In Thüringen greift die AfD nach der Macht und bringt die ganze Republik in Bedrängnis
Martin Debes erzählt die Geschichte eines Landes, das Experimentierfeld extremer politischer Strömungen war und wieder geworden ist: Genau ein Jahrhundert, nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, steht die Demokratie in Thüringen vor einer neuen Herausforderung. 2024 könnte die AfD Wahlsieger und damit regierungsentscheidend werden. Das ist nicht nur ein Härtetest für die Region, sondern einer für die ganze Bundesrepublik. Thüringen steht damit beispielhaft für die Bedrohung der Demokratie in Deutschland.
Über Sachsen ist in den vergangenen Jahren schon häufig geschrieben worden, wenn es um das Erstarken der extremen Rechten, die Befindlichkeit des Ostens und Herausforderungen für die Demokratie ging. In "Deutschland der Extreme" widmet sich Martin Debes einem anderen Bundesland, Thüringen. Hier hat die "Brandmauer" gegen die AfD das erste Mal versagt. Hier ist mit Björn Höcke als Landesvorsitzendem derjenige AfD-Chef, der die Partei immer weiter nach rechts geführt hat, hin zum Rechtsextremismus. Und hier wird in diesem Jahr gewählt. Könnte es hier erstmals einen AfD-Ministerpräsidenten geben?
Debes betreibt kein Thüringen-Bashing, er kommt selbst aus dem Bundesland, zählt die Traditionen auf, auf die man in dem kleinen Land zwischen Eichsfeld und Rhön stolz ist: Goethe und Schiller in Weimar, Bach, Bauhaus und Weimarer Republik. Und er verschweigt nicht die rechtsextremen und nationalistischen Traditionen, die es schon in der ausgehenden Weimarer Republik gab. Buchenwald, auch das ist ein Ort in Thüringen.
Ein bißchen ist "Deutschland der Extreme" die Anatomie eines Bundeslandes, die Entblätterung all der Schichten seiner Geschichte, die Zeit der DDR, die Zeit der Wende und der Wiedervereinigung, als die Enttäuschung in Thüringen ganz besonders groß war, etwa nach der Zerschlagung und Abwicklung der einstigen Kombinate, die schwierige Verortung in der größer gewordenen Bundesrepublik, die Probleme der großen Parteien mit ihrem Personal - hier ein Korruptionsskandal, dort eine IM-Vergangenheit. Das hilft nicht bei Glaubwürdigkeit.
Das politische Gefüge zwischen Bodo Ramelow und Björn Höcke, ein bißchen auch die Neonazi-Bewegung, die in Thüringen (aber seien wir ehrlich, mit Verbindungen in Nordhessen, dem südlichen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt - es ist kein Problem des Ostens alleine) festen Fuß gefasst hat: Eine Herausforderung für die Demokratie in Deutschland. Das steht im Titel nicht als Frage, sondern als Feststellung.
Debes ist politischer Journalist, er hat die Protagonisten seines Buches seit Jahren journalistisch begleitet und tiefe Einblicke in die politische Szene zwischen Erfurt und Berlin erhalten, das merkt man dem Buch an, ohne dass es lehrmeisterlich oder besserwisserisch wird. Eine spannende Analyse, nicht nur für Wahljahre.
„Doch warum Thüringen? Was ist besonders an dem Land, in dem viele Menschen vor allem Fichtenwälder und Bratwurst-Grillstätten vermuten? Die Antwort: sehr viel.“ Der Journalist Martin Debes, der selbst aus Thüringen stammt, macht am Anfang seines Buches direkt klar, dass bei einer Auseinandersetzung mit der politischen Situation nicht alle ostdeutschen Bundesländer über einen Kamm geschoren werden können. Stattdessen spinnt er einen roten Faden durch die Historie Thüringens von seiner Entstehung über die Weimarer Republik und die DDR-Zeit bis ins Jahr 2024 (vor der Landtagswahl). Die Besonderheit des Freistaates liegt schließlich in dem Schwanken zwischen links und rechts. Die Gegenspieler Bodo Ramelow und Björn Höcke werden mit ihrem jeweiligen Werdegang porträtiert und in den Kontext der Position der Parteien gebracht. Zahlreiche Zitate und Quellenangaben belegen eine fundierte Recherche. Ein Wermutstropfen war in meinen Augen, dass eine persönliche Wertung, zum Beispiel über persönliche Eigenschaften der Politiker, einfloss, die schwer nachprüfbar ist und als polemisch aufgefasst werden könnte. Ich halte dieses Buch nichtsdestotrotz für gut geeignet, um einen Überblick über die Stellung Thüringens in Deutschland zu erlangen und empfehle es allen politisch Interessierten und den Thüringern sowieso.
"Almost all the relevant lines of the conflict in the Federal Republic can be traced back to Thuringia. The local protagonists Bodo Ramelow, Björn Höcke and Thomas Kemmerich are known far beyond the country's borders. But Thuringia has always been special: Bach was born here, Luther translated the New Testament, Goethe and Schiller wrote important works, the Bauhaus was founded, the Weimar Republic was formed- and Hitler found his model district. Now the right-wing estremist AfD could take power in the country that is governed by Germany's only left-wing prime minister- and fundamentally change the political architecture of the Federal Republic"
About this book
"In September 2024, one year before the federal election, three parliaments will be elected in eastern Germany. (...) Never since 1945 has the open society been so threatened by its enemies as it is today"
Leider gewinnen die rechtsextremen Parteien in immer mehr Ländern an Bedeutung. Martin Debes zeigt diesen Prozess anhand der politischen Geschichten Thüringens. Hier ist die AfD am erfolgreichsten. Debes ist sehr gründlich; er hat die Quellen sorgfältig angegeben. Einerseits ist das Buch sehr gut strukturiert; es besteht aus kurzen und prägnanten Kapiteln. Der Inhalt ist auch vielseitig und informativ. Andererseits war es für mich so trocken wie ein Lehrbuch. Es wurde chronologisch hin und her gesprungen. Wenn ich einen Teil interessant fand, folgten noch jede Menge Daten. Insgesamt lohnt es sich, das Buch zu lesen. Ich zweifle nicht an der Fachkompetenz des Autors, aber ich habe manchmal den Faden verloren.Ich kann es denen empfehlen, die den deutschen politischen Prozess verstehen möchte