Wovon spricht der Grund, auf dem wir gehen? In Fabian Sauls erstem, zutiefst menschlichem Roman geraten Gewissheiten ins Ein Freund stirbt, eine Liebe zerbricht. In einer Welt, in der die Steine von der Vergangenheit sprechen, begegnet der Protagonist den eigenen Gefühlen in der Topografie. Alles weiß von der Vergänglichkeit – und weiß alles über ihn.
In filmischen Szenen von poetischer Kraft stehen hier geteilte Zigaretten wie Bilder neben dem Sonnenlicht an einem Morgen in Nida, stehen die klaren Kanten von Jean Genets Grabstein neben einem Abbruchhaus in der Linienstraße, steht Nina Simones letztes Konzert neben den Liedern aus der Wand. Jede Erinnerung erzählt von der Möglichkeit einer anderen von Spuren des Widerstands gegen die Gewalt der einen, großen Erzählung. So entsteht mit jedem Moment, mit jedem neuen Bild etwas Zartes und Neues, das am Abgrund der Berührung nach einem Ort der Empathie und Solidarität sucht.
»Der Arzt hebt die Decken und bricht dir deine toten Knochen, bis das ganze Zimmer unter feinem weißem Staub verschwindet. Der arme Teufel, sagt er immer wieder und trägt dann eine, deine Nummer in den Totenschein ein. Kurz zögert er und überprüft in einem Glossar, in dem sich die Seiten langsam aus der Klebung lösen, die Todesursache. Du hattest noch eine Zigarette und dein Handy in der Hand. Vielleicht wolltest du jemanden anrufen.«
Das Buch ist ein Suchen und immer neu Ankommen, ein Sprechen in Metaphern und Fragmenten, der Text wirft Wogen auf und glättet sie, spinnt Fäden und verwebt sie in Absätzen von unglaublicher poetischer Kraft. Die Art, über ein so schweres Thema so sanft zu sprechen, erwärmt mein Herz und lässt aber gleichzeitig viele Fragen offen, über die ich noch weiter nachdenken werde. Der Autor erschafft in diesem Buch wunderbar zarte Bilder einer zwischenmenschlichen Verbindung, die den Leser mitnehmen in eine Welt, in der jede Notiz, jeder Stein, jede Melodie, jedes nicht gesagte Wort Bedeutung erfährt. Eine unfassbar schöne Art, auf die Welt und auf einen verlorenen Menschen zu blicken.
Hier einige meiner Lieblingspassagen aus dem Buch:
"Man könnte sagen: In der Fuge berühren sich die Steine, ohne sich zu berühren. Beide Seiten bedingen einander, aber die Stabilität ihrer Verbindung ist abhängig vom Abstand. Das wesentliche Merkmal ihrer Statik und Ästhetik ist ihr Verhältnis, ihre Differenz."
"Man könnte sagen: Das Wort Fuge wird in der Musik lange Zeit für den Kanon verwendet. Die Stimmen fliehen voneinander - fugere - und jagen sich zugleich - fugare."
"Man könnte sagen: Die Tangente ist eine Berührung, die nie wiederkehren wird, eine Bewegung, in der das Erinnern und das Vergessen identisch sind."
„Man könnte sagen: Architektur und Sprache sind die beiden wesentlichen Medien der Fiktion.“
Ein literarisches Kartografieprojekt der Trauer. Die Trauer der Tangente ist weniger Roman als ein poetischer Denkraum über Verlust, Erinnerung und das Umherschweifen der Gedanken. Ich mochte, wie Sprache und Form ineinandergreifen, wie Orte nicht bloß Schauplätze, sondern seelische Koordinaten werden. Vieles bleibt vage, manchmal schwer greifbar – aber vielleicht ist genau diese Verlorenheit unser Thema. Das Layout hat für mich eine weitere Ebene eröffnet: ein Text, den man nicht nur liest, sondern auch betrachtet und erlebt.
Obwohl hier viel schönes und berührendes dabei ist, lässt mich der Text doch etwas ratlos zurück. Aber vielleicht ist diese Ratlosigkeit auch eins seiner Themen.
was ein art house film ist, ist dieses buch als buch- wenn ihr checkt was ich meine! total berührend geht „trauer der tangente“ unter die haut, kratzt am herz und wirft den kopf von der einen auf die andere seite. so viele tolle zitate und starke bilder und ne 10/10 für alle verkopften menschen ❤️🩹
Ich mag alles an diesem Buch, diesem Text: wie er um seine Themen mäandriert, wie er einer Fuge gleich die immerselben Elemente umkreist, wie die Referenzen zu ihrem Ort finden, wie die unfassbare Trauer zu einer Form findet.