Da ist diese Zeit im Leben, in der sich die Abschiede hä von Träumen, Gewohnheiten und Gewissheiten, von Vertrauten, Partnerinnen, Freunden – und von jenen Menschen, die uns geprägt und am längsten begleitet haben, unseren Eltern. In dieser Lebensphase löst sich die Zuversicht auf, dass alles weitergehen werde wie bisher. «Am Schreibtisch meines Vaters blicke ich mich um. Hinter mir die Lateinbücher, Cicero, Vergil, Cä Der Gallische Krieg. Blicke ich nach vorne, sehe ich Fotos von Jutta und mir. Ich sehe den Spruch an der Wand, den er Wenn die Kinder klein sind, gib ihnen ein Nest; sind sie groß, gib ihnen Flügel. Und ich denke zurück und nach vorn und Trauer gehört zum Leben, weil Abschied zum Leben gehört. Beides ist Teil der menschlichen Erfahrung, es gibt kein Leben ohne Abschied und Trauer. Sei dankbar, für alles, für die gesamte menschliche Erfahrung, lasse sie also zu, und nimm dir Zeit, und nimm die Abschiede und die Trauer wahr und nimm sie an, denn nur so kannst du das ganze Leben wahrnehmen und annehmen und leben … Trauer ist nichts Schlimmes, Trauer ist unsere Antwort auf etwas Schlimmes.»
Der ehemalige Chefredakteur des SPIEGEL Klaus Brinkbäumer erzählt aus der Zeitspanne zwischen der Demenzerkrankung seiner Mutter und dem Tod seines 90-jährigen Vaters 2024. Unterbrochen wurde diese Zeit von der Corona-Pandemie, während der der Autor und seine Frau ihren Lebensmittelpunkt in New York hatten und in der dort ihr Sohn geboren wurde. Der Kontakt zu den betagten Eltern ist während der Pandemie geprägt durch den Zwang zu skypen und nach der Rückkehr durch das Kontaktverbot zum kleinen Alexej, von dem als Kitakind ein erhöhtes Infektionsrisiko befürchtet wird. In die Zeit der Rückkehr aus den USA nach Deutschland fällt der Tod von Brinkbäumers Mutter. Der Autor verarbeitet mit dem Buch seine Trauer und das Hadern darüber, dass nötige Entscheidungen über Hilfen für seine Eltern stets zu spät getroffen wurden und vermutlich der Erkrankung seiner Mutter nicht gerecht wurden. Charakteristisch für Demenzerkrankungen ist ja, dass man die frühen Anzeichen erst rückblickend erkennt, nachdem eine Diagnose gestellt worden ist.
Die Lebensläufe seiner Eltern, von denen als Bauernkindern erwartet wurde, durch Heirat „eine gute Partie zu machen“, zeigen jedoch eine charakteristische Logik, in die nur schwer einzugreifen war, solange die Personen noch eigene Entscheidungen treffen konnten. Vater Brinkbäumer, der bewusst nicht Melken lernte, weil er Lehrer werden wollte und nicht Bauer, konnte auf ein erfülltes Leben zurückblicken, während seine Frau stets damit haderte, dass sie zu früh heiratete, weil ihr Mann „nicht auf sie warten wollte“. Brinkbäumer wird erst durch seine Schwester darauf aufmerksam, dass sein Vater als Elfjähriger 1945 die letzten Kriegstage miterlebte und die frühe Traumatisierung Basis für gewisse Eigenheiten und die Altersdepression des Vaters sein kann.
Der Autor zitiert eine große Zahl von Autoren, die zum Thema Abschied und Trauer geschrieben haben, von Joan Didion, Roger Willemsen, Helga Schubert, Helen Macdonald bis Siri Hustvedt. Diese literarische Ebene macht die Teilbiografie seiner späten 50er Jahre für Leser:innen nicht gerade niederschwellig. Als Erschwerung des Zugangs empfinde ich auch die von Rückblenden unterbrochenen wechselnden Zeitebenen.
Durch die Gründung einer neuen jungen Familie, den USA-Aufenthalt und die forsche Erwartung, dass sich die betagten Eltern diesem Lebensstil anzupassen haben, gerät m. A. die Würdigung der Eltern zunächst in den Hintergrund, gelingt jedoch am Ende.
Manchmal stolpert man über Bücher, die eigentlich viel zu ernst klingen, um sie freiwillig in die Hand zu nehmen – und dann erwischen sie einen mitten in der Brust, wie ein Punch von Mike Tyson. Zeit der Abschiede ist genau so ein Buch. Klingt nach schwerer Kost: Tod, Eltern, Vergänglichkeit. Das volle Programm. Aber Klaus Brinkbäumer schreibt so, dass man nicht in Selbstmitleid versinkt, sondern fast schon schmunzelnd über das große Drama des Lebens nachdenkt.
Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass mir jemand einen Spiegel vorhält, in dem nicht nur Falten und Augenringe, sondern auch jede Erinnerung an Menschen auftauchen, die wichtig waren. Der Ton ist dabei nie pathetisch, sondern klar, warm, manchmal sogar überraschend leichtfüßig. Man merkt: Da schreibt einer, der seine eigene Trauer nicht versteckt, sondern aufmacht wie ein Fenster. Und durch dieses Fenster kommt frische Luft – auch wenn draußen gerade Herbst ist und die Blätter fallen.
Was ich besonders mochte: Brinkbäumer schafft es, die ganz großen Themen – Verlust, Dankbarkeit, Weitergehen – mit so viel Leben zu füllen, dass man nach der Lektüre nicht betrübt, sondern fast gestärkt zurückbleibt. Ich hatte richtig Lust, alte Fotos rauszukramen, ein Glas auf die Menschen zu erheben, die nicht mehr da sind, und gleichzeitig nach vorne zu schauen.
Kurzum: Ein Buch, das nicht nur beim Lesen, sondern auch danach arbeitet. Trauer wird hier nicht als Sackgasse dargestellt, sondern als Teil der Strecke. Und die Pointe ist klar: Wenn man den Abschied annimmt, kann man das Leben umso mehr feiern. Klingt kitschig? Mag sein. Aber es fühlt sich verdammt echt an.