Die letzten Jahre waren geprägt von einer Aufbruchstimmung und dem Selbstbewusstsein vieler Minderheiten, gesellschaftlichen Wandel vor allem durch laute Töne und harte Forderungen voranbringen zu können. Die einen sahen darin die große Chance, die Machtverhältnisse umzukehren, die anderen eine große Gefahr, eine Art »woke Wutpropaganda«, die das Bestehende zersetzen will.
Seit über zehn Jahren engagiert sich Jagoda Marinić für den Aufbau einer diverseren Gesellschaft. In Heidelberg hat sie das Interkulturelle Zentrum Heidelberg mit aufgebaut und das International Welcome Center mit konzipiert. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen macht sie nun Vorschläge, wie wir aus dieser Radikalität herauskommen. Wie geht Wandel vor Ort? Was bietet unsere Zeit an Möglichkeiten jenseits von Positionierungen auf Instagramkacheln, wie wir Menschen wieder zu handelenden Subjekten werden, statt uns in den Empörungsspiralen der sozialen Medien zu verlieren?
Ausgehend von Begriffen wie »Sehen«, »Identität«, »Streit«, mit denen wir über Gesellschaft sprechen und Prozesse beschreiben, erzählt sie, wie es möglich wurde, ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen und Menschen für ihren Traum zu begeistern – mit sanfter Radikalität.
Stilistisch und argumentativ geht’s bisschen drunter und drüber, deswegen 2 Sterne Abzug, aber inhaltlich meiner Meinung nach genau das, was wir gerade brauchen.
Das Buch ist ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf Demokratie. Während Rechte ungehindert durch politische Institutionen und Parteienlandschaft spazieren, verlieren wir uns in Details und Internet Debatten. Klassische Politik ist irgendwie unsexy geworden.
Die Autorin ermutigt zu Lösungslust und einem gewissen Pragmatismus anstelle von spitzen Tweets und Ausgrenzung. Eine schöne Erinnerung daran, dass es bei Demokratie eigentlich darum geht, Leute von der eigenen Sache zu überzeugen. Das geht am besten mit sanfter Radikalität, so die Autorin.
Ich freue mich schon, das neue Buch von Kristina Lunz zu lesen, Empathie und Widerstand, das in eine ähnliche Richtung geht. Ich bewundere die Frauen, die sich trauen, ihr Gesicht in den Wind zu halten, um tatsächlich ins Machen zu kommen. Als Dank ernten sie dann oft Anfeindung und Kritik, sogar von denen, die eigentlich die gleichen Ziele haben. Wenn man aber Politik oder zum Beispiel Gesetze ändern will, dann muss man auch mit Leuten reden, die man scheiße findet. Kein Bock mehr auf bedingungs- und kompromisslose Haltungen, die kann man sich leider nur im Internet leisten. Dieses Buch macht es anders.
Der Abschied vom IZ Heidelberg, das sie aufgebaut und 10 Jahre geleitet hatte, war für Jagoda Marinić Anlass zum kritischen Rückblick. Sie nutzt ihn zur Darstellung ihres Ansatzes, sich in der interkulturellen Arbeit weniger mit Defiziten und Hindernissen zu befassen, sondern mit vorhandenen Ressourcen, dem, „was geht“. Nicht Defizite in der Integration von Zuwanderern zu benennen und Mittel zu beantragen waren folgerichtig ihre Ziele, sondern ihr Projekt in bestehende Strukturen einzufügen, die Gemeinschaft zu verändern und Zuwanderung/Flucht/Asyl gleichberechtigt als bundesdeutsche Realität zu vermitteln. Ihre Arbeit auf diversen Ebenen war von dem Vorwurf geprägt, nicht betroffen, nicht marginalisiert und nicht wütend genug zu sein, um sich als gebildete Tochter von Einwanderern überhaupt zu Themen wie Rassismus und Diskriminierung äußern zu dürfen.
Hochinteressant fand ich, dass Marinic als prägende Vorbilder u.a. Toni Morrison und Jane Goodall nennt und zitiert. Das schmale Buch brachte mir u. a. die Antwort auf Fragen, warum akademisch gebildete, deutsche Anti-Rassismus-Aktivisten zunächst ihren speziellen, englischen Wortschatz vermitteln müssen, ehe man überhaupt gemeinsam ins Thema einsteigen kann, und warum sie – bisher offenbar unwidersprochen – von anderen Kulturen erwarten, sich als PoC (people of color) zu bezeichnen, um auf Augenhöhe diskutieren zu dürfen. Eingewanderte Begriffe wie Whataboutism oder Wokeism stammen offenbar aus der Tradition der US-Bürgerrechtsbewegung.
Hilfreich war für mich Marinićs Definition, dass Heidelberg als Stadt von Einwanderern am stärksten der kanadischen Stadt Toronto ähnelt; daraus folgt, dass am kanadischen Vorbild auch wir überlieferte Strukturen neu denken lernen können.
Es geht im Buch u. a. um Bindestrich-Identitäten, Othering (Probleme haben stets die Anderen), Identität als Summe von Rollen, Identitätspolitik, Literatur von Migrant:innen, Ambiguitäts-Intoleranz und den Umgang mit Angehörigen der Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland. Gerade weil die Autorin anschaulich zeigt, dass Standpunkte intellektueller Eliten der ersten Generation von Einwanderern (M: die Menschen meiner Kindheit) kaum vermittelbar sind, finde ich ihr schmales, gehaltvolles Buch und ihre persönliche Literaturliste u. a. dann hilfreich, wenn man sich für bürgerschaftliches Engagement und ehrenamtliche Tätigkeit interessiert.
Zu diesem Buch entwickelte ich eine komplizierte Beziehung. Eigentlich ging ich davon aus, zu erfahren, wie ich mehr meine eigene sanfte Radikalität anzapfen kann, um diese bewusst anzuwenden. Dazu gibt es in diesem Buch aber nichts.
Es geht zum einen mehr um Marinićs eigene sanfte Radikalität und die Projekte, die sie damit zustande gebracht hat, und zum anderen beschäftigt sich die Autorin mehr mit den internen Problemen von "linkseingestellten" Menschen.
So kam es, dass mir dieses Werk zum einen sehr, sehr viel zum Nachdenken gegeben hat, zum anderen bin ich aber auch etwas enttäuscht, weil sich die Autorin kritisch über die internen Streitereien äussert, aber mit ihrem Schreiben auch ihren Teil dazu beträgt.
Ich bin beeindruckt von den Sichtweisen, die mir Marinić hier vor Augen geführt hat. Vor allem, da ich den Rassmis gegen Menschen aus dem ehemaligen Yugoslawien direkt mitbekommen habe. Auch dass weisse alte Männer nicht unbedingt weisse alte Männer sein müssen, sondern auch aktiv etwas zur Diskussion beitragen können.
Manchmal kam der Text aber auch zu sehr aus der Richtung einer Abrechnung, zu viel von verletztem Stolz kam zum Ausdruck, sodass ich mich als lesende Person wie in einem schlechten Frustgespräch vorkam.
Und wie schon erwähnt, hätte ich gerne mehr darüber erfahren, wie sanfte Radikalität ins eigene Leben eingewoben werden kann. Das muss ich wohl selber herausfinden.
Für mich das ideale Buch um mit diesem Jahr abzuschließen und einen hoffnungsvollen Neustart für’s nächste zu imaginieren. Zu lange schon komme ich mit dem radikalen “Kachel-Aktivismus”, der über die sozialen Medien zunehmend auch in den gelebten Alltag Einzug gehalten hat, nicht mehr klar. Die Autorin sprach mir mit ihrem Werk aus der Seele und auch wenn sie keine universelle Lösung parat hat, so regt sie zum Nachdenken an. Was meines Erachtens nach sowieso der beste Rat ist, denn nichts hinterfrage ich mehr als “universelle Lösungen”. Der Wunsch nach einem sanfteren Umgang miteinander, der stark bei mir vorhanden ist, braucht individuelle Zugänge zu Problemstellungen und ein Wahrnehmen der vielen Zwischentöne nebst Schwarz und Weiß, die das Leben und uns Menschen ausmachen.
Hier ein paar Stellen, die ich mir notiert habe, weil sie mir so gut gefielen.
S. 31 “Die Kritik an der Radikalität junger Protestbewegungen müsste letztlich eine Selbstkritik der älteren Generationen werden: An welcher Stelle hat man die eigene demographische Überlegenheit mißbraucht, um diesen geburtenschwächeren Jahrgängen zu suggerieren, dass ihre erneuernde Kraft chancenlos sein wird?”
S. 33 “…ich bemerkte erstmals, wie vieles hier fehlte, wie unmöglich es ist, über Unrecht zu sprechen, für das man keine Begriffe hat und für das es keine gemeinsame Öffentlichkeit gibt.”
S. 46 “Ich beobachte auf zwei Ebenen, weshalb es nicht gelingen kann, nur auf die eigene Identität und die eigenen Marginalisierungen zu pochen, wenn ich etwas gemeinsam aufbauen will. (…) Manchmal war es schmerzhaft zu sehen, wie Menschen, (…), sch in wenigen Jahren radikalisiert hatten, sowohl was ihre Methoden und Ansprüche betraf als auch ihre Selbstwahrnehmung: Je mehr sie für Minderheitenrechte kämpften, umso mehr bestätigten sie sich in ihrer Minderheitenidentität und machten aus dem fluiden Ich, das jeder Mensch ist und das in viele soziale Rollen täglich zu schlüpfen hat, ein sich verhärtendes Ich, das vor allem nur eine Erzählung von sich hat.”
S. 83 “Die popkulturelle Inszenierung von Protest kommt einher mit der Simulation dessen, was man in den sozialen Medien als Kachel-Coaching mitbekommen hat.”
S. 112 “... überhaupt ist der Mangel an Vertrauen ins Gelingen eines der großen Probleme.”
Auf Englisch würde man sagen, dieses Buch ist all over the place. Eine bessere Struktur hätte ihm gutgetan. Außerdem weiß das Buch nicht, was es sein will: reines Sachbuch, Memoir, Ratgeber? Mehr Beispiele zur sanften Radikalität, außerhalb ihrer eigenen Erfahrungen, wären nice gewesen. Jetzt bin ich vermutlich sowieso nicht die Zielgruppe, aber das durchgängig keine geschlechtergerechte Sprache benutzt wurde, macht mich sauer. Wenn die Autorin "er" und "seine" benutzt, fühle ich mich wirklich nicht angesprochen. Mit null aktivistischer Veranlagung habe ich mich letztendlich doch entschlossen, einfach weiter wütend zu bleiben.
Habe irgendwie schwer in das Buch hineingefunden. Zu Beginn war für mich nicht klar, worauf die Autorin hinauswill. Erst etwa ab der Hälfte konnte ich dem Geschriebenen mehr abgewinnen und einen klareren Zugang zu ihren Gedanken finden.
Jagoda Marinić schreibt aus ihrer Perspektive über das (Zusammen-)Leben in einer Einwanderungsgesellschaft – ihr Gelingen, ihre Hindernisse und die Frage, wie man das Miteinander mit einer Art sanfter Radikalität gestalten kann.
Das Thema ist zweifellos relevant und wichtig.
Beim Lesen fühlte es sich aber für mich immer wieder so an, als wäre ich in einer unnötig verhärtenden Auseinandersetzung innerhalb der linken Diskursblase. Ich empfinde es als sehr mühsam und ermüdend sowie wenig zielführend, wenn (sich) Menschen mit derselben politischen Grundhaltung gegenseitig ihre Erfahrungen und Positionen entwerten/absprechen. Das dieser interne Kampf belastend sein kann, ist mehr als nachvollziehbar, dennoch stellt sich mir die Frage, wie viel Mehrwert es bringt, diese Konfliktlinien in Buchform auszubreiten.
Ich kann nicht allen Positionen von Jagoda Marinić zustimmen. Manche Gedanken fand ich interessant, andere haben mich weniger erreicht. Am Ende weiß ich nicht recht, wie viel ich persönlich aus dem Buch mitnehme.
dreiste aussagen über die bewegung, ein paar halbwegs spannende erfahrungsberichte über identitätsdebatten im deutschen rassismusdiskurs, aber für meinen geschmack viel zu viel selbstlob und viel zu wenig originelle gedanken. und ich finds schon spannend ein sachbuch (?) zu lesen das zu einem großen teil aus anekdoten besteht und basically die ganze zeit wilde thesen aufstellt?? an einer stelle sagt sie, dass fff kein vertrauen in den demokratischen prozess hätte (weil nicht in parteien- frage mich ob sie den punkt übersprungen hat dass wir damals minderjährig waren, lol) und deshalb „viele“ „junge“ menschen zur letzten generation gehen würden und lobt deren weirde parteigründung. da das buch für mich durch. keine empfehlung und nicht einmal diskussionsanstoß für irgendwas.
Die Autorin macht eine Menge Debatten auf und nennt valide Thesen. Meiner Meinung nach geht sie aber nicht so ins Detail. Für mich hat sich der Schreibstil etwas „von oben herab“ angefühlt, wahrscheinlich weil unsere Ansichten in vielerlei divergieren. Trotzdem lesenswert, aber nicht wirklich zielführend.
Den Ansatz der sanften Radikalität kannte ich bisher nicht und fand es sehr spannend darüber zu Lesen. Unabhängig davon, ob man dem zustimmt oder nicht, ist das Buch sicher einen Blick wert für jede Person, die etwas verändern möchte, um sich mit diesem Weg vertraut zu machen. Ich fand es auch so als Einsteigerin gut verständlich erklärt und beschrieben. Allerdings fand ich, die Kapitel haben teilweise sehr eigenständig gewirkt, wodurch mir der große rote Faden ein wenig gefehlt hat, in sich waren sie aber schlüssig strukturiert. Das hat das Buch oder den Inhalt aber nicht schlechter gemacht und ich konnte auch einige Anstöße mitnehmen, über die ich noch eine Weile nachdenken werde
Interessante Sichtweisen zu Migrationsgeschichte und Debattenkultur. Ich hätte mir mehr Beispiele gewünscht, um die Ausführungen besser zu verstehen. (Beschrieben wird „nur“ das Projekt in Heidelberg, das schwer nachzuahmen ist.) Insgesamt hatte ich auf eine Art Anleitung zur sanften Radikalität gehofft.
Von der sanften Radikalität bin ich nicht überzeugt, bleibe eher bei: „They 'gave' us our rights, because we gave them riots."
Inspiration und Weitsicht. Ein weises, erfahrenes und wertschätzendes Buch. Eine weltsicht, die die Mitte sein sollte und eine Radikalität die positiven Fortschritt und integrative Werte als Kraft schafft. Eindeutige Lese und Wiederlese Empfehlung.
3.5 da waren viele interesante punkte, aber irgendwie fand ich den schreibstil teilweise echt anstrengend. das hat war sehr stream of consciousness mäßig. wenn es mehr strukturiert wäre, hätte ich es besser gefunden
Einige Ideen fand ich sehr interessant und ich stimme mit vielen Meinungen zu, aber ich habe immer das Gefühl bekommen, dass nur ihre Denkweise richtig sei. Öfters fand ich sie sehr reaktionär und als ob sie nur aus Prinzip anders sein wollte.
3.75 - enthält sehr gute Ansätze, die mich zum Denken angeregt haben und mit der sie den Nagel auf den Kopf trifft. Der komplizierte Schreibstil und die Tatsache, dass die Erkenntnisse zum Teil etwas repetitiv sind, machen es leider nicht zu einem 5 Sterne Leseerlebnis.
Schnell durchzulesen, war froh, dass ich es in der Bücherei leihen konnte. Einige inspirierende Gedanken dazu, weg von unendlichen (destruktiven) Debatten und endlich ins Handeln zu kommen, wenn das auch mühsam und kleinteilig und voller Kompromisse ist
Ein Buch, das für Zwischentöne und das Miteinander wirbt - was viel Mut erfordert, aber eine Wohltat zum Lesen war. Eines meiner persönlichen Lesehighlights 2024!
Wichtiges Plädoyer nicht nur die Dinge anzuklagen, die falsch laufen, sondern sich demokratisch für eine pluralistische und offene Gesellschaft zu engagieren.