Postkoloniale Theorien prägen derzeit den globalen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb. Was als Versuch begann, den spezifischen Erfahrungen in kolonial geprägten Gesellschaften Rechnung zu tragen, ist zur großen Erzählung einer Kritik des »westlichen Verständnisses« von Vernunft und legitimer politischer Ordnung mutiert. Trotz aller Beschwörung von Komplexität wird dabei das Motiv der »Kolonialität« zum Hauptkriterium von Geschichtsbetrachtung, philosophischer Reflexion und Sozialkritik erklärt. Das Bild, das prominente Vertreter dieses Ansatzes von Antisemitismus und Holocaust einerseits, Judentum und Zionismus andererseits zeichnen, weist systematische Verzerrungen auf: Unterschiedliche Formen und Radikalitätsgrade der begrifflichen Einebnung oder Verharmlosung von Antisemitismus, der Relativierung der Shoah sowie der Dämonisierung Israels. Das Buch zeigt, dass solche längst akademisch anerkannten Thematisierungen von Judentum und Antisemitismus nichts zum Verständnis des Judenhasses beitragen und ein Faktor für dessen Erstarken sind.
Das Israel-Feindschaft, Antsem1tismus und die Ablehnung der Hol0caust-Erinnerungskultur oftmals Bausteine der radikalen Rechten sind, dürfte den meisten vermutlich geläufig sein. Das sich solche Phänomene allerdings auch in bestimmten linken Kontexten beobachten lassen, ist wiederum die zentrale These von Ingo Elbes neuem Buch „Antisem1tismus und postkoloniale Theorie“, das im März dieses Jahres bei der Edition Tiamat erschien. Elbe konstatiert einen „progressiven“ Angriff auf Israel, Judentum und Hol0causterinnerung, die sich bei vielen postkolonialen Denkern und Aktivisten wiederfinden lassen. Elbe zeigt auf, wie postkoloniale Konzepte wie das „Othering“ oder der „Orientalismus“ gegen Israel und Juden, aber auch gegen den Westen im Allgemeinen gewendet werden und hierdurch eine antiuniversalistische Schlagseite entfalten.
Elbes inner-linke Kritik an der postkolonialen Theorie weiß durchaus zu überzeugen, denn seine Kritikpunkte werden akribisch mit Quellen belegt und die Schlussfolgerungen, die daraus abgeleitet werden, sind nachvollziehbar. Dadurch ist das Werk insgesamt auch viel weniger polemisch, als ich es zunächst erwartet hatte. Zwei Kritikpunkte würde ich dennoch anführen wollen. Zunächst: „Antisemitismus und Postkolonialismus“ fokussiert die Verbindung zwischen diesen beiden genannten Phänomenen, wodurch das Werk aber auch den Charakter einer Generalabrechnung mit den „postcolonial studies“ erhält. Die Verdienste dieser Theorierichtung hätten meines Erachtens stärker betont werden müssen, um zu einer ausgewogeneren Gesamtbeurteilung dieser Denkschule zu kommen. Andererseits: Das Fazit ist kurz – zu kurz – gehalten. Im Sinne eines besseren Leseverständnisses hätte es dem Buch gutgetan, hier noch einmal alle wesentliche Kritikpunkte zusammenzufassen.
Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ingo Elbe mit „Antisem1tismus und postkoloniale Theorie“ eine wichtige Kritik vorgelegt hat, die den Finger in die Wunde legt und der inhaltlich wenig entgegenzusetzen ist.
"Elbe kann zwar 600 Seiten (über Marx) schreiben, ohne einen originellen Gedanken zu formulieren" (Unbekannt) - er kann aber auch sure as hell 350 Seiten über Antisemitismus schreiben und als originell gedachte Gedanken zerstören...
„Die paternalistische postkoloniale Parteinahme für den wirklichen oder vermeintlichen Underdog ist das kümmerliche Residuum linker Herrschaftskritik - Wer kein Argument hat, hat wenigstens eine Identität und eine Herkunft.“