eine Pause.
Hier sitzt man noch auf Bänken vor dem Hause.
Und etwas abseits gibts noch Einsamkeit.
Nichts stört die klare Stille in der Nacht.
Wie unbegreiflich nah sind hier die Sterne.
Gespenstergleich verlischt die Gaslaterne,
Wenn familiär der Mond herunterlacht.
Da scheint uns – fern von allem – vieles glatt,
Was man zuvor mit anderm Maß gemessen.
Man könnte wohl so mancherlei vergessen
In einer solchen braven kleinen Stadt.
Auf einer Bank im Central Park
In jenem Land, das ich einst Heimat nannte,
Wird es jetzt Frühling wie in jedem Jahr.
Die Tage weiß ich noch, so licht und klar,
Weiß noch den Duft, den all das Blühen sandte,
Doch von den Menschen, die ich einst dort kannte,
Ist auch nicht einer mehr so, wie er war.
Auch ich war fremd und muß oft Danke sagen.
Weil ich der Kinder Spiel hier nicht gespielt,
Der Sprache tiefste Heimat nie gefühlt
In Worten, wie die Träumenden sie wagen.
Doch Dank der Welle, die mich hergetragen,
Und Dank dem Wind, der mich an Land gespült.
Sagst du auch stars, sind’s doch die gleichen Sterne
Und moon, der Mond, den du als Kind gekannt.
Und Gott hält seinen Himmel ausgespannt,
Als folgte er uns nach in fernster Ferne,
(Des Nachts im Traum nur droht die Mordkaserne)
Und du ruhst aus vom lieben Heimatland.
Zeitgemäße Ansprache
Wie kommt es nur, daß wir noch lachen,
Daß uns noch freuen Brot und Wein,
Daß wir die Nächte nicht durchwachen,
Verfolgt von tausend Hilfeschrein.
Habt ihr die Zeitung nicht gelesen,
Saht ihr des Grauens Abbild nicht?
Wer kann, als wäre nichts gewesen,
in Frieden nachgehn seiner Pflicht?
Klopft nicht der Schrecken an das Fenster,
rast nicht der Wahnsinn durch die Welt?
Siehst du nicht stündlich die Gespenster
Vom blutigroten Trümmerfeld –
Des Tags, im wohldurchheizten Raume:
Ein frierend Kind aus Hungerland,
Des Nachts im atemlosen Traume:
ein Antlitz, das du einst gekannt.
Wie kommt es nur, daß du am Morgen
Dies alles abtust wie ein Kleid
Und wieder trägst die kleinen Sorgen
Die kleinen Freuden, tagbereit.
Die Klugen lächeln leicht ironisch:
Ca c'est la vie. Des Lebens Sinn.
Denn ihre Sorge heißt, lakonisch:
Wo gehn wir heute abend hin?
Und nur der Toren Herz wird weise:
Sieh, auch der große Mensch ist klein.
Ihr lauten Lärmer, leise, leise.
Und laßt uns sehr bescheiden sein.
Kaddisch
Rot schreit der Mohn auf Polens grünen Feldern,
In Polens schwarzen Wäldern lauert Tod.
Verwest die gelben Garben.
Die sie gesät, sie starben.
Die bleichen Mütter darben.
Die Kinder weinen: Brot.
Vom Nest verscheucht, die kleinen Vögel schweigen.
Die Bäume klagen mit erhobnen Zweigen,
Und wenn sie flüsternd sich zur Weichsel neigen,
In bärtger Juden betender Gebärde,
Dann bebt die weite, blutgetränkte Erde,
Und Steine weinen.
Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen
Den stummen Betern unterm fahlen Rasen,
Den Hunderttausend, die kein Grabstein nennt,
Und die nur Gott allein bei Namen kennt.
Sass er doch wahrlich strenge zu Gericht,
Sie alle aus dem Lebensbuch zu streichen.
Herr, mög der Bäume Beten dich erreichen.
Wir zünden heute unser letztes Licht.
Einem kleinen Emigranten (Für Steven)
Du, den ich liebte, lang bevor er war,
den Unvernunft und Liebe nur gebar,
der blassen Stunden Licht und Himmelslohn,
mein kleiner Sohn.
Du Kind, mein Herz gehörte dir schon ganz,
als du ein Nichts noch warst, ein ferner Glanz
aus deines Vaters dunklem Augenpaar,
in jenem Jahr.
Du hattest grade deinen ersten Zahn,
da setzten sie aufs Dach den roten Hahn.
Der Schwarze Mann, die Bittre Medizin,
sie hieß: Berlin.
Du lerntest wieder aufstehn, wenn man fällt.
Dein Kinderwagen rollte um die Welt.
Du sagtest Danke, Thank you und Merci,
du Sprachgenie.
Zeit, Ort und Bühne waren schlecht gewählt.
Jedoch die Handlung scheint mir nicht verfehlt.
Schon strebst du zu den Sternen, kleiner Baum
aus meinem Traum.
Du, den ich liebte, lang bevor er war,
du ferner Glanz aus einem Augenpaar,
ich leg dies Buch in deine kleine Hand,
du Emigrant.
An mein Kind
Dir will ich meines Liebsten Augen geben
Und seiner Seele flammenreiches Glühn.
Ein Träumer wirst du sein und dennoch kühn
Verschloßne Türen aus den Angeln heben.
Wirst ausziehn, das gelobte Glück zu schmieden.
Dein Weg sei frei. Denn aller Weisheit Schluß
Bleibt doch zuletzt, dass man hienieden
All' seine Fehler selbst begehen muss.
Ich kann vor keinem Abgrund dich bewahren,
Hoch in die Wolken hängte Gott den Kranz.
Nur eines nimm´ von dem, was ich erfahren:
Wer du auch seist, nur eines - sei es ganz!
Du bist, vergiß es nicht, von jenem Baume
Der ewig zweigte und nie Wurzeln schlug.
Der Freiheit Fackel leuchtet uns im Traume -
Bewahr' den Tropfen Öl im alten Krug!
Allerseelen
Ob wohl die Toten im Grabe nichts spüren?
Ob sie nicht dürsten, ob sie nicht frieren…
Ahnen sie nichts mehr von Freude und Trauer,
Sind sie so leblos wie Mörtel und Mauer,
Die ja so meint man, wie Wolke und Wind
– Weiss man es wirklich? – empfindungslos sind.
Sehnen sich Tote nie mehr nach dem Einst?
Wissen sie gar nicht, dass du um sie weinst,
Laut um sie klagst in den sternhellen Nächten,
Mit ihnen bist in den finsteren Schächten,
Wo sie nun liegen mit Erde und Wurm.
In meinen Träumen läutet es Sturm,
Schlägts an mein Fenster, rasselt's an Türen.
– Ob wohl die Toten im Grabe nichts spüren?
Sonne
Ich tat die Augen auf und sah das Helle,
Mein Leid verklang wie ein gehauchtes Wort. –
Ein Meer von Licht drang flutend in die Zelle,
Das trug wie eine Welle mich hinfort.
Und Licht ergoss sich über jede Stelle,
Durchwachte Sorgen gingen leis zur Ruh. –
Ich tat die Augen auf und sah das Helle,
Nun schliess ich sie so bald nicht wieder zu.