Der öffentliche Sprachgebrauch schwankt permanent zwischen vagen und starken Aussagen, zwischen »irgendwie« und »absolut«, »ein bisschen« und »total«. Das locker Dahingesagte ist an das meinungsstarke Superlativische gekettet. »Umgehungsdeutsch« und »Ultradeutsch« haben sich längst in Podcasts und sozialen Medien, aber auch Gesprächsformaten in Funk und Fernsehen durchgesetzt. Das führt oft zu unfreiwilliger Komik, wie Wolfgang Kemp an vielen Beispielen zeigt. Mit den Widersprüchen im agilen Sprachwandel von unten korrespondiert allerdings das entschlossene Sprachdiktat von oben. Das »woke« sensibilisierte und gegenderte Deutsch ist als neues Kanzleideutsch aus den Verwaltungen hervorgegangen und wird unnachgiebig durchgesetzt. »Korrektdeutsch« findet zu Wortschöpfungen wie »Sprachaktteilnehmende« für Sprecher. Diesen Prozess beleuchtet der Autor und sorgt für »irgendwie so total spannendes« Leseerlebnis.
Das Buch wurde unter anderem im Falter, im Feuilleton der Zeit sowie im Podcast "Was liest du gerade?" vorgestellt, und großteils wurde es lobgehudelt. Ich bin selbst ziemlich sensibel bei der inflationären Verwendung der immer gleichen Wörter (hallo "quasi", "gefühlt" + "tatsächlich"!), daher klang das Buch vielversprechend.
Ein paar wenige Absätze beinhalten auch interessante Gedanken (daher die 2 Sterne), aber die Begeisterung für das Buch ist für *mich* nicht nachvollziehbar. Spätestens beim Thema Twitter/X war für mich der Eindruck unvermeidbar, dass hier jemand von der Realität überholt wurde. Der Autor schnappt sich einer Twitter-Account mit ~2k Followern, bezeichnet diesen als "Twitter-Ikone", und versucht sich an einer Textkritik, die eigentlich nur aufzeigen kann, dass der Autor soziale Netzwerke nicht verstanden hat. (Den Grund für die Pseudo-Anonymisierung der Personen + Accounts würde ich auch gerne verstehen, die erwähnten Personen/Accounts sind in 30 Sekunden recherchiert.)
Im Ausflug zu den Emojis gibt es dann neben dem Eindruck, dass der Autor kein Teilnehmer von sozialen Netzwerken, Diskussionsforen und -Gruppen sein kann und das vielleicht auch nicht verstehen *will*, auch inhaltliche Fehler. (Leseempfehlung für den Autor und Interessierte: "Because Internet: Understanding the New Rules of Language" von Gretchen McCulloch)
Und Kemps Gedanken zum Gendern wirken streckenweise so, als ob ein weißer alter Mann,... oh wait!
Ein Geisteswissenschaftler mit 1000 Jahren Muff unter dem Talar hat aus den 1960ern eine Zeitreise in die Gegenwart unternommen und ist von der kulturellen und sprachlichen Weiterentwicklung überfordert. Jetzt versucht der Snob an der Literaturgeschichte des letzten Jahrhunderts Tritt zu fassen, was aber nicht intellektuell sondern ewiggestrig wirkt.
Schon das Experiment des Prologs vergleicht einen frei gesprochenen Podcast mit einer Kurzgeschichte Bölls und schweift dabei direkt in eine Tirade gegen das Gendern ab. Vor lauter möchtegernintellektuellem Streufeuer übersieht man fast, wie wirr und verbittert der Text im Grunde daherkommt. Ein Stammtischgermanist des Vereins Deutscher Sprache könnte das zusammengeschludert haben.
Dabei wäre die Prämisse sehr interessant, nämlich wie Sprache sich in einer Zeit der disruptiven Medien und krisengebeutelten Sensibilität entwickelt (hat).
Ein Buch, welches nie wirklich das 'Warum?' hinter sprachlicher Entwicklung beleuchtet, sondern sich bloß in der immer gleichen Negativität des Autors suhlt. Hauptsache dagegen, scheint die Devise. Dazu kommen einige schlechte Übersetzung aus dem Englischen, die dem Sinn der Originalaussage nicht gerecht werden, und der Eindruck, dass sich der Autor nur oberflächlich mit den Medien beschäftigt hat, die er kritisiert. Ein an sich spannendes Thema, dem man hier in keinster Weise gerecht wird.