Ein stilles und zugleich sprachmächtiges Buch, das vom Verlust der Heimat durch Krieg, von Schmerz und Sprachverlust erzählt. In diesem ergreifenden Debüt findet die Autorin eine großartige eigene Sprache.
Der ungewöhnliche Titel »ë« steht für einen Buchstaben, der in der albanischen Sprache eine wichtige Funktion hat, obwohl er meist gar nicht ausgesprochen wird. Als Kind von Geflüchteten aus dem Kosovo ist die Erzählerin auf der Suche nach Sprache und Stimme. Sie wächst in Deutschland auf, geht in den Kindergarten, zur Schule und auf die Universität, sucht nach Verständnis, aber stößt immer wieder auf Zuschreibungen, Ahnungslosigkeit und Ignoranz. Als der Kosovokrieg Ende der 90er-Jahre wütet, erlebt sie ihn aus sicherer Entfernung. Doch auch in der Diaspora sind Krieg und Tod präsent – sie werden nur anders erlebt als vor Ort. Der Roman »ë« erzählt von dem in Deutschland kaum bekannten Kosovokrieg und erinnert an das Leid von Familien, die ihre Heimat verloren haben, deren ermordete Angehörige anonym verscharrt wurden und bis heute verschollen oder nicht identifiziert sind. Eine Vergangenheit, die nicht vergehen kann, weil sie buchstäblich in jeder Faser des Körpers steckt, wird von Jehona Kicaj im wahrsten Wortsinn zur Sprache gebracht.
„Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“
Die namenlose Ich-Erzählerin sitzt bei ihrem Zahnarzt. Ihre Zähne bröckeln auseinander, diagnostiziert wird Bruxismus, das unbewusste Knirschen und Pressen der Zähne, das im Schlaf oder im Wachzustand auftreten kann. Sie stellt sich vor, wie all die ungesagten Wörter, all die Sprachlosigkeit über ihre Heimat, den Kosovo, an ihre fest zusammengebissenen Zähne prallen, eigentlich aus ihrem Mund heraus wollen, aber nicht können. Ausgehend von den immer wiederkehrenden Zahnarztbesuchen berichtet die Erzählerin von ihrem Aufwachsen in der Diaspora in Deutschland, von Zuschreibungen, Ahnungslosigkeit und Ignoranz, die ihr im Kindergarten, in der Schule, an der Universität immer wieder begegnen. Und sie berichtet von ihren albanischen Verwandten, die nicht vor dem Kosovokrieg fliehen konnten oder wollten, von Angehörigen, die ermordet, anonym verscharrt und noch immer verschwunden sind, von niedergebrannten Häusern und brutalen Übergriffen.
In ihrem Debütroman "ë" widmet sich Jehona Kicaj einerseits dem in Deutschland wenig beachteten Kosovokrieg, andererseits verbindet sie diese (erworbenen) Erinnerungen auch immer wieder mit einer Erkundung von Sprache(n). Gerade diese Verbindung und das immer wiederkehrende Motiv der Zähne (Bruxismus, forensische Anthropologie) haben den Roman für mich sehr interessant gemacht. Ganz abgesehen von der stilistischen Raffinesse des Buchs hat mich Jehona Kicaj mit ihrem Memoire-artigen Text sehr berührt, er lässt mich nicht mehr los. Für mich völlig verdient auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis!
Die Geschichte startet mit einem Stück abgesplitterten Zahn im Mund. Die namenlose Ich-Erzählerin hat Bruxismus. Sie knirscht mit den Zähnen und ihre Kiefergelenke krachen, als würden Knochen brechen.
Und um diese Krankheitsgeschichte herum, entfaltet sich fragmentarisch der Text. Wir erfahren in Rückblenden etwas über Ihre Kindheit, ihre Familie. Sie erlebt als Heranwachsende den Kosovo Krieg aus der Ferne. Teile ihrer Familie flüchten vor dem Krieg nach Deutschland. Ein Teil bleibt. Sie selbst ist mit ihren Eltern und Geschwistern geflüchtet und versucht in einer neuen Welt Fuß zu fassen, erlebt wie ihre Familie darum kämpft, dass sie dazugehören. Ringt mit dem Erlernen einer neuen Sprache und versteht diese u.a. als unabdingbares Instrument zum Zugehörigkeitsgefühl. Hebt aber auch hervor, dass das Fehlen von Sprache zu Ausgrenzung führt.
Es gibt viel Sprachlosigkeit, viele Leerstellen, Erinnerungen, die ihr selbst verloren gingen. Hier würde ich auch den Bogen zum Titel schlagen. „ë“ ein Buchstabe des albanischen Alphabets. Dieser wird als stummer Laut nicht mitgesprochen. Man hört ihn also nicht…. Er ist also gleichzusetzen mit Unsichtbarkeit , überhört bzw. nicht wahrgenommen zu werden.
Die Autorin schreibt über den Kosovo und das Leid der Menschen, die den Krieg erlebt, überlebt haben oder die ihr Leben verloren. Auch die Vermissten oder gar Verstorbenen erhalten durch diese Geschichte eine Stimme.
Jehona Kicaj erinnert und regt durch den Text dazu an, zu recherchieren, nicht zu vergessen und schon gar nicht zu verdrängen.
Es werden einige Grausamkeiten erwähnt, die während des Krieges der albanischen Bevölkerung angetan wurden. Jedoch schlachtet sie es nicht aus, sondern stellt diese Taten als das dar , was sie waren….. Gewaltverbrechen an unschuldiger Zivilbevölkerung.
Kicaj schreibt eher leise, zurückhaltend und introspektiv. Wir erfahren einiges über ihre Beobachtungen und Gedanken.
Sie spricht Themen wie Flucht, Integration, Herkunft, Sprache und deren Verlust dieser an. Der Text handelt von Kriegstrauma und wie sehr sich diese in das Leben einschreiben.
Ich könnte noch sehr viel mehr zu diesem sehr kraftvollen, wichtigen Text schreiben. Besser ist jedoch, man entdeckt ihn selbst.
Für mich ein unfassbar beeindruckendes Buch. Es steht zu Recht auf der Longlist und hoffentlich auch bald auf der Shortlist.
Das zentrale Thema des Buches ist die Flucht aus dem Kosovo als Kind in den 90ern, die das Leben der Protagonistin maßgeblich geprägt hat. Sie beschreibt, die Auswirkungen auf ihr Leben und das Leben mit ihren Mitmenschen.
Das Buch schafft sehr gut Verständnis für die Situation der Kosovo-Albaner damals aber auch heute noch. Das transgenerationale Trauma ganzer Familien wird im Text nachvollziehbar und deutlich.
Die Autorin möchte Aufmerksamkeit auf die, fast etwas in Vergessenheit geratenen, Kriege und Gräueltaten im ehemaligen Jugoslawien lenken. Sie schafft dies gekonnt, auf poetische und emphatische Art und Weise, die das Buch extrem lesenswert machen.
Über den ausgehaltenen Schmerz, keine Heimat (mehr) zu besitzen. Ein Bericht - kein Roman. Eine Aussage – keine Literatur. (Shortlist Deutscher Buchpreis 2025)
Jehona Kicajs Roman ë kommuniziert mit anderen Texten, die die Grausamkeiten, den Terror aus Kriegs- und Krisen- und Konfliktgebieten ausführlich behandeln, zumeist sehr journalistisch, anekdotenhaft ausgearbeitet. Diese Texte, bspw. Ronya Othmanns Vierundsiebzig, Tijan Silas Radio Sarajevo oder Necati Öziris Vatermal, wollen an das Leid erinnern, dass einem Land, einer Bevölkerungsgruppe, einer Sprach- oder Glaubensgemeinschaft durch andere Länder, Bevölkerungsgruppen, Sprach- oder Glaubensgemeinschaften angetan wurde und wird. In ë geht es insbesondere um die Jahre 1998-1999, in denen es zu Massentötung von Kosovo-Albanern in Serbien und Kosovo gekommen ist.
Die Zeugin hatte sich tot gestellt, wurde zusammen mit den anderen Leichen auf einen Lastwagen geworfen, während einige serbische Nachbarn dabei zusahen. Zuvor hatte man ihr noch zwei Goldketten vom Hals gerissen. Trotz schwerer Verwundungen gelang es der Frau, in Höhe des Dorfes Malsija e Re vom Lastwagen abzuspringen. Nur sie, ihre Schwägerin und ein kleiner Junge überlebten. Zum Schluss sagte sie: »Ich bin eigentlich schon tot, seit meine Kinder gestorben sind. Ich bleibe nur noch am Leben, um Zeugnis darüber abzulegen, was in Suhareka geschehen ist. Ich kenne die Mörder und will, dass sie von einem Gericht verurteilt und bestraft werden.«
Um einen Roman handelt es sich bei ë wegen der Verquickung und Allegorisierung durch das Zähneknirschen. Die im Grunde namenlos bleibende Ich-Erzählerin (ihr Vorname endet auf „a“ – mehr ist nicht bekannt) protokolliert in Präsens die Arztbesuche und ihre nächste Reise in den Kosovo, ihre Gespräche mit ihrem Lebenspartner (?) Elias und anderen aus ihrer Familie. Literarische Verdichtung gelingt aber durch das Zerfahrene, Anekdotenhafte kaum. Die Motive verstärken sich nicht. Sie wirken zentrifugal und lassen den Text auseinanderfliegen.
Das andere Grab ist nicht einmal halb so groß. Nur eine schlichte Holztafel steht darauf, den Namen, das Geburtsdatum und das Jahr 1999 hatte jemand in Druckbuchstaben darauf geschrieben, eine Handschrift, die ich nicht kannte. Es schmerzte, dass es so karg und einfach war. Es schmerzte, dass die anderen nur einen flüchtigen Blick darauf warfen. Dass keine Kränze darauf lagen. Aber wie soll ein Grab aussehen, das kein Grab ist? Ein Grab als reines Symbol. Es soll die Leerstelle verdecken und hebt sie nur noch stärker hervor.
Die Leerstelle, das ist das Verschwinden des Großvaters, der stumme Laut „ë“, das als diakritisches Zeichen im Albanischen bei direkter Ansprache wirkt, wer also bspw. Jehona anspricht, sagt „Jehonë“. Die direkte Ansprache ist das Anerkennen des anderen als Gegenüber, seine Souveränität und Autonomie, die Kosovo noch nicht erlangt hat. Das Zerbeißen der Zähne als Motiv für das Suchen einer Wurzel, aber auch als das erzwungene Schweigen, die Verstellung und Verkrampfung, das Verharren in einer schmerzhaften Situation, allegorisiert die Sehnsucht der Ich-Erzählerin nach einem sicheren, allseits anerkannten, von allen in seiner Souveränität bestätigtem Kosovo. Aus diesem Grunde bricht sie auch eine Lanze für das Albanische und lässt den Text zu einem Großteil zu einem Albanisch-Grundkurs werden:
»Ja«, sagte ich, me gjyshen shpesh kam shku në Suharekë me ta – »mit Großmutter bin ich einige Male damit nach Suhareka gefahren.«
Wer sich also gerne belehren lässt, über Zahnkunde, über Forensik und übers Albanische, dabei aber blindlings glauben muss, dass die Ich-Erzählerin eine verlässliche Quelle ist, der findet hier ein zumeist flüssig geschriebenes Edutainment. Literatur habe ich darin nicht gefunden.
--------------------------------- --------------------------------- Details – ab hier Spoilergefahr (zur Erinnerung für mich): --------------------------------- ---------------------------------
Inhalt: ●Hauptfigur(en): keine (die Ich-Erzählerin ist keine Figur) ●Zusammenfassung/Inhaltsangabe: Beim Zahnarzt. Sie leidet unter Bruxismus, Zähneknirschen so, dass die Zähne abnutzen. Verkrampfung im Kiefer. Erinnerungen an die Flucht über die Serbische Grenze. Bürgerkrieg der Serben gegen die Kosovo-Albaner. Protagonistin studiert, beginnt ein Referendariat, spricht perfektes Deutsch. Keine zusammenhängenden Erinnerung an den Großvater. Sie bekommt eine Beißschiene. Auf dem Rückweg vom Zahnarzt wird eine Vorlesungsreihe in der U-Bahn angekündigt: »Die Rolle der forensischen Anthropologie in Gewaltszenarien des 20. Jahrhunderts: der Fall Kosovo im internationalen Kontext. Gefördert von der Deutschen Stiftung Friedensforschung.« Sie war zum Zeitpunkt der Großvertreibung der Kosovo-Albaner (1998-1999) bereits in Sicherheit. Protagonistin hat keine Bilder aus ihrer Kindheit. Alles verbrannt. (2. Schuljahr 1999 – sie ist 8 Jahre alt). Sie besucht die Vorlesung von Joanna Korner. Diskussion über Rechtmäßigkeit des NATA-Einsatzes. Erste Reise ohne die Eltern während des Bachelorstudiums, Besuch von Tante Sevdije. Tag, an dem ihr Großvater verschwand: 15.5.1999. Anprobe der Beißleiste. Kurz nach Abschluss ihres Studiums, Besuch ihrer Cousine Shpresa in Prishtina. Wie der Bus den Namen Diana erhalten hat, Tod der Tochter einer Frau durch die serbischen Paramilitärs. Erinnerung an die Eskalation im Kosovo. Große Begeisterung für Deutschland und die NATO im Kosovo. Erinnerung an Probleme mit Wohnungssuche wegen ihres Namens. Erinnerung an das erste Haus in Deutschland, wo sie zehn Jahre gewohnt haben. Sie zeigt es ihrer Mitschülerin Luisa. Ein Jahr nach ihrem Auszug ist nichts mehr von dem Haus übrig. Erinnerung der Mutter an die Schuhe, die sie ihrem Vater geschenkt hat, die aber schlechte Sohlen hatten. Protagonistin hat die Beißschiene zerbissen. Doktor Ludwig verschreibt ihr Physiotherapie bei einer Osteopathin. Spekulation, dass die Verkrampfung im Kiefer mit der fremden Sprache, das Deutsche, zu tun haben. Erinnerung an Onkel Ismail, der auf Albanisch in seiner Wohnung bestand, hat ihr Albanische Anekdoten als Büchlein vererbt. Ihr Albanisch ist nicht so gut. Erinnerung an Fasching, wie sie ohne Verkleidung in den Kindergarten kam. Die Schwester besorgt ihr schnelleine Clownsverkleidung. Zweite Vorlesung von Korner. Ihr gutes Deutsch rührt daher, dass sie nicht auffallen will – Angst vor der Vertreibung. Erinnerung an das rollende R, für das sie belächelt wurde. Erinnerung an Silvester 200 mit Onkel Fadil und Flaka und Blerta. VHS Kassetten über die Massaker an die Kosovo-Albaner. Findet VHS Kassette ihres Bruders über ihr zerstörtes Haus 1999 im Kosovo. Bei der Osteopathin. Blockaden sitzen zu tief. Besuch Kosovos mit den Eltern vor 1998. Demütigung des Bruders wegen der Reebok-Schuhe. Bild von der Protagonistin bei den Eltern, ein Kinderbild mit Micky-Maus-Pullover in Deutschland (einer der frühesten Erinnerungen). Erinnerung an die Freundschaft/Bekanntschaft mit einer Serbin Danila, Bruch wegen eines nationalistischen Liedes auf einer Party. Recherche über serbische Kriegsverbrechen. Fotos von Kosovo-Albanern mit V-Zeichen für gewaltfreien Widerstand (demokracija). Erinnerung an einen Ausflug mit einer Studienrendengruppe zum Kosovo nach dem Krieg. Streit um ein Geschenk an den Dozenten, das serbischen Ursprungs ist. 3. Vorlesung von Korner, über Fragebögen und Wege zur Identifikation, Zähne und Röntgenaufnahmen von Zahnärzten als hervorragende Quelle. Erinnerung an Gespräch mit Shpresa, die ihr von bemalten Eier erzählt, vom Krieg und einer serbischen Nonne und den Verdacht, dass die geschenkten Eier vergiftet sind. Die toten Schlangen, Schlange aber auch als Schutzpatronin. Besuch der Schwester in Hamburg. Erinnerung an Massenvergiftungen von kosovarischen Schulkindern. Elias holt die Protagonistin vom Museum ab. Legende von den zwei Königstöchtern, gemäß Ovid (Philomela und Prokne). Zitat von Ovid: „Noch bewegt sich heftig die Wurzel der Zunge, sie selbst liegt zuckend da und spricht zur schwarzen Erde undeutliche Worte. Und wie der Schwanz einer zerstückelten Natter gewöhnlich noch um sich schlägt, so zappelt sie und strebt sterbend zu der, der sie einmal gehörte.“ Erinnerung an Vater, der die Erinnerung in Folklore-Lieder aufbewahrt sieht, Verbot der Albanischen Sprache an den Schulen. Wieder beim Zahnarzt. Es gibt keine Besserung. Zahnarzt will sie für ein Projekt der Zahnärzte- und der Psychotherapeutenkammer vorschlagen. Elias und sie sprechen übers Zähneknirschen in der Cafeteria, vom Abwesenden zwischen ihren Zähnen. Erinnerung an Minenfelder im Kosovo. Gespräch mit Elias über das e mit den zwei Punkten. Vergleich mit Schwa-Laut. Diakritisches Zeichen (Zusatzbestimmung Umlaut, Akut, Tilde). Im Deutschen gibt es unbetonte Mittelvokale (bitt’e‘) oder Hos’e‘ – im Albanischen wird das extra bezeichnet mit ë. Sie fährt zurück in den Kosovo, sieht Plakate und hört, dass Den Haag gegen die UCK ermittelt. Sie besucht vorerst nicht die Cousine, sondern läuft durch Prishtina, sieht vor dem Regierungsgebäude die kosovarische Flagge und die der EU. ●Kurzfassung: eine Protagonistin in der Gegenwart in Deutschland leidet an ihrem heftigen Zahnknirschen und ihrer Unverbundenheit zu ihrem Heimatland Kosovo. Sie erinnert an die gewaltsame Vertreibung der Kosovo-Albaner durch die Serben, reist in den Kosovo und sucht ihre albanischen Wurzeln, metaphorisiert auch durch den Großvater. ●Charaktere: (rund/flach) – keine Charaktere vorhanden ●Besondere Ereignisse/Szenen: https://www.projekt-gutenberg.org/ovi... <-- Prokne und Philomela ●Diskurs: Politische Unabhängigkeit von Kosovo; Territorialkämpfe, Massenmord auf dem Balkan. … es ist klar, dass das Zahnknirschen, der Stress, den die Protagonistin auf die Zähne und den Kiefer ausübt, von ihrer Verstellung/Anpassung, ihrer gewaltsamen Selbstverwaltung stammt, der sie sich unterwirft. Es gibt mehrere Motive: Überanpassung, Unheilbarkeit des Zahnknirschens, das ë als diakritisches Zeichen, ähnliches eines Vokativs, das mit dem Schwa-Laut in Verbindung gebracht, ein stummer Vokal; und dann das letzte Bild, mit dem das Buch schließt, die Fahne des Kosovos neben derjenigen der EU. Alles läuft auf die prekäre Existenz des Kosovos hinaus, die labile Situation der Anerkennung insbesondere seitdem die UCK sich auch in Den Haag verantworten muss. Die Protagonistin leidet unter der Abhängigkeit von anderen, von deren Hilfe, darunter, dass die Hilfe jederzeit eingestellt werden kann, unter der gefühlt erzwungenen Anpassung, der sie sich unterwirft, ihre Sprache, ihre Herkunft verleugnend. In diesem Sinne wäre die völkische Souveränität, die Kosovo noch nicht erlangt hat, das, was fehlt, die Wurzeln, die sie sich zu erbeißen sucht (und dabei den Zahnschmelz zerstört). Der Kosovo hat noch keine eigene Stimme, und deshalb wirkt das Bild von der blauen EU Fahne neben der von Kosovo nicht hoffnungsvoll, sondern reglos, kalt und klirrend. … inhaltlich gibt es so gut wie keine Spannung und keinen Plot. Der Inhalt selbst, die Grausamkeiten des Krieges, besitzen hier keine literarische Funktion. --> 1 Stern
Form: ●Wortschatz: Alltagssprache mit einigen wissenschaftlichen Fachtermini ●Type-Token-Ratio: 0,174 (aber sehr kurz der Text) (Musil >0,25 - Genre < 0,1) ●Satzlängen-Verteilung-Median: 14,4 Wörter pro Satz, STAB 8,2. (bei Musil: 28 Wörter mit Standardabweichung (STAB) 19 Wörter) ●Anteil der 1000 häufigsten Wörter: 78% (Musil/Mann <70% - Genre >80%) ●Wortartenverteilung: (Musil/Mann: Adjektive 13%, Adverbien 7%) ●Verhältnis Nominal-/Verbalstil: starker Verbalstil ●Stimmige Wortfelder: ja, da nur Erinnerung, ohne jede Metaphorisierung ●Satzstrukturen: simpel ●Innovation: keine …. Der Text soll authentisch die Erinnerungen wiedergeben, das Trauma, die Heimat verloren zu haben, die Wurzellosigkeit nach einer Flucht. Schwierig von Stil zu reden. Es ist eher ein ausuferndes Gespräch. Der Text fließt aber. --> 2 Sterne
Erzählstimme: ●Eindruck: eine Ich-Erzählerin, deren Name nur indirekt als Jehona erschlossen werden könnte, spricht in Präsens über ihr Leben in Deutschland mit ihrem Lebenspartner Elias. ●Erzählinstanz (reflektiert, situiert, perspektiviert?): durch das Präsens im Grunde protokollartig, ohne Perspektivierung und Situierung, in den erinnernden Passagen beginnt das. Dort bleibt es perspektivisch, situiert und reflektiert, nur die Einbettung fehlt. ●Erzählverhalten, -stil, -weise: eher leidend, gebetmühlenartig, Hamsterrad ●Einschätzung: der Text besitzt kaum literarische Techniken, die eigene Erzählung mit Leben zu fühlen. Er wird anekdotenhaft, wie Perlen an einer Kette; manche Szenen intensiv, andere eher beiläufig. Es fehlt der Gesamtrahmen, das Zulassen, eine jedwede psychische Dynamik im Erzählverfahren. --> 1 Stern
Komposition: ●Eindruck (szenisch/deskriptiv/Tempiwechsel): im Grunde nur eine Sammlung von Erinnerungen. ●Extradiegetische Abschnitte: die Oviderzählung von Prokne steht etwas lose in Bezug, aber wird minimal eingebettet. ●Lose Versatzstücke: Die Übersetzung aus dem Kosovarischen, wie ein Lehrbuch, unnötig, da gedoppelt. ●Reliefbildung: kaum, die Kriegsgeschehnisse geben dem Text hier und da eine andere Dynamik. ●Einschätzung: Im Grunde keine Komposition. Es gibt eine Erzählgegenwart, in der die Protagonistin zum Zahnarzt, eine Osteopathin wegen ihres Zahnknirschens geht und eine Vorlesung über die Tote im Kosovo besucht, sowie mit ihrem Freund Elias redet, der sie von der Arbeit abholt. Am Ende reist sie erneut in den Kosovo. Um diese Fiber herum lagern sich Erinnerungen. Aber diese Erinnerungen stehen in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit dem Erlebten – auch das Zahnknirschen nicht. Bspw. hätte das Zahnknirschen plötzlich anfangen können, dann wäre die Protagonistin mit einem Unbewussten konfrontiert gewesen, das sie zu rekonstruieren hätte. Aber so ist es nicht. Sie hat sich zeitlebens mit dem Kosovo beschäftigt. Alles in ihrem Leben ist im Grunde nur Anlass, um über den Kosovo zu sprechen. --> 1 Stern
Leseerlebnis: ●Gelangweilt: ja, wegen der fehlenden Quellen- und Hintergrundinformationen ●Geärgert: wegen der ständigen Dopplung von aus dem Albanischen ins Deutsche übersetzten Texten ●Amüsiert: nein, das Thema ist zu schlimm ●Gefesselt: nein, es gibt keinen Plot ●Zweites Mal Lesen?: nein, denn das Buch erhebt keinen Anspruch an sich selbst, mehr als ein Pamphlet für ein unabhängiges Kosovo zu sein. --> 1 Stern
Der Buchstabe ë ist im Albanischen ein „Schwa“-Laut, also ein schwach betonter oder gar nicht ausgesprochener Vokal, ähnlich wie das letzte „e“ bei „Gedanke“. In verschiedenen, memoir-artigen Abschnitten, erzählt Jehona Kicaj in ihrem Debüt „ë“ von diesem Gefühl des Latenten, also etwas, das ähnlich wie dieser Buchstabe, zwar da ist, aber nicht ausgesprochen wird, nicht expliziert wird.
„Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“
Die Erzählerin, die als Kind aus dem Kosovo geflohen ist, die ihre Zähne im Schlaf so fest aufeinanderpresst, dass sie kaputt gehen, die etwas, was überhaupt nicht da ist, mit ihren Knochen quasi zermalmt, erzählt uns davon, wie sie diesem Leiden auf den Grund zu gehen versucht. Sie erzählt uns von ihrer Kindheit und Familie, besucht die Vorlesung einer Forensikerin, die menschliche Knochen „zum Sprechen“ bringt und so Opfer des Kosovokrieges identifiziert, besucht Orte, die so verwundet sind, dass man sie mit Erinnerungen zum Sprechen bringen muss, um sie nicht zu vergessen. Erzählt von der Notwendigkeit und Anstrengung, die eigene Stimme nutzen zu müssen, um nicht von Zuschreibungen von außen verschluckt zu werden.
„Im Grunde bedeutet Sprechen für mich noch heute Nachahmung; es ist bloß eine neu angeordnete Klangabfolge von dem, was ich vorher gehört oder gelesen habe. Und manchmal frage ich mich, wie viel von mir selbst in meinen Worten liegt, wenn ich sie ursprünglich von gezeichneten Bildern auf dem Bildschirm erlernt habe.“
Der Kosovokrieg und die vorherigen Angriffe, die Unterdrückung und Segregation, serbischer Nationalismus, die orthodoxe Kirche und die Bestrebungen auf ein Großserbien - Kosovar*innen und ihren Lebensrealitäten wird in Deutschland nicht viel Raum geboten. Umso schöner und beeinddruckender fand ich, dass der Sprachlosigkeit selbst etwas entgegengesetzt wird: In zahlreichen Dialogen sprechen Menschen, erzählen von ihren Erinnerungen an den Krieg und von ihren Gedanken und Meinungen zu verschiedenen Themen.
„M’doket e ke harru rrugën qysh me ardhë te na – ›Mir scheint, du hast vergessen, wie man zu uns kommt‹“
Auch der Sprache an sich gibt sie Raum. Sie denkt über das Verhältnis zu verschiedenen Sprachen nach, jenachdem, auf welche Weise man sie gelernt hat und welche Zuschreibungen sie von außen haben. Albanische Sätze werden oft ausgeschrieben (und anschließend übersetzt); man merkt, wie liebevoll Kincaj über das Albanische nachdenkt und wie sie versucht, diese Liebe an uns zu vermitteln, was mich als Leserin, obwohl ich diese Sätze nicht verstehe, emotional tief berührt hat.
„Manchmal frage ich mich, ob die Verspannungen in meinem Kiefer nicht auch auf die deutsche Sprache zurückzuführen sind. Ich bilde mir ein, dass meine Kiefergelenke an Tagen, an denen ich nur Albanisch gesprochen habe, weniger laut einrasten. Als hätte ich an diesen Tagen weniger Schmerzen. Wenn ich Deutsch spreche, habe ich das Gefühl, mein Kiefer müsste sich verrenken, um die Wörter auszusprechen, sie richtig zu betonen.“
Bei solchen Büchern fällt es mir schwer, Sterne-Bewertungen abzugeben, weil sie mir eben sehr memoir-haft und persönlich erscheinen. Was ich mir gewünscht hätte wäre, dass sich einige sprachliche Stilmittel, die am Anfang genutzt wurden, noch mehr durch das Buch gezogen hätten bzw. das Buch noch mehr angereichert hätten. Aber das ist nur eine kleine Anmerkung.
Ich empfehle ë für alle, die gerne etwas ruhigere, nachdenkliche und biografische Erzählungen lesen möchten.
"Im Kosovo richtet sich die Zeitrechnung nicht nach der Geburt Christi. Vergangene Jahre werden in zwei Zeitspannen unterteilt: vor und nach dem Krieg." (Seite 50)
Die Erzählerin in Jehona Kicajs Roman "ë" hat den Kosovokrieg Ende der 1990er Jahre nicht vor Ort miterlebt, ihre Eltern sind mit ihr und ihrer Schwester schon vor Ausbruch nach Deutschland geflohen. Und doch haben sich seine Folgen tief in sie eingegraben - so tief, dass sie seit ihrer Kindheit einen absolut verspannten Kiefer hat. Vor allem in der Nacht reiben ihre Zähne aufeinander, arbeiten sich aneinander kaputt, was im schlimmsten Fall zum Sprachverlust führen kann, wie ihr Zahnarzt sagt. Eine extra angefertigte Zahnschiene zerbeißt sie quasi sofort und selbst die Osteopathin ist in ihrem Fall ratlos.
In fetzenartigen Rückblicken spürt die Erzählerin diesem Schmerz nach. Sucht nach den wenigen eigenen Erinnerungen aus ihrer Kindheit im Kosovo, spricht mit ihrer Cousine, die während des Krieges selbst noch ein Kind war und horcht besonders aufmerksam, wenn ihre Eltern oder andere Verwandte Geschichten teilen.
Oft tun sie das nicht, denn der Krieg hat eine Sprachlosigkeit auf sie gelegt. Wie erzählen von der Grausamkeit des Krieges, von dem erlebten Trauma? Wie erzählen, dass albanisches Leben systematisch ausgelöscht wurde? Dass die albanische Sprache von den Serben verboten wurde, dass albanischen Angestellten wegen ihrer Nationalität gekündigt wurde. Dass albanische Kinder in der Schule vergiftet wurden, dass Menschen in Gebäude gepfercht und massenhaft erschossen oder in die Luft gejagt wurden? Wie erzählen von den Demütigungen durch serbische Soldaten, von der ständigen Bedrohung bei jeder Grenzkontrolle.
Jehona Kicaj findet fein gesetzte Worte und Bilder dafür. Ganz leise kommt ihr Roman daher, und doch mit solcher Wucht, dass er einen Abdruck beim Lesen hinterlässt. Die Sprachlosigkeit ist ein Hauptmotiv, dass sich durch den gesamten Roman zieht. Von dem Schweigen der Kriegstraumatisierten bis hin zur Hilflosigkeit der Erzählerin sich zwischen zwei Sprachen, zwei Identitäten einzuordnen.
"Manchmal frage ich mich, ob die Verspannungen in meinem Kiefer nicht auf die deutsche Sprache zurückzuführen sind. [...] Wenn ich Deutsch spreche, habe ich das Gefühl, mein Kiefer müsste sich verrenken, um die Wörter auszusprechen, sie richtig zu betonen." (Seite 73)
Als Kind lernt sie Deutsch mit Hilfe von Fernsehsendungen und gezwungenermaßen im Kindergarten und in der Schule. Immer wieder kommt es zu Missverständnissen, weil sie Wörter nicht kennt - später wird sie im Kosovo belächelt, weil ihr Albanisch so altertümlich klingt, weil sie es nur noch lückenhaft beherrscht. Spannend: Albanisch ist innerhalb der Sprachen des Balkans eizigartig, "bildet einen eigenen Zweig in der indogermanischen Sprachfamilie [...]. Wenn du es so willst, ist Albanisch isoliert." (Seite 109-110) Isoliert ist die Erzählerin auch durch das Unwissen und Unverständnis ihrer Mitmenschen. Immer wieder muss sie sich erklären und hat auch dafür lange Zeit keine Worte.
Gekonnt lässt Jehona Kicaj auch das Zahn-Thema immer wieder auftauchen: Die Erzählerin besucht eine Vortragsreihe, in der eine Forensikerin darüber spricht, wie sie im Kosovo Leichen untersucht hat und als verschollen geltenden Menschen an Hand ihres Kiefers - der so individuell wie ein Fingerabdruck sei - ihre Identität zurückgeben konnte.
Das alles fügt Kicaj so leichtfüßig, so gekonnt und teilweise poetisch zusammen, dass ich nur so durch dieses Buch gerauscht bin - und trotzdem oft innehalten musste, um das Gelesene zu verdauen. Ein starkes, wichtiges Buch, das mich angeregt hat, mich mehr mit der Geschichte des Kosovos zu beschäftigen und das einmal mehr vom Unmenschlichsten erzählt, wozu der Mensch fähig ist. Ich wünsche dem Roman dringend eine Shortlist-Platzierung!
Longlist des Deutschen Buchpreises # 9 Mein persönliches Ranking Platz 7 von 20
Und jetzt auch verdient auf der Shortlist!
(English below!)
ë ist ein wichtiges Buch auf der diesjährigen Longlist, weil es deutsche Leser dazu anregt, sich an die Gräueltaten im Kosovo aus der Sicht der Autorin zu erinnern, die aus einer albanischen Familie stammt, die vor Kriegsbeginn geflohen ist. Ich habe schon einige Bücher über den Konflikt und die Identitäten derer gelesen, die fliehen mussten (Stanišić, Sila), aber ë hat sich wie etwas neues gelesen. Der Roman mir einen Einblick gegeben, was Kriegstraumata bedeuten und wie diese Erfahrungen in Familien weitergegeben werden. Dennoch sind es für mich keine fünf Sterne - am Ende war ich sehr beeindruckt, aber literarisch nicht 100% überzeugt.
Zunächst einmal ist es ein tolles, kluges, Debüt, das sehr gut geschrieben ist. Ich habe den ganzen Roman an einem Abend gelesen. Er folgt der autofiktionalen Protagonistin Jehona, die wir beim Zahnarzt kennenlernen. Sie knirscht so stark mit den Zähnen, dass Splitter abbrechen – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie gestresst ist. Sie geht wiederholt zum Arzt und wird auch zu einem Osteopathen geschickt. Sie erzählt uns von Sprachen und Sprechen, von dem, was gesagt wird und was ungesagt bleibt, von ihrem Leben in Deutschland, ihren Besuchen im Kosovo und der Geschichte ihrer Familie. Nebenbei besucht sie auch einen Vortrag einer Forensischen Anthropologin, die daran gearbeitet hat, die Opfer des Völkermords im Kosovo zu identifizieren.
Die Bildsprache ist hier klar: Sprache, Stimme und Zähne stehen in direktem Zusammenhang. Die Protagonistin ist Linguistin, was der Erzählung in dieser Hinsicht Tiefe verleiht. Allerdings war der Roman mir vielleicht etwas zu kontrolliert, die Themen zu klar definiert. Vor allem die Erklärungen des Zahnarztes lesen sich wie Wikipedia-Artikel. Vielleicht habe ich den falschen (richtigen?) Zahnarzt, aber meiner redet nie so. Diese Figur soll den den Zusammenhang zwischen den Zähnen und dem Trauma der Protagonistin sehr deutlich machen, und das wirkt doch sehr gewollt. Und immer wieder gab es Dialoge, die nicht ganz real klangen. Aus dem gleichen Grund bin ich mir bei der Vorlesung etwas unsicher – sie war zwar interessant, schien aber eher als Informationsdump und Verankerung für einige der Erinnerungen zu dienen. Ich habe die Szenen gerne gelesen, und mich auch gut informiert gefühlt, aber es war wenig subtil.
Das ist vielleicht der größte Punkt: Ich hatte den Eindruck, dass jedes Element von ë bedeutungsvoll sein musste. Jede Anekdote und jede Geschichte bekräftigte dieselben Punkte. Ich halte diese Punkte für wichtig und relevant, aber manchmal hätte ich mir mehr Nuancen und kritische Selbstreflexion gewünscht. Im Laufe ihres Lebens scheint die Erzählerin nie jemanden getroffen zu haben, der Empathie oder Verständnis für sie hatte – nicht die Lehrer, die nicht begreifen können, dass ein Grundschulkind den Konflikt im Kosovo nicht wirklich verstehen, geschweige denn artikulieren kann, und die auch nicht über die tiefgreifenden Unterschiede zwischen der serbischen und der albanischen Identität informiert sind. Selbst der Freund existiert nur am Rande dieser Erzählung, und scheint hauptsächlich da zu sein, um betroffen zu sein/die Protagonistin nicht ganz zu verstehen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Situationen real sind, und möchte auch keine Geschichtsklitterung - aber ganz echt fühlt sich diese Figur nicht an, weil das ganze Leben dasselbe zu erzählen scheint. Dabei steckt schon viel drin, und man kann die Figuren und Situationen auch anders lesen - doch ganz passt das auch nicht.
Es wird impliziert, dass andere diese Erlebnisse nicht verstehen können – was absolut legitim ist –, aber die Erzählerin reflektiert nie ihre Position als jemand, die sich selbst nicht an den Krieg erinnert, aber später Videos und Bilder davon gesehen hat. Jemand, der traumatisiert ist, aber in der Diaspora lebt. Irgendwie fehlte mir da was - es war eine richtig gut gemachte Eindeutigkeit, aber sie war mir am Ende vielleicht etwas unterkomplex.
Aber das ist eine Kritik an etwas, das bereits sehr gut funktioniert. Ich finde, Kicaj hat ihren Platz auf der Longlist verdient, und ich hoffe, dass ihr Roman es auch auf die Shortlist schafft.
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German Book Prize Longlist #9
ë is an important book on this year's longlist because it encourages German readers to remember the atrocities in Kosovo through the eyes of the author, who is from an Albanian family that fled before the war began. I haven't read many accounts like this and it has opened up a window into what war trauma means and how these experiences are written into families. Yet I am struggling to give it five stars. I wanted to love it, but I was more impressed than drawn in.
Firstly, this is an erudite and substantial debut, and it is very well written. I read the whole novel in one evening. It follows the autofictional protagonist, Jehona, whom we meet at the dentist. She grinds her teeth so hard that slivers fall off — a clear sign that she is stressed. She repeatedly visits the doctor and is also sent to an osteopath. She tells us about languages, what is said and what is left unsaid, her life in Germany, her visits to Kosovo, and the history of her family. Incidentally, she also attends a lecture by an anthropologist who worked to identify victims of the genocide in Kosovo.
The imagery here is clear: language, voice and teeth are directly related. The protagonist is a linguist, which lends the narrative depth in this respect. However, perhaps the novel was a little too controlled, with the themes being too clearly defined. The dentists' explanations especially read like Wikipedia articles. Perhaps I have the wrong dentist, but mine never talks like that. This character rarely sounded like a real person, but served to make the connection between her teeth and her trauma very clear. Some of the dialogue between other character also sounded a bit artificial. For the same reason I am a bit unsure about the lecture - while interesting, it seemed to serve as a bit of info-dump + ankering for some of the memories. I did like it, I think, but it fuelled the feeling of too-tight-control in the story telling.
Moreover, I had the impression that every element of ë had to be significant. Every anecdote and story reinforced the same points. I think these are important and relevant points, but sometimes I wished for more nuance and critical self-reflection. Throughout her life, it seems that the narrator has never encountered anyone with empathy or understanding for her — not the teachers, who are unable to grasp that a primary school child cannot truly comprehend, let alone articulate, the conflict in Kosovo, and are also uninformed about the profound differences between Serbian and Albanian identities. Even her boyfriend merely exists on the periphery of this narrative, and is mostly there to to be concerned, distressed and yet not overly understanding. Don't get me wrong; I have no doubt that these situations are real, but there seems to be nothing else.
There is an implication that others cannot understand — which is absolutely legitimate — but the narrator never reflects on her position as someone who does not remember the war, yet has seen videos and pictures of it afterwards. Someone who is traumatised, but lives in diaspora. Maybe opening up her experiences and showing us different things could have helped to roughen the narrative up? The novel is very well constructed, but I would have liked it to be a little less sleek and a little more ambiguous.
But that is complaining about something that already works really well. I think Kicaj deserves a place on the longlist, and I hope her novels goes on to the shortlist.
Um die Ursache ihres extremen Zähneknirschens zu erforschen, geht die Protagonistin auf Spurensuche in ihrer Vergangenheit: Als Kind flieht sie mit ihrer Familie vor dem Krieg in Kosovo, in ihrer neuen Heimat Deutschland wird sie mit Rassismus, Diskriminierung und einer neuen, schweren Sprache konfrontiert. Das Ganze ist sehr szenenhaft erzählt, wechselt zwischen Gegenwart und den Erinnerungen aus der Vergangenheit und verknüpft dabei immer wieder Überlegungen zu Sprache, Sprechen und allem, was damit zusammenhängt. Ein sehr beeindruckendes Debüt.
Anfang der 90er Jahre wandert die Protagonistin von „ë“ mit ihren Eltern aus dem Kosovo nach Deutschland aus. Ihr späteres Leben in der Diaspora soll geprägt sein von einer doppelten Sprachlosigkeit, die sie zutiefst belastet. Einerseits hat sie Schwierigkeiten in ihrer neuen Heimat sprachlich und kulturell Fuß zu fassen. Andererseits gehen in ihrem eigentlichen Heimatland grauenhafte Dinge vor sich, über die in Deutschland und in ihrer Familie kaum jemand spricht. Als Erwachsene macht sie sich auf die Suche, die Sprachlosigkeit endlich in Worte zu fassen.
Das „ë“ ist ein albanischer Buchstabe, der oftmals nicht ausgesprochen wird. Er steht bei Jehona Kicaj stellvertretend für die oben beschriebene Sprachlosigkeit, für das Unausgesprochene. Wie schmerzhaft so eine komplexe Sprachlosigkeit physisch und psychisch sein kann, verdeutlicht sie in ihrem kurzen Roman sehr eindringlich. Die Protagonistin beißt sich daran faktisch die Zähne und ihr Kiefergelenk aus. Kicaj schreibt sehr direkt und schnörkellos. Keine Sekunde lässt sie bei den Leser*innen Zweifel über das aufkommen, was sie transportieren möchte. Und hierin besteht für mich die einzige Schwäche dieses sehr lehrreichen und starken Textes. Ein Buch, in dessen Zentrum die Sprachlosigkeit steht, sollte einem nicht alles vorkauen und vordenken. Die eine Ebene der Sprachlosigkeit, die der Protagonistin in einem Deutschland, das sehr wenig über sie und ihren Hintergrund weiß und wissen will, fand ich sehr gelungen. Kicaj transportiert diese Erfahrungen mit kleinen Anekdoten, die sehr berühren. Hier steht der Text exemplarisch für Migrationshintergründe im Allgemeinen. Die zweite Ebene, die die Ereignisse des Kosovo-Kriegs betreffen, die die Protagonistin nur aus der sicheren Entfernung verfolgt, die bis heute nicht gänzlich aufgedeckt sind, werden sehr vortrags- und dokumentationsartig präsentiert. Ich habe hier einiges gelernt, aber literarisch wirkte der Text an diesen Stellen dann etwas unrund. Untermalt ist der ganze Roman von sehr viel Bitterkeit und Moral, was bei dem Sujet durchaus nachvollziehbar ist. Ich habe „ë“ sehr schnell gelesen und viel dabei gelernt. Der Deutsche Buchpreis für dieses Werk wäre ein toller Beitrag zur weiteren Aufklärung der Vebrechen im Kosovo und auch in anderen Ländern des Balkans. Eine große Leseempfehlung!
Gewöhnlich lese ich Essays dieser Art nicht, zumal heutige Bücher dieser Art fast immer nur Musterbeispiele verkleideter, maskierter Reklame politischer Vorstellungen und geschichtsreviosionistischer Bestrebungen sind. Doch es kam als Geschenk daher, also musste ich mal eben die 160 Seiten durchlesen und fand genau das, was ich erwarten durfte; unter Verwendung moderner Methoden wird eine streng einseitige, doch gespielt opferreiche Perspektive zu einem Thema geboten, bei dem der Leser auf Kurs gebracht werden soll - früher nannte man solche Essays schlicht Propaganda, heute Aufklärungskampagne, oder eben "Roman".
Von einem Roman kann kaum die Rede sein, indessen wohl eine beliebte Methode sogleich angewandt wird: langatmige Allegorien auf die Zähne der Ich-Erzählerin, die an Bruxismus leidet, soll unmittelbar das Wohlwollen der Leser finden, indem unnötig-umständlich darlegt wird, wieso sie darunter leidet. Die arme Frau hat nämlich, oh Überraschung, seit jeher unter Verspannung und Stress zu leiden, da sie sich stets nur anpassen musste. Das kennt man alles, nur geht es eben diesmal um eine aus dem Kosovo stammende Albanerin, die mit diesem Essay um jeden Preis die vollständige, internationale Anerkennung des Kosovo erreichen will. Doch ach, es ist alles ziemlich doof; die UCK muss sich jetzt auch noch für ihre Verbrechen verantworten, dabei sind doch die Serben die Bösewichte - waren sie doch genötigt militärisch im Kosovo einzugreifen und ihre Eltern an irgendeiner Grenze (denn eine Grenze zwischen Kosovo und Serbien gab es damals nicht) mit langen Durchsuchungen zu demütigen. Die bösen Serben zwangen die Ich-Erzählerin doch tatsächlich auch noch in Jugoslawien eine slawische Sprache zu lernen, obgleich sie doch Albanerin ist. Das ist laut moderner Definition Nötigung zur Kulturentfremdung. Dann die VHS Aufzeichnungen zu serbischen Gräueltaten, die angebliche Massenvergiftung albanischer Kinder, usw.; Hauptsache der Leser zeigt mit dem Finger auf die Serben die ohne jeden Grund mal eben militärisch eingreifen mussten, weil sie einfach mal eben so den Kosovo von den Albanern säubern wollten.
All das und noch mehr wird wie in einem Hamsterrad heruntergeleiert damit der Leser versteht, wer hier die Guten und wer die Bösen sind. In der Tat geht alles so leger zu, der Zweck dieser ermüdenden Geschichte wird nur allzu rasch deutlich. Die arme Ich-Erzählerin leidet jedenfalls ganz viel an Zähneknirschen durch all das und ihrer Suche nach Identität. Sprachstil? Alltäglich langweilig. Anekdotenhaft werden richtig schlimme und weniger schlimme Szenen vorgeführt, alles aus dem Motiv heraus, Opfer und Täter, Gut und Böse ins Rechte Licht zu rücken, dabei studiert die Hauptfigur doch Philosophie. Doch geschieht dies alles sehr plump und für den Geschichtskenner des Balkans nur allzu verlogen. Geschichte soll hier wie bereits erwähnt umgeschrieben werden und soweit ist das auch nichts neues, nur ist hier die Scheinheiligkeit und Maske zu offenkundig.
Mit keinem Wort erwähnt Frau Kicaj den tatsächlichen Hergang der geschichtlichen Ereignisse, wie etwa die Massenmigration der Albaner auf dem Kosovo, also des damaligen Serbien, am Anfang des vorigen Jahrhunderts und später in den 60er Jahren, die darauf folgende hohe Geburtenrate der Albaner, ebenso wenig die überwiegend freundliche Hand die die Serben ihnen damals gewährten. Alles nie passiert. Die anschließende dekadenlange Ansiedlung albanischer Familien auf dem Kosovo, welches irgendwann notwendigerweise zu Spannungen führen musste, insbesondere als die Albaner irgendwann meinten Serben im Kosovo gewaltsam aus ihren Häusern zu vertreiben und Kirchen anzuzünden, ist ebenfalls nur Mythos. Die später offen zugegebene Lüge jedoch, Serbien hätte "KZ"s für Albaner gebaut findet hier tatsächlich Erwähnung.
Aber man stelle sich vor, die Türken würden irgendwann in Hessen die Mehrheit bilden und anfangen Deutsche mörderisch zu vertreiben und die Unabhängigkeit von Deutschland zu verlangen und der deutsche Staat reagiert mit der Entsendung von Truppen die bis ans Äußerste gehen. Wer wäre hier dann Gut, wer Böse?
Glaubt überhaupt jemand dass die serbischen Gründe für einen gewaltsamen Militäreinsatz im eigenen Land ohne allen Grund geschah, einfach nur aus Willkür und Machtmissbrauch? All das und noch mehr ignoriert die Ich-Erzählerin konsequent, obgleich auch sie annehmen kann, dass es geschichtskundige Leser geben wird, die ohnehin wissen dass auch die Albaner keineswegs so lammfrom und lieb sind wie sie sich stets darstellen. Tatsächlich ging der erste Akt der brutalen Gewalt, historisch gesehen von ihnen aus. Die darauffolgenden Ereignisse und Angriffe der serbischen Armee gehen auf die oben genannten, nicht gerade kleinen Provokationen zurück.
All das überrascht gleichwohl wenig. Ich persönlich habe viele Albaner und Serben kennengelernt, viele Serben die die serbische Gewalt gegenüber den Albanern nie verleugnet haben, aber noch nie einen Albaner der die albanische Gewalt gegenüber Serben gestanden hat, die erwiesenermaßen genauso schlimm war und die auf systematische Weise zuerst und großflächig stattfand.
Figuren gibt es außer Jehona und Elias praktisch gar keine, gleichsam lassen sich unzählige, unnötige Seiten finden in denen Frau Citaj zuerst das albanische und dann die deutsche Übersetzung zitiert, nur um dann anschließend ellenlang über ihre Zähne zu allegorisieren, damit wir auch ja ihren Schmerz fühlen. Doch wenn der Autor Platz für ein Buch mit Kitsch anreichern muss sollte man sich die Frage stellen, inwiefern das ganze Buch überhaupt lesenswert ist. Wer komplexe politische, soziale und historische Ereignisse unbedingt und ehrlich in ein Roman packen will, der muss gewiß nicht unzählige persönliche Anektoden anführen nur um Sympathie zu erregen, sondern gewissenhaft und außerhalb des Gut-Böse Spektrums einen Hergang erzählen, der gleichsam kritisch und reflektiert mit der eigenen historischen Schuld ist.
Rückwärts nimmer, vorwärts immer! Kurzmeinung: Versuch einer Herkunftsbewältigung. Die Erzählerin muss zum Zahnarzt: es stellt sich heraus, dass ihre Erinnerungen an ihre Herkunft ihr zusetzen, so dass sie nachts und auch tagsüber so stark mit den Zähnen knirscht, dass ihr Kiefer ernsthaften Schaden nehmen wird, wenn sie nicht lernt, sich zu entspannen. Denn alle Zahnarztkunst kann ihr nicht helfen. Das Schreiben dieses Buches soll bei der Bewältigung der Vergangenheit helfen. So habe ich es verstanden. So weit ist es gut, aber das ist privat und nicht literarisch genug.
Der Kommentar und das Leseerlebnis: Ë ist ein autobiografischer Roman, dennoch Roman, nicht Autobiografie: Die Erzählerin kommt deutlich vor dem Vorschulalter aus dem Kosovo, genauer gesagt, aus Albanien nach Deutschland, denn ihre Eltern fliehen vor den Nachwirkungen des Kosovokrieges. Der Kosovokrieg war ein bewaffneter Konflikt in den Jugoslawienkriegen um die Kontrolle des Kosovo vom 28. Februar 1998 bis zum 10. Juni 1999. Diese Information muss man nachschlagen, falls sie einem nicht geläufig ist, für die Erzählerin ist dieser Krieg „der (einzige) Krieg“ schlechthin und wird stets auch so benannt, und von der Autorin selbst wird dieses Wissen einfach vorausgesetzt, ist es doch dieser Krieg, der ihr Leben und das ihrer Verwandtschaft aufs Entscheidendste verändert hat. Niemals ordnet sie ihn ein in das Gesamtweltgeschehen. Dabei hat sie Abitur und erfolgreich sogar in einem humanistischen Fach ein Studium absolviert, wäre dazu also in der Lage. Diese Nichteinordnung erhebt den teilweise erlebten Krieg eben als den Krieg schlechthin und stört mich auf litarischer Ebene massiv.
Die Erzählerin besucht nach ihrem Studium ihre albanische Heimat öfters und berichtet von dem, was dort geschah. Und davon, dass sie keine Heimat mehr hätte. Was daran liegt, dass sie sich keine neue Heimat schafft, was schon ihr gespanntes, etwas affektiertes Verhältnis zur deutschen Sprache illustriert. Natürlich ist der Roman eine Art Zeitzeugnis mit Sachbuchanteilen sogar, aber am ehesten eben das, eine private Bewältigung von Heimatverlust hauptsächlich ausgerichtet auf Familienebene. Was man aus der Gegenwart erfährt, ist nicht eben viel, einige Vignetten aus Kindergarten und Schule. Ein paar Sentenzen über die Sprachlosigkeit der Erzählerin, über ihre albanische innere Heimat. Ein Seufzen darüber, dass Albanisch eine einzigartige Sprache ist. Ein Seufzen darüber, dass in ihrem Pass, „serbisch“ steht, obwohl die Serben ja ihre Feinde gewesen sind. Und eine Erinnerung daran, dass serbische Kommilitonen sie schneiden, wenn sie sich als Albanierin outet. Aber ist sie das noch? Warum steht in ihrem Pass inzwischen nicht „deutsch“, wenn sie das Serbische so hasst.
Seltsamerweise hat mich dieser Text überhaupt nicht gepackt. Ich finde ihn meistenteils zu wenig allgemeingültig, zu wenig generalisierend. Zu wenig reflexiv. MIr fehlt eine neutrale Perspektive. Der historische Kontext. Ich mag auch diese Rückwärtsgewandtheit gar nicht. Man kommt nie an, wenn man den Kopf nicht mit nach vorne nimmt. So habe ich den Text mehr als Tagebuch empfunden denn als Zeitzeugnis. Einseitig dazu. Verständlicherweise. Soweit ich die persönliche Ebene des Romans betrachte, ist alles in Ordnung. Aber muss ich das lesen? Das literarische Klagen, nicht das persönliche, über zerstörte Heimat habe ich nachgerade über. Heutzutage ist das kein Einzelschicksal mehr und es ist eben nicht einzigartig genug für einen Roman. An was die meisten Herkunftsromane leiden, und dieser hier macht keine Ausnahme, ist ihre Orientierung „an den anderen“, also an den sogenannten normalen deutschen Spießbürgern, die an dem Ort wohnen, an dem sie aufgewachsen sind oder zumindest zu ihm zurückkehren können, wenn sie wollen und ihn dann unversehrt vorfinden. Als Beispiel nennt die Erzählerin ihren Freund Elias, der 19 Jahre lang im selben Zimmer bei den Eltern lebte. Dort ist seine Jugend. Dorthin kann er gehen, wenn er sich erinnern will. Beneidenswert. (Vielleicht. Vielleicht auch nicht). Ja. Aber. Es kommt halt immer darauf an, mit wem man sich vergleicht. Denn diese statische Bevölkerungsgruppe ist im Schwinden. Und ihr steht eine sehr große Anzahl anderer Gruppierungen gegenüber, deren Heimat ebenfalls „weg“ ist. Aus unterschiedlichsten Gründen. Bleibt die Aufgabe, sich eine neue zu schaffen und den Kopf endlich nach vorne zu nehmen.
Fazit: Kosovokrieg. Ja, schrecklich. Ein Zeitzeugnis? Trotz sachbuchähnlicher Einschübe nur bedingt. Erinnerungen an echte Schrecken und Gräuel natürlich, die quälen. Der Aufarbeitungsversuch ist nachvollziehbar. Aber als Leser bin ich nicht Psychologe weder der Erzählerin noch der Autorin. Ich lese dann lieber ein Sachbuch über den Kosovokrieg, in dem es eine analytische, keine rein private Aufarbeitung gibt.
Kategorie: autobiographischer Roman. Verlag: Wallstein, 2025 Auszeichnungen: Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2025
Ich habe Respekt vor dem, was die Autorin hier darstellt: Die Sprachlosigkeit angesichts der Unwissenheit und Ignoranz der Mitmenschen bzgl des Kosovo-Krieges und seinen Folgen.(daher die 3 Sterne)
Man lernt viel aus diesem Buch, nicht nur über den Krieg, sondern auch wie es ist, als Kind einer traumatisierten Familie in Deutschland aufzuwachsen.
Doch am Ende bleibt doch eine gewisse Ratlosigkeit und Bedauern, dass das Buch ausgerechnet auf der Shortlist des DBP stand. Für mich hatte es mehr einen dokumentarischen und weniger einen literarischen Wert.
Ein wirklich tolles Erlebnis, dieses Buch zu lesen. Ich habe Schmerzen in Kiefer deswegen, habe das Gefühl keine Worte zu haben. Ich konnte mit der Protagonistin so mitfühlen. Echt toll.
Das Buch hat mich sehr beeindruckt. Es ist so "still und leise" wo es doch von den Grauen des Kosovo Kriegs erzählt und von den Erlebnissen der kleinen Jehona in den 90er Jahren im für sie fremden Deutschland. Viele kleine Alltagserlebnisse, die mich sehr berührt haben. All das macht mich nachdenklich, ich merke, dass ich beschämend wenig über den Kosovo Krieg weiß und ich nehme mit, dass man genau hinhören muss. Besonders der Teil über die Studienreise, hat mich dahingehend sehr bewegt.
Danke an NetGalley und den Verlag für das Leseexemplar.
Ich bin im Moment auf der Mission, ein paar Bücher zu lesen, die für den Deutschen Buchpreis nominiert sind oder waren (in diesem Fall sind). Bei diesem hat mich der Klappentext sofort angesprochen - es geht um Sprache, um Identität, um Sprachlosigkeit. Das alles fand ich schon vor Beginn der Lektüre unglaublich spannend.
Das Buch ist sehr episodisch erzählt, was mir sehr gefallen hat. Es geht hier um so viel, um das persönliche Schicksal der Erzählerin, die aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen ist und ihre Geschichte erzählt. Sie muss regelmäßig zum Zahnarzt nachdem sie eines Morgens mit einem Zahnsplitter im Mund aufwacht, weil sie mit den Zähnen knirscht. Diesen Zahnsplitter im Mund sehe ich sinnbildlich für das ganze Buch: es ist wort- aber auch bildgewaltig und reißt mit.
Die Definition von Identität, besonders im Rahmen von einem Konflikt wie dem im Kosovo, war äußerst Gedanken anregend. Die geschilderten Geschichten aus dem Krieg waren schwer zu lesen und es hat mir als Deutschem nur wieder vor Augen geführt, wie privilegiert und unberührt wir in Westeuropa sind. Ich hatte nur oberflächliches Wissen über den Kosovo und was dort Ende der 90er passiert ist, daher war das Buch sehr Augen öffnend und ich werde jetzt mal noch Zeit in eine weitergehende Recherche stecken, um mich weiterzubilden.
Außerdem war natürlich auch ein zentrales Thema der Verlust von Heimat, beziehungsweise eine Verhandlung darüber, was Heimat bedeutet und in welchen Formen man ein Heimatgefühl verspüren kann.
Insgesamt war ich gefesselt von dieser Geschichte, das episodenhafte Erzählen hat mir sehr gut gefallen und der rote Faden von dem Beginn mit dem Stück Zahn-/Knochensplitter im Mund hin zu den Gebissabdrücken, anhand welcher Leichen identifiziert werden können, und so viel mehr, das damit in Verbindung steht, haben die Lektüre sehr interessant gemacht. Definitiv weiterzuempfehlen!
ë verhandelt albanisch-kosovarische Postmigration auf eine bekannte und doch innovative Weise. Der Protagonistin bleibt in Deutschland meist nur das Schweigen, da ihr das Sprechen auf Deutsch über Identität und Geschichte psychische und körperliche Schmerzen bereitet. Ein bekannter Topos, den Kicaj trotzdem neu erzählt. Ich hätte gerne noch mehr über die Protagonistin und ihre Familiengeschichte erfahren, da mir der Roman an manchen Stellen zu fragmentarisch bleibt.
eindrucksvoll und sprachlich interessant erzählt dieses buch vom (er-)leben der autorin in der diaspora während des kosovokriegs ende der 1990er-jahre bis in die gegenwart. aus „sicherer entfernung“ erlebt sie einen krieg, der sie durch die erzählungen und erfahrungen ihrer familienmitglieder, die noch vor ort leben, unmittelbar mit dem tod, roher zerstörung und transgenerationalem trauma konfrontiert.
gleichzeitig beschreibt das buch das ankommen und aufwachsen in einem deutschland, das der autorin häufig mit ahnungslosigkeit oder zuschreibungen begegnet.
das buch hat mich sehr bewegt, auch wenn es mich nicht auf jeder seite gleichermaßen gepackt hat.
Der Roman beginnt beim Zahnarzt: Die Ich-Erzählerin leidet unter Bruxismus, einer starken Form des Zähneknirschens, mit dem sie ihre Biografie verarbeitet. Sie ist als Kind vor dem Krieg im Kosovo nach Deutschland geflohen, doch der Verlust der Heimat, die Sprachlosigkeit in der Fremde, das Trauma von verlorenen Menschen nagt an ihr und ihrer Familie. Sie beschreibt Szenen in Deutschland, in denen sie sich missverstanden und ignoriert fühlt, niemand scheint ihr Trauma so richtig ernst zu nehmen. Daneben reist sie später nach Ende des Krieges regelmäßig in den Kosovo, erzählt dann nach, was dort passierte. Dabei wird das Motiv der Zähne nicht nur beim Bruxismus, sondern auch in Form der forensischen Anthropologie aufgegriffen.
Ein autobiografischer, collageartiger Roman, der eine weitere Facette des Jugoslawienkonflikts aufgreift und von Verlust von Heimat, Trauer, Wut und Identität erzählt. Der Autorin gelingt es für meinen Geschmack nur bedingt, dies in eine mitreißenden Form umzusetzen. Zu fragmentarisch der Text, zu viel Nacherzähltes, es gibt keine wirkliche Handlung, die weiteren Figuren bleiben blass, selbst die Erzählerin gibt abseits ihres Traumas wenig von sich preis. Dennoch sicherlich mit einigen starken Momenten und Passagen. Im Vergleich zu einem thematisch ähnlichen Werk hat mich beispielsweise „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila erheblich mehr beeindruckt.
Ach ja... sehr schöne Sprache, entschleunigtes Pacing, feinfühlige Beobachtungen und Themen und Positionen, die ich noch nicht auf dem Schirm hatte und wo ich einiges lernen konnte.
Irgendwie hat es mich teilweise aber etwas gelangweilt bzw. konnte ich mich nicht so richtig auf den Vibe einlassen. Es ist auch kaum was hängen geblieben, während des Lesens schon. Also ich könnte jetzt nicht wirklich irgendeine konkrete Szene aus dem Buch nacherzählen. Liegt vermutlich daran, dass ich das in einer sehr hektisch-stressigen Lebensphase gelesen habe und ein so langsames Buch da einfach irgendwie nicht passt. Und es ging mir ein bisschen zu viel um Zähne.
Ein gutes Buch über Sprache und Sprachlosigkeit. Erzählt vom Kosovo-Krieg anhand vieler Begegnungen und Zeitsprüngen. Der Zahnarztteil war mir zu offensichtlich, das hat mich immer wieder rausgenommen.
Ein bärenstarkes Debüt! Eine messerscharfe, hoch poetische Sprache zeigt uns, wie Traumata vererbt werden können, welche sichtbaren und unsichtbaren Spuren Gewalt in den Menschen hinterlässt und ist zugleich auch noch eine hoch interessante, intensive und lehrreiche Lektüre über einen innereuropäischen Konflikte, dem hierzulande viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde und wird. Ich hoffe, dieses Buch kann und wird daran etwas ändern. Die Autorin legt jedenfalls einen zutiefst beeindruckenden, sprachlich sich auf höchstem Niveau bewegenden, virtuosen Text vor, der den Eindruck erweckt, dass wir von dieser Autorin noch viel zu erwarten haben.
Fazit: Ein kurzer Text, aber mit was für einer Wucht und Kraft. Unbedingte Leseempfehlung meinerseits! Stark!
Mir fällt es schwer eine Bewertung in Sternen abzugeben. Ich habe mir mit der Lektüre schwer getan. Es fehlte an Vorwissen und das fragmentarische Schreiben irritierte mich. Kaum war ich in einer Szene angekommen, wechselte sie unvermittelt und ich wurde mit neuen Schnipseln konfrontiert, die häufig völlig zusammenhangslos hintereinander gehängt waren. Ich fühlte mich wie ein ahnungsloser Spielball hin und hergeworfen. Auch empfand ich die Ich-Erzählerin in ihrem ganzen Schmerz, ihrem Trieb nach Informationen und ihrer gleichzeitigen Sprachlosigkeit nicht sehr nahbar.
Erst als ich nach Beendigung des Buches einen Interview mit der Autorin hörte, verstand ich, dass viele meiner Emotionen und widerstreitenden Gefühle genauso gedacht waren. Das Buch zeigt die kollektive (deutsche) Unwissenheit über den Kosovokrieg auf und füllt eine Lücke, von der ich gar nicht wusste, dass sie existiert. Die Fragmente der Erzählung zeigen eine Zerrissenheit der Kultur derjenigen, die den Krieg hautnah miterlebten, aber auch die Bruchstückhaften eigenen wie fremden Erinnerungen der Nachkriegsgeneration.
Die exilkosovarische, albanischstämmige Erzählerin reiht Geschehnisse aneinander, die zunächst zusammenhanglos, wenn auch immer bedeutsam erscheinen. Bald schon aber baut sich ein fast geschlossener Kanon aus Motiven und Figuren auf: Zahnmedizin und Zahnforensik, Münder und Zungen, Sprachlosigkeit und Sagbares, Gesagtes und Ausgeschlossenes, Identität und Abgrenzung, Fremd- und Selbstzerstörung. Dabei bleiben die Gräuel des Kosovokriegs jederzeit präsent, auch und gerade, wenn die Anekdoten von etwas anderem handeln; vergleichbar dem permanent wirkenden, aber selten bewussten Kiefermahlen und Knirschen der Erzählerin.
Und dabei liest sich das Buch trotzdem schnell und flüssig und baut einen Sog auf, der fast ohne dingfest zu machende Handlung wirkt. Sehr empfehlenswert, wenn auch ziemlich kurz - man hat am Ende nicht das Gefühl, dass hier schon Ende sein müsst.