»Dieser Ort«, schreibt Deniz Yücel im Februar 2017 aus dem Polizeigewahrsam in Istanbul, »hat keine Erinnerung. Alle, die ich hier kennengelernt habe – kurdische Aktivisten, Makler, Katasterbeamte, festgenommene Richter und Polizisten, Gangster – alle haben mir gesagt: ›Du musst das aufschreiben, Deniz Abi.‹ Ich habe gesagt: ›Logisch, mach ich. Ist schließlich mein Job. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.‹«
Seinem Job als Journalist kann er seither nicht nachgehen. Denn er sitzt in der Türkei in Untersuchungshaft – davon neun Monate in einer Einzelzelle. Alle Anstrengungen seiner Anwälte, seiner Freunde und Kollegen in Deutschland wie in der Türkei, internationaler Journalistenorganisationen und der Bundesregierung seine Freilassung zu erwirken, sind bisher gescheitert. Nicht einmal eine Anklageschrift liegt bislang vor (Stand Dezember 2017). Doch seine Stimme lässt sich nicht wegsperren.
In mühsamer Kommunikation über seine Anwälte und kuratiert von der Journalistin Doris Akrap hat er eine Auswahl aus seinen Texten aus den vergangenen 13 Jahren zu einem ebenso klugen wie unterhaltsamen und in jeder Hinsicht abwechslungsreichen Buch zusammengestellt – Reportagen, Satiren, Polemiken, Kommentare, Glossen und andere »Gebrauchstexte aus dem Handgemenge«. Außerdem gibt es zwei Stücke, die er im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 hierfür verfasst hat, sowie einen Beitrag seiner Frau, der Fernsehproduzentin und Lyrikerin Dilek Mayatürk Yücel.
Ob es um Journalismus geht – »Scheißefinden und Besserwissen« –, um unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund – »Mathe für Ausländer« –, um ganz Allgemeines wie »Biokoks und Surenbingo« oder, natürlich, um die Türkei – »Der Chef, der Putsch und der Park«: Bei Yücel geht bissige Gesellschaftskritik mit einer klaren Analyse der harten Fakten einher.
»Aber wir sind ja nicht zum Spaß hier«: Mit diesem Buch sprechen wir unserem Autor und Freund unsere Solidarität aus und fordern die sofortige Freilassung Deniz Yücels und aller in der Türkei inhaftierten Journalistinnen und Journalisten.
Deniz Yücel is a German-Turkish journalist and publisher, best known for his works in the newspapers Die Tageszeitung and Die Welt.
After being arrested in February of 2017, he remained incarcerated in Turkey on charges of espionage and supporting terrorism for over a year. Politicians and journalists from around the globe made calls for his release, which took place on February 16, 2018.
Zum Erscheinen des Buches wurden Rezensionen noch mit "Seit genau einem Jahr ist Deniz Yücel in der Türkei inhaftiert" eingeleitet. Zwei Tage später wurde er freigelassen und kehrte nach Deutschland zurück. (Ich freue mich. Auch darüber schreiben zu können: die Gedanken sind frei.)
Deniz Yücel, ein Badass auf freiem Fuß. Foto: dpa via taz.de
In der Polizeihaft verbot man ihm Stift und Papier. "Doch es durfte ihnen nicht gelingen, mich zum Schweigen zu bringen." Also fand er einen Weg trotzdem zu schreiben, zum Glück. Das Buch besteht aus mehreren Abschnitten mit Texten aus 13 Jahren, die zuvor in der Jungle World, der taz und der Welt erschienen waren sowie neueren Texten aus der Haft. Da geht es Anfangs um Integration, Islam(ismus), Pegida, Fußball, später hauptsächlich um die Türkei. Beim Lesen (in fast chronologischer Reihenfolge von deutschen Satiren über Texte zu den Protesten von Gezi/Taksim bis schließlich zu den Texten aus der Haft) dämmert einem: in Deutschland besteht wirklich kein Mangel an Spaß, erlaubtem Scheißefinden und vor allem an Freiheit. Der Gedanken, der Meinungen, der Presse. Denn gelangt man zu der Hälfte, deren Texte sich mit der Türkei befassen, spürt man bald, dass der Spass tatsächlich vorbei ist - zusammen mit anderen gesellschaftlichen Werten, die wir sonst als selbstverständlich erachten. Mit dem heutigen Wissen stimmen diese Texte umso trauriger, weil man ihnen so viel Hoffnung und Zuversicht anmerkt. Da hat eine junge Generation mit ihren Protesten "[...] nicht nur ein Land auf die Beine, sondern auch zum Lachen gebracht [...]". Und: "Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Schön wär's. Aber man weiß nie. Denn dieses Land ist komplett irre." Das war vor dem Putschversuch, dem Ausnahmezustand und vor dem Verfassungsreferendum. Schlechter: Vor der Diktatur. Was Yücel angeht, war dies alles vor der Haft, die ihn aber offenbar nicht gebrochen und ihm auch nicht seinen Sinn für Humor genommen hat, ihn aber vor allen Dingen auch nicht zum Schweigen gebracht hat. Um das deutlich zu zeigen ist dieses Buch so wichtig. Nicht zum Spass wird er deshalb für seinen Kampf um freie Meinungsäußerung mit einem Sonderpreis bei "Journalist des Jahres" geehrt.
Ich sag's mal so: Irgendwann, so nach ca. einem Drittel des Buches, habe ich angefangen, die Texte, die mir "richtig gut" gefallen haben, im Inhaltsverzeichnis mit einem Kreuz zu versehen. Jetzt bin ich durch und habe wohl so rund 2/3 der Texte markiert. Die vorliegende Auswahl umfasst ein "Best of" aus verschiedenen Publikationen, für die Herr Yücel tätig war. Es gibt zahlreiche alte/ältere Texte, grob thematisch sortiert, einen (wirklich sehr eindringlichen) Themenblock über die Türkei während der 2013er Proteste und der Zeit danach (der Unterschied in Stimmung, Sprache und Intention zwischen den hoffnungsvollen, optimistischen Texten aus 2013, und den Texten nach dem Putsch ist schon bedrückend) sowie einige wenige Texte aus seiner Zeit im Gefängnis.
Er schreibt eindringlich, sehr vielfältig (sowohl, was die Themenauswahl als auch die Darstellungsform angeht) und mit einem mir sehr genehmen bissigen Humor (der, wie wir ja wissen, nicht von allen verstanden bzw. gerne auch mal instrumentalisiert wird - was dann, am wohl bekanntesten Beispiel des "kontroversesten" Textes dieses Bandes "Super, Deutschland schafft sich ab", eine wundervolle ironische Metaebene bekommt, wenn diese "Kritik" den Kern dieses satirischen Textes bestätigt...).
Grundsätzlich haben mir gerade diese Texte am besten gefallen, in denen er die Finger selbstkritisch in deutsche Wunden legt und/oder sich sozialen/gesellschaftlichen Themen zuwendet. Eines der Highlights war für dabei die Aufzählungen der Verfehlungen bisherigen Bundespräsidenten (Jasager, Ausrutscher, Saubermänner) - geschrieben zum Ende der "Ära Wulff", dem ja nachgesagt wurde, er habe "das präsidiale Amt beschädigt"... gut, dass Herrn Yücel da noch ein paar ganz andere Kaliber einfallen. Andere Highlights: Dieses verdammte, beschissene "Aber" (zur Instrumentalisierung der Charlie-Hebdo-Opfer durch rechte Individuen, denen linke Satire sonst am Allerwertesten vorbei geht, die aber am lautesten brüllen, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, Flagge gegen Andersgläubige zeigen können) und "Lasst die Bälle hüpfen" - eine wunderbare Replik auf sexistische Berichterstattung im Frauenfußball. Sehr schön auch die satirisch-bösen Länderporträts, hier am Beispiel von Italien, Kroatien und Österreich.
Nun, Herr Yücel ist und bleibt wohl für viele ein Politikum mit hohem Aufregerpotenzial, was ja auch die teils völlig substanzlosen 1-Stern-"Kritiken" auf Amazon beweisen. Schön wäre es, sich bei einer Rezension von sowas etwas frei zu machen, oder es zumindest nicht zum einzigen Gegenstand der Rezension zu machen. Aber wer kann das schon? Ich selbst ja auch nicht, gebe ich ganz offen zu, denn ohne dieses ganze "Drumherum" wäre ich vermutlich gar nicht auf das Buch aufmerksam geworden - wobei, wer weiß, ob es ohne dies "Drumherum" überhaupt jemals veröffentlicht worden wäre.
Mir hat's jedenfalls sehr gut gefallen. Und ich freue mich, dass Herr Yücel wieder frei ist. Und hoffentlich bald wieder schreibt, seine Stimme wird gebraucht. Und die Mission geht sowieso weiter: #freealljournalists
Eine spannende Sammlung von Texten! Nicht alle haben bei mir Begeisterung ausgelöst, aber die meisten haben mich in irgendeiner Weise zum Nachdenken gebracht - über das Erkennen von Willkürherrschaft aus der Ferne, voreiliges Verurteilen einer Kultur; und immer wieder darüber, dass die Regierung eines Staates fast nie alle Menschen dahinter repräsentiert. (Und wer auf Deutschland schimpft, hat einen Teil meiner Sympathie ja schon mal sicher^^)
Meiner Meinung nach wurden die Texte immer besser, oder vielleicht habe ich mich auch nur etwas länger einlesen müssen. Gerade der letzte Teil mit den herausgeschmuggelten Berichten aus dem Gefängnis ist wirklich toll geschrieben und extrem spannend zu verfolgen. Das Buch hat sich auf jeden Fall gelohnt!
Super! Deniz Yücel ist ein fantastischer Schriftsteller und Journalist. Seine Texte sind pointiert, lustig, provokativ und klug. Definitiv kontrovers - aber das gefällt mir, weil es einen zum Nachdenken anregt.