Wir sind das Volk. Die Anderen nicht. Der Historiker Michael Wildt über die Ambivalenzen und Abgründe des politischen Konzepts des Volkes. "Wir sind das Volk!" Das ist ein mächtiger und anspruchsvoller Satz, vor allem in einer Demokratie, in der das Volk herrscht. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Wer ist das Volk? Die wahlberechtigten Staatsbürgerinnen und Staatsbürger? Die Demonstranten gegen die Diktatur in Leipzig im Oktober 1989? Die orangefarbenen Massen auf dem Maidan in Kiew, die 2013/14 erfolgreich die Neuwahl des Präsidenten erzwangen? In der langen Geschichte des Volkes wurde stets darum gestritten, wer zu ihm gehörte und wer nicht. Frauen zum Beispiel erhielten in den meisten Staaten erst im 20. Jahrhundert das Wahlrecht. Und was geschieht, wie Sebastian Haffner 1933 fragte, wenn das Volk die Demokratie nicht mehr will? Die historisch-politische Intervention von Michael Wildt lotet die Ambivalenzen und Abgründe des politischen Konzepts des Volkes aus sowie die rassistisch-antisemitische Radikalisierung in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Auf dieser Grundlage hinterfragt er die populistischen Äußerungen der AfD, die sich lauthals auf das Volk beruft. Auch hier geht es um verschiedene Volkskonzepte. Die kulturell definierte Ausgrenzung von Minderheiten bei der AfD birgt die Gefahr radikaler Exklusion aus dem "Volk". Jedoch auch das Beharren darauf, dass Volk 'demos' und nicht 'ethnos' sei, gelangt über die tückische Imagination eines einheitlichen Volkes nicht hinaus. Wäre es nicht stattdessen vielmehr an der Zeit, Hannah Arendts Gedanken aufzugreifen und nicht das Volk, sondern den Menschen und sein Recht, Rechte zu haben, in den Mittelpunkt unseres demokratischen Denkens zu stellen?
In den immer lauter und immer schriller werdenden Auseinandersetzungen, die dieser Tage das Land erfasst haben, sind Begriffe im Grunde Waffen. Da wird das „christlich-jüdische Abendland“ von Menschen verteidigt, die ansonsten wenig Lust auf und noch weniger Ahnung von den hochkulturellen Dingen haben, die sich hinter dieser nicht ganz astreinen Bezeichnung verbergen; es wird „Freiheit“ – vor allem die der Meinung – gefordert, ohne jemals näher zu definieren, worin diese Freiheit sich ausdrückt oder wohin sie führen soll; schließlich lernt man, dies alles geschehe im Sinne des „Volkes“, bzw. der „Volksgemeinschaft“, für die diejenigen, die die gewählten Begriffe gern und häufig im Munde führen, sich anmaßen zu sprechen.
Es tut gut, daß sich eine ganze Riege von Wissenschaftlern und Journalisten die Mühe macht, nicht nur diejenigen genauer unter die Lupe zu nehmen, die die neurechten Thesen unters Volk bringen wollen und dafür die oben genannten Begriffe gern und viel im Munde führen, sondern daß auch die Begriffe selbst genauer untersucht werden. Michael Wildt, Professor für Neueste Deutsche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, nimmt sich in einem schmalen Band der Begriffe “Volk“ und „Volksgemeinschaft“ an, untersucht sie in ihrem Entstehungskontext, vor allem die Entwicklung vom herkömmlichen „Volk“ zur mittlerweile ideologisch vorbelasteten „Volksgemeinschaft“ wird dabei hervorgehoben, und schließlich ein Einblick in die Verwendung durch die ’Alternative für Deutschland‘, kurz: AfD, gegeben, der auch einordnet, wie diese Nutzung zu beurteilen ist. Dieser letzte Teil ist sicherlich derjenige, der in seiner Tagesaktualität am ehesten zu vernachlässigen ist, immerhin befindet sich die Partei (Stand Mitte April 2017) im Sinkflug und wird von den erwarteten Erfolgen nur kleine Teile wirklich einfahren. Doch die Exegese zum „Volks“-Begriff und die Erweiterung auf die "Volksgemeinschaft" ist großartig und jederzeit eine Lektüre wert, denn diese Begriffe und ihre fröhlichen Urständ´ werden uns sicherlich noch eine Zeit lang begleiten.
Der Begriff „Volk“ suggeriert dem Zuhörer immer eine homogene Gemeinschaft, die auf eine klar definierte, jederzeit zur Zeugenschaft aufrufbare Geschichte, vielleicht sogar ein Gen, jedenfalls einen Determinismus zurückzuführen sei. Wildt unterläuft zunächst genau diese Annahme, indem er – beginnend bei philosophischen (Platon/Aristoteles) Betrachtungen ebenso, wie bei mythologischen (‚Das auserwählte Volk‘) – nachweist, daß das „Volk“ immer schon eine Konstruktion gewesen ist. Auch die Annahme, „das Volk“ umfasse eine klar definierte Gruppe und darin beschreibe es diejenigen, die bspw. wählen dürften, ist so nicht richtig. Der ‚demos‘, also das Volk, das wählen durfte, umfasste in der klassischen Antike, in jenen Stadtstaaten, aus denen die Idee der ‚Demokratie‘ hervorging – Athen, Sparta – den Anteil der männlichen Bevölkerung, der wählen durfte. Frauen, Sklaven, Kinder waren also grundlegend vom ‚demos‘ ausgeschlossen, was den Begriff der „Volksherrschaft“, der sich in der Neuzeit aus dem der „Demokratie“ ableitete, zumindest in Frage stellt, wenn nicht gar unterläuft.
Wildt verfolgt den Begriff von der Antike aus über den heute oft als reinen „Mechaniker der Macht“ verfemten Thomas Hobbes, der ein erstaunlich modernes Staatsgebilde theoretisierte und darin einen ebenfalls modern anmutenden Begriff des „Volkes“ verankerte, der aber natürlich noch voll und ganz auf der Ständegemeinschaft des Mittelalters beruhte, bis hin zu Jean-Jacques Rousseau, dessen „Gesellschaftsvertrag“ es vorbehalten blieb, erstmals ein „Volk“ als homogene Masse, als Einheit zu beschreiben, als eine Einheit, die einen einigenden Willen äußert. Und für die - was Rousseau so sicherlich nicht imaginierte - ein einziger Führer, oder eine einzelne Gruppe, Gruppierung, sprechen könne. In Folge der Französischen Revolution, in der erstmals „das Volk“ sich gegen die Ständegesellschaft auflehnte, sicherlich ein durchaus angängiges Unternehmen, das nichtsdestotrotz schon damals von Denkern wie dem Marquis de Sade nicht nur angegriffen, sondern geradezu genüsslich verhöhnt wurde. Von dort geht Wildts Reise ins 19. Jahrhundert, von welchem aus die Begriffe des „Volkes“ und der „Volksgemeinschaft“ dann ihre düsteren Karrieren begannen, bis „das Volk“ in den ideologischen Bewegungen der „Völkischen“, wie den Nationalsozialisten, zur exklusiven und andere ausgrenzenden Gruppe wurde.
Es ist Wildt dabei besonders anzurechnen, daß er sich die Mühe macht, auch dorthin zu gehen, wo es jeden vernünftigen Menschen nur noch gruselt. Er untersucht die Konstruktion des Volksbegriffs unter den Bedingungen der Inklusion ebenso, wie unter jenen der Exklusion, unter denen er schließlich mörderisch werden kann. Und soll. Geht er dem Begriff „Volk“ eher philosophisch und geistesgeschichtlich nach, so wird der der „Volksgemeinschaft“ durchaus in seinen historischen Kontexten untersucht. Daß eine „verspätete Nation“ wie die deutsche, geprägt durch Kleinstaaterei und ohne kulturellen oder machtspezifischen Mittelpunkt, nicht definiert durch Grenzen – also als Nation nicht einzufordern – nicht einmal definiert durch eine Sprachgrenze, müsste man doch große Teile der Schweiz, Österreichs, ja sogar (kleinere Teile) Frankreichs dazu zählen, sich geradezu nach dem alles einigenden „Volk“ sehnt, mag einleuchten. Es war Denkern wie Herder, Fichte, Arndt, auch Hölderlin oder Kleist, vorbehalten, das „deutsche Volk“ als solches zu denken, doch Wildt weist noch einmal nach, daß dieses „Volk“ von allem Anfang an ein konstruiertes, eine Kopfgeburt war.
Umso einleuchtender, daß die „Volksgemeinschaft“ von den Nationalsozialisten so unbedingt gefordert und gewollt wurde. Die Logik nationalsozialistischen Denkens fordert das Völkische mit gnadenloser, ausschließlicher Unbedingtheit, um überhaupt die Grundlage der eigenen ideologischen Existenz zu begründen. Das „Volk“, die „Volksgemeinschaft“ als Exklusionsmerkmal. Natürlich auch als Merkmal der Inklusion, doch Wildt weist ausdrücklich darauf hin, daß es gerade den Nazis sehr darum zu tun war, zu definieren, wer eben nicht zu diesem Konstrukt, dem Volk, gehört. Daß ein solch enger, exklusiver Begriff schließlich geradezu zur Auseinandersetzung führen muß – schließlich muß sich ein sich selbst als „Herrenrasse“ aufspielendes Volk ja umgeben von geringwertigen Völkern wähnen, die ihm ununterbrochen seine Überlegenheit neiden – liegt fast schon auf der Hand. Es ist schließlich die „Schicksalsgemeinschaft“, zu welcher das Volk - das ja nur mit einer Stimme spricht, nämlich der des Führers - verklärt wird, die zu überleben nicht mehr wert und dem Untergang geweiht gewesen sei. So kann mit dem Begriff „Volk“, der eben nie, nicht einmal ex negativo, eindeutig definiert werden kann, sowohl der Angriff auf andere rechtfertigt werden, wie man auch den eigenen Untergang, die eigene Niederlage umdeuten kann zu einem schicksalhaften oder gar gottgewollten Ereignis. Das „Volk“ zu schwach, ergo dem Untergang geweiht.
In der Auseinandersetzung mit der AfD und ihren rechtspopulistischen Vordenkern wie Götz Kubitschek u.a. fällt vor allem auf, daß hier erneut eine enorme intellektuelle Anstrengung unternommen wird, um „das Volk“ zu definieren. Liest man diverse Interviews mit Kubitschek, fällt auf, daß in der Beschäftigung mit dem Volksbegriff der der „Nation“ ebenfalls wieder salonfähig wird. Hinter beidem steckt auch ein Wunschdenken: Das Sehnen nach einer Gesellschaft, in der ein Konzept von „Männlichkeit“ gelebt werden kann, das anschlußfähig ist an ein „heroisches Gefühl“. Man will wieder Werte etablieren, die antimateriell, spirituell, rein geistig funktionieren. Man solle für sein Land und das eigene Volk bereit sein zu sterben, so ein Credo der „Neuen Rechten“, die Deutschland, das deutsche Volk und die deutsche Nation auch und gerade dadurch definiert sieht, daß es hier um etwas rein Geistiges gehe. Ein Denken, das sich nicht von ungefähr irgendwo im ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert zwischen Geistesgrößen wie Nietzsche, Chamberlain, Spengler und Jünger verortet.
Michael Wildts Analyse ist aber dort am interessantesten, wo sie sich eben nicht auf tagespolitische Aspekte bezieht, sondern sich der titelgebenden Begriffe eher übergeordnet, in ihren historischen, kulturellen und philosophischen Kontexten, annimmt. In diesen Zusammenhängen ist dies ein kluger und weiterführender Band.