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234 pages, Paperback
First published January 1, 1955
Letzten Herbst, auf unserer Reise durch Sizilien, auf der wir einander wieder bis aufs Blut gepeinigt haben, dazu mit ihrem alten Wagen, der hinter Canicatti nur noch im ersten Gang gefahren, nein, gekrochen ist, um schließlich um die Mittagszeit, als wir, was ein Fehler war, auf der Suche nach einer Werkstatt die autostrada verlassen haben und, auf immer abseitigeren Nebenwegen, immer tiefer ins ausgebrannte und unwegsame Landesinnere, in die zona morta hineingeraten sind, vor den zerbröckelnden Mauern von Dikaiarchaeia endgültig stehenzubleiben.
Zu fünft, wie auf ein Signal, sind die Kinder, alles Jungen, alle schmutzig, alle verwahrlost, alle schön, plötzlich über die Ziege hergefallen, haben sie, wie ich, die Kameras um die Schultern, von meinem harten Stuhl aus ganz deutlich studieren kann, an den Ohren und den Beinen und am Schwanz festgehalten, und dann hat ihr ein schöner schlanker Junge, der allerdings eine rote Narbe auf der Stirn gehabt hat, unter großer Mühe und mit beiden Händen ein langes, wahrscheinlich lange nicht mehr geschliffenes Messer, das er in der Sonne erst ein paarmal hat aufblitzen lassen, in den Hals hineingesteckt und herumgedreht. Um das Loch in dem Hals dann nach allen Seiten - er arbeitet rasch - zu vergrößern und den Hals nach und nach, erst von oben nach unten und dann von unten nach oben, durchzuschneiden.
Achtung, hinter dir geschieht etwas, das du besser nicht siehst, habe ich gerufen, dreh dich nicht um, Maria! Und meine Frau, wie zu erwarten war, hat sich sofort umgeschaut und hat, weil ihr Blick sofort auf das Blut gefallen ist, das aus der Ziege herauslief, einen lauten Schrei ausgestoßen.
Siehst du, habe ich gesagt, weil du nicht auf mich hörst.
Und habe, unter dem Sterbegemecker der Ziege, die noch lange nicht tot sein wird, meine Erklärungen über meine Beziehungen zu Marios Mutter fortgesetzt, »über die du dir den Kopf aber nicht zerbrechen solltest«, habe ich ungefähr gesagt, »denn sie sind immer sehr locker und zufällig gewesen, und sie selbst ist eine ganz gewöhnliche, wenn vielleicht auch attraktive Frau«.
Hören Sie, rufe ich und trete vor ihn hin, ich fahre nun schon seit Jahrzehnten in den Süden, den ich liebe, und selbst...
Die Tragödien, sagt er scharf, sind Ihnen unbekannt.
Und selbst, rufe ich, in Nordafrika bin ich gewesen.
Die Verhältnisse, ruft er, indem er seine Rechthaberei auf die Spitze treibt, können Sie sich nicht vorstellen.
Bitte, sage ich, wie Sie meinen.
Jawohl, sagt er, das meine ich. Tragödien, sagt er und macht mit seinem freien Arm eine Bewegung, als zöge er einen Vorhang (Bühnenvorhang) zur Seite, die in der Welt längst Aufsehen erregt hätten, wenn in der Welt überhaupt noch etwas Aufsehen erregen würde. Nur hätten sie bis jetzt kein Publikum gehabt, weshalb diese Hunderte und Tausende verborgener Tragödien - alle mit blutigem Ausgang - ganz überflüssig gewesen seien. Weil sie, ruft er, indem er sein Zigarettenende auf den Boden wirft und drauftritt, dem ersten Gesetz eines jeden Theaters widersprochen hätten, das da hieße: Die Tragödie (auch Komödie, Farce, Maskenspiel, Charakterstück etcetera) will gesehen sein. Und dann, sagt er, habe ich lange genug in anderen Teilen der Welt, beispielsweise in Frankfurt, gelebt, um mit den Ansprüchen des modernen Publikums vollkommen vertraut zu sein. Er kenne dieses Publikum viel besser, als das Publikum sich selber kennt. Es hat keinen Sinn, zu so einem Publikum zu sagen: Stell dir dies oder jenes vor! Dieses Publikum, signor, stellt sich nämlich gar nichts vor, kann sich gar nichts vorstellen, denn dieses Publikum, ruft er, hat keine Phantasie. Dieses Publikum, statt sich etwas vorzustellen, will alles selber sehen, betasten, hören, riechen. Dieses Publikum, sagt er und zeigt auf unsere Koffer, sei so anspruchsvoll, so verwöhnt, hätte alles schon erlebt, gesehen, ausprobiert, gekostet, berochen, sei an allem schon vorbeigefahren, -geschoben, -getragen, auf alles schon hinaufgehoben worden. Und daß er, daß es, daß wir, sagt er, will sagen, sagt er, daß der Ort D., der für uns natürlich der Mittelpunkt der Welt ist und bleiben soll, für dieses neue Publikum dann eben etwas Neues aus sich heraus habe hervorbringen müssen, was es anderswo nicht gebe, etwas, das noch nie dagewesen ist und das, was die Seltenheit angeht, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene, auch mit den Kapitellen von Monreale oder mit dem Dom von Palermo zu vergleichen und, wie sie, nur mit dem größten Staunen aufzunehmen sei. Etwas, sagt er, das uns so leicht keiner
Nachmacht, frage ich.
Nachmacht, sagt er, jawohl.