Die Debatte um »Polarisierung« ist von einem Widerspruch geprägt. Während immer mehr Menschen eine »Spaltung der Gesellschaft« fürchten, zeigen Umfragen, dass die Einstellungen der Bürger:innen gar nicht auseinanderdriften.
Nachdem er sich zuletzt mit »alternativen Fakten« befasste, widmet sich Nils C. Kumkar nun einem anderen Aspekt, der die Debatte über die Debatten verwirrt. Er zeigt, dass die Beobachtung der Gesellschaft notwendigerweise Polarisierung wahrnimmt, da Letztere im politischen System mit seinen Unterscheidungen zwischen Regierung und Opposition sowie zwischen Regierenden und Regierten angelegt ist. Spaltung, so Kumkar, lässt sich letztlich nicht überwinden. Die Frage wäre, wie man produktiver spalten kann. Kumkar bietet nicht nur eine Klarstellung in der Diskussion über Polarisierung, sondern auch eine neue Erklärung für den Erfolg des Rechtspopulismus.
Lösungen hat es natürlich auch keine, aber unter den vielen Gegenwartsdiagnosen, die mir in den letzten Jahren so begegnet sind, gehört das Buch wirklich zu den klügsten.
Da hatten uns Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser eben erst beruhigt, als sie in ihrer groß angelegten und teils kontrovers diskutierten Studie TRIGGERPUNKTE (2023) feststellten, dass, nimmt man es genau, der allenthalben befürchtete Riss durch die, die immer weiter anwachsende Polarisierung in der Gesellschaft gar nicht so groß seien. Allgemeines Aufatmen. Kaum hat man den Kopf frei genug, um sich der nächsten soziologischen Beschäftigung mit der allgemeinen Lage zuzuwenden, lässt Nils C. Kumkar uns wissen, dass Mau et al. zwar mit ihrer Untersuchung recht haben mögen, ihre Fragestellung allerdings die falsche gewesen sein könnte. Denn ob es sie nun gibt, die viel beschworene Polarisierung, oder eben nicht, das ist vielleicht gar nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr müsse konstatiert werden, dass die Polarisierung ja nun einmal als solche empfunden, wahrgenommen werde. Also sei doch die Frage, wer Polarisierung wie und in Bezug auf welche Themen wahrnimmt?
Diesen und den sich aus seinen Befunden anschließenden Fragen geht Kumkar nun also in seiner Analyse der Problematik nach: POLARISIERUNG. DIE ORDNUNG DER POLITIK (2025). Und wie man Mau folgen mochte, auch wenn das Buch, welches er und seine Kollegen in seiner analytischen Genauigkeit vorlegten herausfordernd zu lesen war, so leuchtet auch Kumkars These grundsätzlich ein. Denn wie er anhand von Studien feststellen kann, wird das, worüber die Gesellschaft sich polarisiert, in unterschiedlichen Clustern und Peergroups vollkommen unterschiedlich wahrgenommen. Gleiches gilt für den Grad der (möglicherweise nur angenommenen) Polarisierung in einzelnen Themenfeldern. Und auch, wenn empirische Untersuchungen feststellen mögen, dass das, worüber man sich polarisiert, in dem, was wir als „Wirklichkeit“ wahrnehmen, bei Weitem anders erscheint, als angenommen, wird sie eben als solche empfunden. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und wenn sie als solche empfunden wird, dann ist sie auch da, die Polarisierung.
Kumkar untersucht nun also in den fünf Kernkapiteln seiner Studie, was Polarisierung ausmacht, welche Funktion sie möglicherweise übernimmt, inwiefern sie als Ordnungsmuster dienen könnte, dass sie möglicherweise sogar positive Effekte aufweist, weil sie zum „Mitmachen“ auffordert und weist zudem darauf hin, dass sie sowohl politisch als auch medial eben auch ein Selling Point ist. Kumkar wagt die These, dass es gute und schlechte Polarisierung gibt, es also auch darauf ankommt, wie, in welcher Weise und von wem polarisiert wird.
Seine Kernthese, auf einen kurzen Nenner gebracht, lautet dabei, dass Polarisierung Teil einer sich – massenmedial – zunehmend selbst beobachtenden Gesellschaft ist. Sie wird so zu einer Art Semantik dieser Gesellschaft. Sie hilft, Komplexität zu reduzieren, bestimmte Themen besser einzuordnen (völlig davon abgesehen, ob diese Einordnung den Themen wirklich gerecht wird) und verschafft dem (politischen, also dem demokratischen, parteipolitisch organisierten) System zugleich eine Legitimationsgrundlage. Dies, indem durch Polarisierung auch außerhalb des Systems stehende Kritikpunkte, Kritikpunkte, die bspw. auf Abschaffung des (politischen) Systems selbst gerichtet sind, in einen dem System immanenten Prozess hereingeholt werden. Polarisierung ist geeignet, tendenziell systembedrohende Standpunkte zumindest zeitweilig, manchmal auch nur punktuell, einzubinden und zu befrieden.
Kumkar untersucht dabei genau, wie Polarisierung in einem politischen Kontext eigentlich genau funktioniert und zeigt u.a. auf, dass – sich dabei eines Urteils ob solcher Entwicklungen enthaltend – in einer (post)modernen Demokratie die Stimme, die man bei einer Wahl abgibt, selten noch positive Zustimmung zu einer Partei, einem Standpunkt oder einem Programm signalisiert, vielmehr das „kleinere Übel“ gewählt wird, um das gefühlt „größere“ Übel zu verhindern. Dass aber – und auch dies ist eine entscheidende und überraschende Erkenntnis – auch eine solche Position vor allem von einem hohen Maß an Politisierung zeugt. Dass es also beweist, dass Menschen, anders als bspw. noch in den 90er Jahre, als allenthalben die „Politikverdrossenheit“ bejammert wurde, Menschen sich vielseitig, intensiv und meinungsstark informieren und in den politischen Diskurs einbringen.
Polarisierung, so die weiterführende These des Autors, sollte als Ordnungsmuster von Kommunikation begriffen werden. Kumkar untersucht noch einmal sehr genau, was Kommunikation vor allem in einem gesellschaftlichen und politischen Rahmen eigentlich genau bedeutet und dass in Massengesellschaften wie der unseren, dass es im Grunde überhaupt keine nicht-kommunikative Situation gibt. Auf Basis dieser Überlegung kann er auch die Rolle der viel gescholtenen Massenmedien – und darunter muss man heute auch und dezidiert die sogenannten social Media fassen – anders beleuchten: Sie sind unser Mittel der Selbstbeobachtung, der Reflektion und der Kommunikation. Ihren Wert an sich in Frage zu stellen, funktioniert schlicht nicht, weil sie eine Grundbedingung unserer Gesellschaft darstellen.
Kumkar benennt dabei teils unwillkommene Fakten, wenn er bspw. darauf hinweist, dass die Forschung den Zusammenhang zwischen dem Aufkommen sozialer Medien und der zunehmenden Polarisierung nicht so eindeutig belegen kann, wie alle Diskutanten das gern sähen. Und sicher muss man als Leser*in nicht allen aus solchen Fakten abgeleitete Thesen des Autors folgen. Doch sind diese zumindest immer bedenkenswert. Denn selbst, wenn seine Hypothesen nicht alle zutreffend sein mögen, sie können helfen, gerade mit dem Phänomen der Erhitzung in den sozialen Medien umzugehen. Dass Polarisierung hier bspw. eine Aufgabe übernimmt, die früher den sogenannten „Gatekeepern“ zukam – Diskurse zu ordnen und dafür zu sorgen, dass kein „Komplexitäts-Kollaps“ eintritt, der eine Diskussion komplett verhindern würde – mag erst einmal unangenehm erscheinen, leuchtet aber durchaus ein. Wenn Kumkar darauf hinweist, dass der Diskurs im Internet lange schon nicht mehr ein Als-Ob ist, also nicht eine andere, in der äußeren Realität stattfindende Diskurs-Situation imitiert, sondern als eigenständige soziale und also auch eigenständige diskursive Situation wahrgenommen wird, die eigene Regeln ausgebildet hat und diesen weitestgehend auch unterliegt, dann ist er der digitalen Wirklichkeit wahrscheinlich sehr viel näher, als die meisten anderen seiner Kollegen.
Kumkars Buch lädt also dazu ein, über das Thema der Polarisierung noch einmal neu, vor allem anders nachzudenken, es anders zu durchleuchten, ein wenig die Angst vor ihr zu verlieren und zudem zu begreifen, dass, wenn wir über Polarisierung sprechen, wir immer auch schon Teil eines polarisierenden Prozesses sind. Wie so oft bei Büchern wie diesem, treten die Probleme dann da auf, wo die Erkenntnisse auf die Wirklichkeit und den Umgang mit ihr umgelegt werden. Wie wir nun bspw. besser mit dem Rechtspopulismus und seiner „falschen“ Polarisierung umgehen sollen, die anders als das, was im Buch beschrieben wird, eben nicht als kommunikative Semantik, als Ordnungsprinzip, sondern als dauernder Leerlauf genutzt wird, um Sand ins diskursive Räderwerk zu streuen und dieses einfach zu desavouieren, bestenfalls stillzulegen, um daraus die Argumentation abzuleiten, dass das „Gequatsche“ zu nichts Vernünftigem führen könne, eine solche Frage weiß letztlich auch Kumkar nicht zu beantworten. Immerhin – er weiß, dass er das nicht kann. So gibt er Hinweise und tut dennoch nicht so, als habe er ein wirksames Rezept. Das macht sein Buch umso angenehmer zu lesen. Und zu einem wenig polarisierenden Beitrag zur allgemeinen Diskussion.
Kumkar schreibt verständlich und unterhaltsam über seine soziologische Untersuchung des Phänomen einer wahrgenommen gesellschaftlichen Polarisierung. Eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zu Studien über die tatsächliche Polarisierung. Besonders spannend und erhellend war dabei das letzte Kapitel zur Funktion des Rechtspopulismus als politische Strategie.