»Das Thema Meinungsfreiheit ist zu wichtig und zu dringend, um es den Rechtspopulisten zu überlassen.«
Studien zufolge ist mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung der Ansicht, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Woran liegt das? Je mehr Menschen heute ihre Individualität ausdehnen und die Dinge ›persönlich‹ nehmen, umso leichter fühlen sie sich gekränkt. Beschleunigt durch Social Media und die Möglichkeiten des Shitstorms wird das Risiko freier Meinungsäußerungen immer größer und die sozialen Kosten steigen gefährlich an. In der Folge gerät unsere Gesellschaft in einen Angststillstand. Denn wie sollen eine beherzte Politik, eine provozierende Kunst und eine gesellschaftskritische Kultur noch möglich sein, wenn immer jemand empört oder verletzt reagiert?Richard David Precht entwickelt ein gesellschaftliches Psychogramm und nimmt uns in die Pflicht, das »Wir« wieder in den Vordergrund zu stellen.
Wenn man an dem Essay etwas kritisieren kann, dann 1., dass Anfang und Ende etwas zu langatmig geraten sind (ein Essay kann durchaus prägnanter sein) und 2., dass Vorschläge für Maßnahmen fehlen, die die Lage entspannen können. Letzteres ist natürlich durch den Anspruch des Textes, ein Essay zu sein, zu relativieren. Außerdem stellt sich die Frage, ob nicht die einzig mögliche Maßnahme, die nicht dem kritisierten Schema folgt, die (hier zweifelsfrei gelungene) Aufdeckung der Mechanismen ist, die zur Verengung des Meinungskorridors und zur Diktatur der Hyper- Sensibilität geführt haben. Sachlich ist gegen die Analysen von Precht also nichts einzuwenden. Sie stimmen, auch wenn der Autor - lach (!) - kein Philosoph sein soll, weil er niemanden an einer Uni mit formaler Logik langweilt. Auch ein, freilich nicht neues, Analyseresultat: Hat jemand sachlich nichts zu sagen, kann er oder sie immer noch persönlich werden.
Aber zur Sache selbst: Precht stellt anfangs heraus, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen sehr unterschiedlich an der gesellschaftlichen Normbildung beteiligt sind, einfach, weil ihnen die dafür prädestinierten Räume verschlossen bleiben. (32) Als Ausgleichsmedium werden dann die SM in Anspruch genommen, die jedoch nicht wirklich "normbildend", sondern Echokammern seien, in denen Normen entweder bestätigt oder ihre Propagandisten ad hominem abgelehnt werden. Kurz: Argumentation findet nicht statt und würde, selbst wenn es sie gäbe, nichts bewirken.
Was die Echokammern anbelangt, so stellt Precht unter Rückgriff auf Reckwitz fest, dass das im Kapitalismus dominierend gewordene Streben nach "Singularität" Gemeinschaftsbildung behindert und notwendig zur Atomisierung der Gesellschaft führt, weil sie die immer weiteren Aufspaltung von ehemaligen Gesinnungsgemeinschaften in immer kleinere Gruppen nach sich zieht. Warum das so sei? Im Übergang von der Bedarfsdeckungsgesellschaft zur Bedarfsweckungsgesellschaft ab Ende der 70-iger entstehe eine "Welt der Imagination, der unausgesetzten Produktion von (Selbst-) Bildern und (Selbst-) Erzählungen" (41), die in der sich diversifizierenden Produktion sowohl ihre Selbstbestätigung wie auch ihren Antrieb (zu noch mehr diversifizierter Konsumtion) findet. Die daraus resultierende Sinngesellschaft werde jedoch in ihrer "Sinnsuche" permanent enttäuscht und jeder gefundene "Sinn" wird schnell wieder entzaubert. Die Frustration darüber sei das verbindende Element von links bis rechts und bedingt mehr (trotziges) Gegeneinander als Miteinander, dessen Minimum allerdings für Demokratie unabdingbar sei.
Meint, das gerade die Gefühle, die von den meisten als individuell begriffen werden, das sind, was am meisten einem Mainstream entspricht. (49) Allerdings sei dieser Mainstream kein verbindlicher Moralhorizont mehr wie früher, als Großgruppen (Klassen usw.) um Anerkennung ihrer Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen miteinander in Widerstreit traten, sondern "Moral" sei heute idiotischerweise zu etwas scheinbar sehr Persönlichem geworden, was man anhand der alltäglichen Moralisiererei von allem und jedem gut beobachten kann. "Wissen um das, was gerecht ist, ist weitgehend gefühltes Wissen geworden." (55) Damit reagieren Menschen zunehmend gefühlsbetont und gefühlsgeleitet, statt sich vernunftbetont und überlegend zu verhalten. Sie verbleiben damit auf dem Status von Kindern oder jungen Jugendlichen und sind unfähig, diesen infantilen Status zu verlassen. Als "Infantilisierung" ist der Befund schon älter; Precht nennt dasselbe Phänomen nun "Axolotilisierung", was witzig, aber nicht neu ist. Im Falle der gesellschaftlichen Linke, die an den Universitäten dominiert und von der die Bewegung ausgeht, auf die Rechte dann aufspringen, folgt daraus, dass sie den Kapitalismus nicht mehr überwinden wolle, sondern ihn gleichsam als "kulturellen Kapitalismus" auf die Spitze treibe. (67) Jepp, das kann man an der Neumitgliedschaft der Partei "Die Linke" gut ablesen, weshalb Wagenknecht mit ihrer Kritik in weiten Teilen eben auch Recht hatte.
Die Dominanz dieser neuen Empfindlichkeitskultur, für die Precht dann einige schlagende Beispiele anführt, führe unter anderem dazu, dass das gute (weil provozierende und zum Mitdenken anregende) alte Kabarett, das nach "oben" kritisierte, ausstirbt und durch Comedey ersetzt wird, die nach unten tritt und deren Oberflächlichkeit bestenfalls noch zum Mit(sic!)lachen reizt. Und das ist Prechts Hauptvorwurf: Alle diese Prozesse führten dazu, dass der Mainstream aus sich heraus zur Dominante werde, die jede Abweichung bestrafe und Menschen dazu bringe, sich aus Angst vor Ausgrenzung gruppenkonform zu verhalten. Er nennt das "Kleingruppenselbstbestätigung", womit auch charakterisiert ist, wie sich heute Journalisten verhalten, die ein entsprechendes "Gepäck" von den Universitäten und ihren Studienaufenthalten in den USA mitbringen. Nicht die Politik bestimme die Medien, sondern der mediale Selbstläufer, eben die Ausrichtung der Meinungsmacher an der dominierenden Art die Welt zu sehen und zu bewerten, treibe als "Empörungskultur" zunehmend die Politik vor sich her.
Was ist bei alledem nun der "Angststillstand"? Das wird am Beispiel von Kunst und Kultur aufgezeigt, die ihre Rolle zu provozieren oder etwas zur Diskussion zu stellen, Assoziationsräume im Widerspruch zu eröffnen usw., beinahe vollkommen eingebüßt haben, weil nur noch das stromlinienförmig Angepasste akzeptiert und mit Preisen bedacht werde. Die Folgen? "Kinder lernen, anders als in der Freiheitspädagogik der Siebzigerjahre, die ihre Eltern prägte, mit allen unkonventionellen Meinungen und Verhaltensweisen vorsichtig zu sein. Und was auf der einen Seite unterdrückt wird, kommt auf der anderen Seite wieder zum Vorschein, nämlich als Häme, wenn andere am Pranger stehen." (161/ 162) Aber nicht nur das, man macht natürlich nach Kräften mit, weil man sich dann als einer oder eine der "Guten" fühlen kann. Doch nicht (ironische) Häme über dieses nervige Verhalten ist Prechts Punkt, sondern er erinnert an das kommende Zeitalter der KI, die "Kreativität von gestern unausgesetzt reproduzier(e)", wodurch eine "Passivkultur" entstehe, die sich eine auf Innovation angewiesene Gesellschaft nicht leisten könne. (ebd.) Guter Punkt, wie ich meine. Darüber würde sich ein eigener Essay lohnen!
Den Schluss des Essays markieren Überlegungen dazu, dass "Freiheit" und "Gleichheit" rechtlich als durchsetzbare Ansprüche verankert sein können, "Brüderlichkeit" hingegen nicht. In einer "Gesellschaft der Singularitäten" (Reckwitz) sei vielmehr das Gegeneinander der Individuen folgerichtiger als die Ausbildung eines Gemeinschaftssinns, der seit Rousseau den Exzessen des von Hobbes begründeten Individualismus entgegen wirken sollte. Warum bleibt Precht in Ansehung der Notwendigkeit von mehr Brüder- und sicher auch Schwesterlichkeit (was Diverse einschließt) bei dem bloßen Appell an die Einsicht? Weil er, im Gegensatz zu vielen anderen (Philosophen? ;-) ) klar sieht, dass "Selbstverwirklichung" im "kulturellen Kapitalismus" nur als Abgrenzung von anderen (in Stil, Lifestyle Geschmack, Auffassungen usw.) zu haben ist. Dem stellt er die "gesellschaftliche Verwirklichung" gegenüber, die ein Minimum an Gleichem und gemeinsam Geteiltem zur Voraussetzung habe: "Auf die Summe des gemeinsam Geteilten kommt es an." (187) Woher soll aber Optimismus kommen, wenn Gemeinsames zunehmend als "völkisch" gedacht und die ach so "antifaschistische Linke" derart tief in die kulturellen Grabenkämpfe verstrickt ist, dass sie keinen Ausweg weisen oder herbeiführen kann? Daher endet der Essay etwas ratlos und zitiert stattdessen die kluge Einsicht von Svenja Flaßpöhler: "Wer Feindschaft verhindern will, muss Gegnerschaft zulassen." (202) Womit wir wieder bei der Meinungsfreiheit wären und dabei, was sie ausmacht: Gegner sollen unversöhnlich miteinander um den Konsens streiten, der den Rahmen für alles bilden soll. Einfach gesagt: Bist du Fußballfan, interessiert dich, dass Fußball gespielt werden kann. Als Fan deiner Mannschaft ist der Fan der gegnerischen Mannschaft dein...- ja, was nun? Im Prinzip doch dasselbe: Als Gegner Fußballfan! Als solche sollten alle beide nach dem Spiel zusammen ein Bierchen trinken können und sich den ganzen Abend über den Elfmeter streiten - ohne sich deswegen zur Schlägerei zu verabreden. Ist es falsche Nostalgie, wenn man sagt: "Wie es früher war"? Prechts Essay beschwört keine idealisierte Vergangenheit; er stellt die Forderungen an die Zukunft auf, ohne die es nicht gehen wird. Das ist die Stärke des bisweilen etwas zu ausführlich argumentierenden Textes, den man also lesen sollte.
Wenn "Ich kenne da eine Abkürzung" ein Buch wäre: 202 Seiten voller Verirrungen und Banalitäten
Wenn man den Punkt beachten würde wie Precht in diesem Buch unbeabsichtigt die größeren Probleme der gefühlten Meinungsfreiheit bzw. auch andere Probleme aufdeckt müsste man fast 4/5 Sternen vergeben...
An sich bin ich Richard David Precht gar nicht so abgeneigt. Ich finde sowohl sein Gegengewicht zu Lanz in dem Podcast ganz gut und bin auch seinen Büchern grundsätzlich nicht abgeneigt. Allerdings hat er mit diesem Buch einen wirklich sehr schwachen Beitrag zu diesem, an sich wirklich wichtigen Thema abgeliefert.
Das gesamte Buch ist sehr dünn bezüglich des Inhalts. Es liest sich von Beginn an durchgehend wie eine Einleitung. Ein Verweis/Beispiel aus den Nachrichten der letzten Jahre jagt die nächste, durchzogen von Anekdoten aus seinem Leben, Selbstzitierungen und Verweise auf andere, ebenfalls populärwissenschaftliche Texte. Das Literaturverzeichnis spricht hier Bände.
Es macht den Anschein als würde Precht seine kompletten Informationen für dieses Buch aus Schlagzeilen und anderer Massenliteratur beziehen. Diese "Schlagzeilen-Philosophie" macht sich vor allem dadurch bemerkbar, dass jeder Gedanke, jede Idee oder Vorschlag gefühlt bereits schon breit diskutiert wurde. Das Buch ist am Tag seiner Veröffentlichung quasi schon veraltet gewesen...
Hinzu kommen so Stellen wo es nach dem erwähnen von den Genderstudies Professoren Stellen heißt wo denn die Stellen wären wo sich mit den gefühlten Einengungen durch so etwas beschäftigt werden würde? Mensch, vielleicht sind dafür ja diese mysteriösen Sozialwissenschaften da?!
Und dann noch permanent gegen den Moralismus zu wettern (zumindest das kann ich unterschreiben) aber dann als Lösung die Forderung an die Gesellschaft nach mehr "Resilienz" zu stellen, ist an Blindheit kaum zu überbieten.
Oberflächlich, leer und wirr ist dieses ganze Buch. Das lauwarme Leitungswasser der Philosophie (falls man das noch als Philosophie bezeichnen will)
Meinungsfreiheit bedeutet, dass der Staat dich nicht wegen deiner Meinung benachteiligen darf, nicht, dass es keine privaten Konsequenzen für diese geben darf, z.B. dass jemand mit einem queerphoben Coronaleugner eben nichts mehr zutun haben will.
Ich tue mich bereits seit mehreren Jahren, vielleicht seit dem Podcast mit Herrn Lanz, den ich auch nicht allzu gern höre, weil ich Letzteren nur eingeschränkt mag, auf den ich aber trotzdem nicht verzichten möchte, etwas „schwer“ mit RDP, den ich früher noch ganz großartig fand. Trotzdem höre ich ihm immer noch gern zu, denn irgendetwas nehme ich immer mit: seien es Meinungen, denen ich nicht zustimme, Literaturhinweise oder Denkanstöße, wie man manches besser (oder auch nicht) machen könnte.
Das gilt auch für dieses Buch: Man kann es lesen/hören – oder eben auch nicht. Es enthält sicherlich vieles, dem man zustimmen oder das man zumindest nachvollziehen kann, aber auch einiges, womit man sich schwertut oder das man schlicht anders sieht. Nichts RDP-Spezifisches also.
Der Schreibstil, mit dem sich Precht bisweilen selbst hochjazzt (wer einen Essay liest, muss sich damit wohl abfinden), ist stellenweise ziemlich drüber, aber insgesamt habe ich gern zugehört und das ein oder andere für mich mitgenommen.
Ein interessantes kleines Buch. Es bringt keine wirklich neue Thesen, als vielmehr eine aktuelle und auf Deutschland bezogene kristallisierte Version dessen, was schon sehr lange in verschiedenen Büchern und Studien diskutiert wird. Die Probleme der Moderne, der Medien, der Identitätspolitik, der Hypermoral, der Empörungskultur, des schwindenden Gemeinsinns, der fragilen, ja unreifen psychischen Verfasstheit. Die Mischung führt, laut Precht, dazu, dass es mit hohen psychischen und sozialen Kosten verbunden ist, nicht der Mehrheitsmeinung zu sein, gerade auch, weil Resilienz gegenüber Kritik oder sogar Ausgrenzung, die man als Andersmeinender zu spüren bekommt, kaum noch vorhanden sei. Als eine Art Zusammenfassung ist das Buch sehr lesenswert, da es kurzweilig, aber dennoch inhaltlich umfangreich ist. In wieweit man die Thesen dann berechtigt, gut belegt, bzw. nachvollziehbar findet, muss natürlich jede Leserin bzw. jeder Leser für sich selbst entscheiden. Was dem Autor leider nicht so gut gelingt, ist einen Ausweg aufzuzeigen. Das ist aber, wenn man die Thesen teilt, wohl auch nicht so einfach.
Das Buch von Richard David Precht hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es ist nicht nur sehr gut geschrieben, sondern überzeugt auch durch seine inhaltliche Tiefe. Besonders beeindruckend fand ich, wie Precht aktuelle Themen und Entwicklungen, die sich in den letzten Jahren – insbesondere nach der Covid-Zeit – ergeben haben, detailliert und differenziert beleuchtet. Seine Analysen regen zum Nachdenken an und bieten wertvolle Perspektiven auf gesellschaftliche, politische und philosophische Fragen unserer Zeit.
Vielen Dank an den Autor für dieses erkenntnisreiche und inspirierende Werk!
Die erste Hälfte des Buches ist eine gelungene Hinarbeitung auf das Problem der Cancel Culture. In der zweiten Hälfte erhält man den Eindruck, dass er aus einer einseitigen Perspektive heraus und nicht aus der Haltung einer sachlichen Unvoreingenommenheit argumentiert. Das Buch ist aber trotzdem wichtig, weil es auf ein Problem hinweist. Lösungen hat er nicht.
Eine gute Beschreibung einiger Faktoren die vermutlich eine Rolle dabei spielen wieso die gefühlte Meinungsfreiheit gesunken ist. Allerdings ohne Vorschläge wie es verbessert werden könnte, außer einem generischen Aufruf an die Allgemeinheit.