„Schonungslose Analysen für eine emanzipatorische Subkultur, die diese Bezeichnung tatsächlich verdient“ Ronen Steinke „Dieses Buch ist wie eine kalte Dusche, aber im besten Sinne: erfrischend klar und macht wach.“ Ronya Othmann Niemand will Antisemit sein. Erst recht nicht in Subkulturen und Bewegungen mit einem progressiven, emanzipatorischen Selbstbild. Judenhass geht aber auch underground – ob Rapper gegen Rothschilds, DJs for Palestine oder Punks Against Apartheid. BDS, die Boykottkampagne gegen den jüdischen Staat, will nahezu jedes Anliegen kapern, von Klassenkampf bis Klimagerechtigkeit. Altbekannte Mythen tauchen in alternativer Form wieder auf, bei Pride-Demos, auf der documenta oder beim Gedenken an den Terror von Hanau. Und viele Jüdinnen*Juden fragen sich, wo ihr Platz in solchen Szenen sein soll. Eine Anklage mit anschließender Diskussion. Kritisch, aber konstruktiv. Und vor allem solidarisch. Mit Beiträgen von Timo Büchner, Riv Elinson, Ruben Gerczikow, Max Kirstein, Stefan Lauer, Nikolas Lelle, Konstantin Nowotny, Monty Ott, Annica Peter, Nicholas Potter, Jan Riebe, Merle Stöver, Anastasia Tikhomirova, Tom Uhlig und Lilly Wolter. Und Interviews mit Laura Cazés, Rosa Jellinek, Leon Kahane, Lutz Leichsenring, Luisa Neubauer, Shahrzad Eden Osterer, Massimo Perinelli, Ben Salomo, Yaron Trax und Hengameh Yaghoobifarah.
Ich habe einiges aus diesem Buch mitnehmen können. An vielen Stellen habe ich mir direkt gedacht, dass man diesen Band nach dem 07. Oktober um so viel erweitern könnte. Eine neu-kommentierte Ausgabe oder ein weiterer Sammelband wäre daher spannend und wichtig. Vieles bleibt aber natürlich auch aktuell.
Wer sich schon ein bisschen mit Antisemitismus Forschung oder dem Diskurs darum auskennt, wird hier einiges vielleicht als repetitiv empfinden, aber vor allem in Bezug auf Kultur- und Musiklandschaft und inner-linken Antisemitismus kann dieses Buch noch einmal einiges einordnen. Wichtig fand ich die Auseinandersetzung mit den Spannungen die entstehen, wenn politische Akteur*innen ein falsches Verständnis von Antisemitismus haben, wonach dieser automatisch durch antirassistische/dekoloniale Kämpfe abgeschafft werden kann. Jüdinnen*Juden sollen sich also einfach “mit gemeint” fühlen. Um es noch einmal zu unterstreichen: Antisemitismus und Rassismus haben unterschiedliche Ursprünge und Mechanismen und sind daher weder als Subkategorien voneinander zu verstehen, noch deckt die Bekämpfung des einen eine brauchbare Kritik an dem anderen ab. Diese Annahme macht auch sich als antirassistisch verstehende Personen anfällig für Antisemitismen, denn wie kann man Antisemit sein wenn man Antirassist ist?
Wenn man immer nur beklagt, dass einem ständig Antisemitismus vorgeworfen wird und dieser Vorwurf missbraucht würde um politische Gegner*innen unter Druck zu setzen, oder man sich lautstark für die Meinungsfreiheit, vor allem in Bezug auf Israelkritik einsetzt, kann man sich gerne mal reflektieren: ist einem der Kampf gegen Antisemitismus wirklich ein Anliegen oder ist man eher damit beschäftigt solche Vorwürfe von sich weisen zu wollen? Hat man sich schon einmal ernsthaft mit Antisemitismus Forschung/Theorie auseinandergesetzt?
Zu Denken hat mir auch das Zitat von Danger Dan (S.163) gegeben: „Mittlerweile behaupten alle Antisemit*innen, sie seien keine. Das ist fast schon ein Merkmal dafür. Wenn jemand darauf besteht, dass er kein Antisemit sei, dann ist er meistens ein Antisemit." Hier habe ich mich leider an viele Freund*innen und Bekannte erinnert gefühlt, die denken, dass sie ein Engagement in “emanzipatorischen” Gruppen oder Bewegungen automatisch immun gegen Antisemitismus macht.
Rosa Jellinek stellt im letzten Teil des Buches “Dialog” noch einmal treffend fest: Es ist ein riesiges Problem, dass sich eine junge linke Generation heranbildet, die ihren Wissensstand primär von Instagram-Kacheln beziehen, anstatt sich ernsthaft mit Theorie auseinanderzusetzen. Das bietet den idealen Nährboden für gefährliche Radikalisierungen aufgrund von Falschinformationen und fördert vor allem reaktionäre Ideologie und verkürzte Kapitalismus-Kritiken, die sich super in einem Instagram-Post zusammenfassen lassen.
Abschließend also: Lest gerne dieses Buch! Mich hat es zumindest noch einmal dahingehend sensibilisiert, antisemitische Chiffre und Denkmuster identifizieren und einordnen zu können. Und wenn sich mehr emanzipatorische Bewegungen den Kampf gegen Antisemitismus explizit auf die Fahne schreiben würden, könnte es auch wieder Hoffnung auf eine wehrhafte Linke geben, die Allianzen schmieden kann anstatt sich gegenseitig auszuspielen.
Dass ich aus diesem Buch viel gelernt habe, zeigt schon die Anzahl an Klebezetteln - über 50! Ich war auf den Inhalt wahnsinnig gespannt, weil ich seit dem 7. Oktober - gerade in der linken Community, die sich ja rassismuskritisch und intersektional nennt - wahrnehme, wie sehr Antisemitismus reproduziert wird. Zur Einordnung: das Buch kam kurz vor dem 7. Oktober 2024 heraus.
Es besteht aus drei Teilen: Theorie, Praxis, Dialog. Im ersten Teil wird beispielsweise die BDS Bewegung analysiert oder Antisemitismus und Intersektionalität betrachtet. Der zweite Teil beleuchtet Antisemitismus ganz konkret, z.B. in der Queeren Community, in antirassistischen Gruppen oder in Subkulturen wie der Clubszene. Der letzte Teil besteht nur aus Interviews.
Schon im Intro wird klar: Antisemitismus ist allgegenwärtig. Viele Verschwörungstheorien von "Finanzeliten" bis hin zu "Truth for 9/11" sind strukturell antisemitisch. Dazu gehe ich aber bald in Stories nochmal gesondert ein - auch dazu, wie die Definition von Antisemitismus ist (3D) und welche Arten es gibt (Antijudaismus, struktureller A., israelbezogener A.).
Klar ist aber: Rassismus und Antisemitismus sind nicht das gleiche, noch sind sie Unterformen voneinander! Antisemitismus ist eine der ältesten Formen von Diskriminierung und seine Wurzeln sind ganz andere als die des Rassismus. "Die Juden" werden als übermächtig und einflussreich dargestellt, denen "Einhalt geboten" werden muss. Diese Ideologie hat es als vermeintliche "Herrschaftskritik" deshalb in linken Kreisen so leicht.
Das Buch zeigt aber auch auf, was nicht antisemitisch ist: Kritik an der israelischen Regierung oder am israelischen Vorgehen im Gazastreifen, an der Siedlungspolitik und an der Zwei-Klassen-Gesellschaft, vor allem in der Westbank. Die im Buch auch behandelte Dämonisierung als Apartheidsstaat, z.B. durch BDS ist aber strukturell Antisemitisch.
Es gibt in der linken (vor allem antideutschen) Szene leider auch Menschen, die palästinensisches Leid als "Kollateralschaden" abtun. Das Grundproblem linker Ideologien ist aber ein anderes: es lebt von der Differenzierung zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem, zwischen Täter und Opfer, zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem. Das führte schon in der Vergangenheit dazu, dass sich manche linke Gruppen mit ihren Feinden gemein machten, weil sie scheinbar das gleiche Ziel verfolgten - zum Beispiel waren nachweislich Nazis am Olympia-Attentat 1974 beteiligt und die RAF erhielt eine Ausbildung in Terrorcamps der islamistischen PFLP. Dieser Israelhass geht so weit, dass selbst reichweitenstarke Linke Blogs wie @klassegegenklasse es nicht schaffen, die Verbrechen gegen Zivilist*innen im Iran oder der Ukraine zu benennen.
Diese Unterteilung in Unterdrücker:innen und Unterdrückten führte in linken, feministischen Kontexten nicht selten zu prekären Situationen. Jüdinnen geraten "zwischen die Fronten" und werden auf keiner Seite mitgedacht. Die sonst so intersektionale Linke nimmt die Sichtweise von jüdischen Frauen, die intersektional durch Antisemitismus und Patriarchat unterdrückt werden, also nicht immer wahr.
Auch vor der Klimabewegung macht diese Einteilung in Gut/Böse nicht halt. "Israel wird für manche Klimaaktivist*innen zur Projektionsfläche für die Kolonialgeschichte der eigenen Heimatländer. Da sie sich aufgrund ihres Status als privilegierter Nachwuchs aus reichen Industriestaaten im sog. globalen Norden schuldig fühlen, solidarisieren sie sich reflexartig mit dem Underdog Palästina."
Eine weitere, oft gesehene Bewegung sind die "Queers for Palestine", bei denen der Mechanismus ähnlich abläuft. Hier wird in größtem Maße Täter-Opfer-Umkehr verwendet (Vorwürfe des Homonationalismus und des Pinkwashing) und dabei die Situation von queeren Palästinensern komplett aus den Augen verloren. Oder habt ihr auf solchen Seiten schon mal von Ahmed Abu Mariah gehört?
Weitere lesenswerte Kapitel handeln zum Beispiel von Clubkultur mit #djsforpalestine, von Rappern mit antisemitischen Texten wie Disarstar oder Kollegah/Farid Bang (Stichwort Echo 2018) oder der Documenta 15.
Das Buch schließt mit einigen Interviews ab, z.B. mit Luisa Neubauer oder Ben Salomon - die Interviews sind zwar interessant, aber im Teil "Praxis" hätte ich mir eher einen Ausblick oder Lösungsvorschläge gewünscht. Nichtsdestotrotz gibt es auch in diesem Teil noch ein paar gute Punkte, die in der Debatte zu oft vergessen werden, z.B. dass die israelische Gesellschaft - wie jede demokratische Gesellschaft - pluralistisch ist. Es gibt natürlich auch in Israel Menschen, die Siedlungspolitik, das Vorgehen in Gaza oder die Regierung Netanjahu ablehnen! Wir sollten uns das immer vor Augen halten.
Das Buch nennt Ronya Othmann eine "kalte Dusche im besten Sinne" und ich kann nur zustimmen: ich habe noch nie so viel über Antisemitismus gelernt. Es kostet Zeit, sich in dieses komplexe und manchmal schwer abgrenzbare Thema einzuarbeiten, aber es eröffnet neue Perspektiven! Ich vergebe 5 von 5 Sternen.
4,5 ⭐️ ich hab super viel neues gelernt, das ich bisher nicht gesehen, die dimensionen vorher nicht begriffen hab. das ändert sich nun, zum glück. das buch sensibilisiert sehr krass und die texte und interviews geben einen super vielseitigen einblick. lohnt sich! und mal wieder viel liebe für hengameh an der stelle🧡
Auch wenn die Beiträge vor 07/10 geschrieben wurden, kommen sie leider zur richtigen Zeit, wie die wiederholt antisemitischen Vorfälle in der Kulturszene zeigen. Das Buch enthält viel Bekanntes, wenn man mit Debatten um und den Hintergründen von (israelbezogenem) Antisemitismus vertraut ist, liefert aber viele Beispiele, wie genau er sich in den einzelnen Subkulturen äußert, mit denen man nicht unbedingt vertraut ist.
Aufschlussreich war u. a., von Fayez Sayegh und seiner Rolle für die ideologische Verknüpfung von Zionismus und Kolonialismus zu erfahren. Hervorheben möchte ich auch die in einem Interview im Dialog-Teil vorgebrachte Annahme Rosa Jellineks, dass antizionistische Juden im angloamerikanischen Raum nicht mit jenen antisemitischen Zuständen konfrontiert sind, wie sie in Deutschland vorherrschen und deshalb viele Israel nicht als einzig möglichen Schutzraum wahrnehmen.
Die Beiträge schwanken generell etwas in ihrer Qualität. Je nach Autor dominieren mal mehr mal weniger identitätspolitische Vorstellungen, wenn etwa nicht das Konzept Intersektionalität an sich kritisiert wird, sondern nur, dass Antisemitismus dort keinen Platz hat. Oder sich das mit einem kruden Rassismus-Verständnis paart und keine Kritik an der Critical Race Theory geübt wird, die in einem anderen Beitrag zumindest thematisiert wird.
Sehr ärgerlich ist, dass kein Literaturverzeichnis enthalten ist. Das Argument, für eine niedrigschwellige Lektüre zu sorgen, kann ich nicht nachvollziehen, da diejenigen, die nicht an genauen Belegen interessiert sind, diese einfach überlesen können. Teilweise war es deshalb auch schwierig, die Werke, die in den meisten Fällen immerhin genannt wurden, zu finden. Vor allem für die Belege der antisemitischen Positionen und Äußerungen im Internet ist es doppelt schade.
Gute Einführungslektüre oder bei spezifischem Interesse zu einer Subkultur. Wenn man schon eingelesen in Antisemitismus-Debatten ist, kommt hier wenig Neues.
Sehr übersichtlicher Band, der verschiedene Aspekte linker Bewegungen und ihr Verhältnis zu Antisemitismus beleuchtet. Die Analysen bleiben größtenteils sehr oberflächlich und eignen sich höchstens als Einstieg in das Thema, dafür aber sehr gut. Leider war der Dialog-Teil aber insgesamt ziemlich schwach.
„Linken muss es gelingen, sich eindeutig gegen rechte und rassistische Politik der israelischen Regierung zu positionieren, ohne […] Antisemitismus zu relativieren.”
Der Sammelband thematisiert Antisemitismus in politischen Bewegungen und Subkulturen, die sich als progressiv verstehen. Dass in vielen linken bzw. alternativen Kontexten Judenhass verbreitet ist, zeigen die verschiedenen Beiträge auf.
Dabei bleibt es jedoch nicht bei einer Problembeschreibung, vielmehr geht es um eine solidarische Kritik, um eine tatsächlich emanzipatorische Bewegung zu schaffen.
Das Buch in drei Abschnitte unterteilt: (1) Theorie, (2) Praxis, (3) Dialog.
(1) Die theoretischen Beiträge besprechen Antisemitismus im Kontext von Intersektionalität, Klasse, u. a. Besonders habe ich vom Text des Mitherausgebers Stefan Lauer profitiert, der die Geschichte und Forderungen von BDS darstellt. Denn auf das Wirken von BDS gehen einige Kapitel im Abschnitt Praxis ein.
(2) Die vergleichsweise kurzen praxisbezogenen Texte widmen sich je einer einzelnen Subkultur oder poltischen Bewegung, z. B. Klimabewegung, queere Community, Feminismus, (Berliner) Clubkultur, Punk, ... Da ich einige Berührungspunkte habe, habe ich die Diskussionen zu Antisemitismus in diesen Kontexten mit großen Interesse gelesen. Manches ist spezifisch auf Berlin bezogen, was vielleicht für Menschen anderswo ein Manko ist.
(3) Im letzten Teil - Dialog - finden sich fünf Gespräche zwischen jeweils zwei Personen (meistens einer jüdischen und einer nicht-jüdischen). Hervorheben möchte ich den Austausch von Hengameh Yaghoobifarah und Rosa Jellinek, durch den ich (die Gründe für) queeren Antisemitismus besser verstanden habe. Auch das Gespräch zwischen Rapper Ben Salomo und Massimo Perinelli von Kanak Attak zum gemeinsamen Kampf gegen den Rassismus und Antisemitismus der extremen Rechten ist ein Highlight.
Die Dialoge kommen überwiegend ohne Quellenverzeichnis aus, dass jedoch das ganze Buch keine Belege enthält, sehe ich äußerst kritisch. Das sollte in einem 2023 erschienen Sachbuch selbstverständlich sein. Daher habe ich mich für (nur) drei Sterne entschieden.
”Wollen sie Frieden? Oder wollen sie uns loswerden?”
Ein sehr sehr wichtiges Buch angesichts des rasch steigenden Antisemitismus (siehe Terroranschlag am Bondi Beach). Auch wenn dieses Buch vor dem Terrorangriff von Hamas auf Israel im Oktober 2023 und darauffolgenden Israel-Gaza-Krieges. Antisemitische Ideologie ist real und gefährlich und es ist wichtig, die Stimmen von Jüdinnen*Juden zu hören und ihre Erfahrung wahrzunehmen.
Die Kritik an Antisemitismus trifft in sonst emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen oft auf Abwehr: Antisemitismusvorwürfe würden “zur Waffe”, um vermeintliche Gegener*innen “mundtot” zu machen - die sogenannte Antisemitismuskeule, die vom “echten Antisemitismus” ablenke.
Jüdinnen*Juden werden meist für das gehasst, „was sie haben, nicht für das, was sie nicht haben.“
Ein sogenanntes Must-Read. Ich ziehe einen 1/4 Stern ab für das fehlende Inhaltsregister und einen weiteren 1/4 Stern für den übermäßigen Gebrauch des Wortes emanzipatorisch.