Wer den schönsten Augenblick sucht, kommt rasch auf den Höhepunkt der Höhepunkte: den Orgasmus. Wiewohl Dauerthema in den Medien, ist die sexuelle Erfüllung mitnichten eine einfache Sache. Sie ist biologisch und kulturell, sinnlich und symbolisch, fleischlich und geistig, emotional und kommunikativ. Und weiblich und männlich, mithin zutiefst menschlich. In ihr treffen die Naturgeschichte und die Evolution auf die großen Erzählungen vom menschlichen Glück, einer emanzipierten Gesellschaft, einer reifen Liebeskultur und eines befreiten Geschlechterverhältnisses, kurz: eines guten Lebens.
Das Staunen über den Orgasmus erhält in diesem Buch eine Philosophie, die Wissenschaft mit Kunst, Literatur, Film und Musik, die intellektuellen Diskurse mit Alltagserfahrungen und die politische Frage mit der Utopie einer leidenschaftlichen und erfüllenden Glückseligkeit verbindet.
Ich habe zugegebenermaßen etwas anderes erwartet, als ich mir dieses Buch gekauft habe. Unabhängig von meiner Erwartungshaltung will ich im Folgenden dennoch meine Gründe für die schlechte Bewertung darlegen, da diese Gründe für andere Leser vielleicht nicht so ins Gewicht fallen.
Was ich mir erwartet habe: Ein Fachbuch. Möglicherweise eine Geschichte des Orgasmus, wenn nicht gar eine Ideologie (ja, ich bin Foucault-verwöhnt). Oder zumindest eine philosophische Abhandlung. Was ich bekommen habe ist aber eher eine allgemeine oberflächliche Behandlung des Themas Orgasmus, die leider bei weitem nicht in die gewünschte Tiefe geht.
Der Autor hat Musik und Philosophie studiert. Also könnte man zumindest eine philosophische Abhandlung erwarten. Stattdessen bekommt man ein Buch, das in drei Teile gegliedert ist. Der größte Teil widmet sich dem „Orgasmus im Leben“, hier wird der Orgasmus also von naturwissenschaftlicher/biologischer Ebene aus betrachtet. Nicht das, was ich erwartet habe. Im zweiten Teil — der gleichzeitig der kürzeste Teil ist — geht es um den „Orgasmus in der Kunst“. Das ist aufgrund der Herkunft des Autors wenig verwunderlich, hier wird der Orgasmus aus Sicht der Musik, der Literatur und des Films betrachtet. Im abschließenden Teil geht es dann endlich um die titelgebende „Philosophie des Orgasmus“. Dieser Teil ist längenmä0ig etwas kürzer als der erste Teil. Schon bei der Gliederung fällt also auf, dass der Philosophie nur ein verhältnismäßig geringer Teil (und das zum Schluss) gewidmet ist. Aufgrund der Gliederung könnte man weiters meinen, dass der Autor die ersten beiden Teile als Hinleitung / Voraussetzung des dritten Teils sieht, wozu sonst die Ausschweifung? Wie sich allerdings herausstellen wird, ist der letzte Teil auch eigenständig lesbar, unbedingt nötig wären also die beiden ersten Teile nicht. Aber gut, mehr Information ist in der Regel nicht verkehrt, wenn die denn was hergibt. Was sich aber leider als Trugschluss herausstellt.
Eine große Problematik vor allem des ersten Teils ist die Tatsache, dass hier kein Fachbuch vorliegt, sondern wohl das, was man als Sachbuch bezeichnen könnte. Das heißt vor allem: ein ziemlich kleines Literaturverzeichnis (aber immerhin gibt es eine) und, was fatal ist, fehlende Anmerkungen/Quellenangaben im Text.
Das wirkt sich dann in der Realität so aus, dass im ersten Teil Dinge resp. Fakten behauptet werden, bei denen man nicht weiß, ob die jetzt vom Autor stammen oder aus der Fachliteratur. Und das wirkt sich dann bei gewissen Aussagen im Text ziemlich negativ aus und hat zumindest mich zum Fremdschämen gebracht. Im folgenden ein paar Textauszüge aus dem Kapitel „Evolutionäre Logik“ über den Sexualtrieb:
„Frau und Mann haben das gleiche Interesse an optimaler Aufzucht der Nachkommen.“
Wie gesagt, man weiß nicht ob das aus der Fachliteratur stammt oder vom Autor. Dennoch ist das ein Beispiel für den Stil von allgemeingültigen Aussagen, die in diesem Kapitel immer wieder auftauchen. Nein, nicht jeder Mann und nicht jede Frau haben immer das gleiche Interesse an einer optimalen Aufzucht.
„Der Penis […] lässt sich funktionell erklären. Aber warum ist er bei Menschen so verhältnismäßig groß?“
Die Aussage allein ist eher komisch den problematisch, aber in Zusammenhang mit den folgenden Aussagen dann kontextuell eher kritisch zu sehen. Weiter geht es zur weiblichen Brust:
„Auch die weiblichen Brüste müssen evolutionär erklärbar sein. […] Es muss also einen Grund geben [für das Vorhandensein einer „energieverschwendenden“, „unsinnigen Einrichtung“]. Die plausibelste Antwort ist der Blickfang. […] Für die Gesäßbacken braucht es Ersatz. Betrachtet man die Brüste, den Busen, das Dekolleté in all den kulturellen und geschichtlichen Facetten [die uns der Autor vorenthält], vom Dirndl und den Hochglanzmagazinen, von der Brustanpassungsindustrie bis zum legendären Foto mit Angela Merkel aus Oslos neuem Opernhaus, dann beweist dies die überragende optische und ästhetische Qualität dieser milchspendenen Drüsen, die, wenn es spannend wird, etwas zum Anfassen, Begraphscne, Greifen, Beküssen, kurz zum Ort der beiderseitigen Lust wird.“
So. Wäre diese Textstelle als Zusammenfassung von Studien, wissenschaftlichen Aufsätzen und Fachbüchern entsprechend gekennzeichnet, dann ok. So liest sich das halt wie die Aussagen des Autors. Und die sind imho ziemlich sexistisch und degradierend. Mich würde wirklich interessieren, was Frauen zu solchen Textstellen meinen.
„Feministische Forscherinnen lehnen den Gedanken, die Brüste hätten sich um des Mannes willen entwickelt, ab und suchen nach physiologischen Gründen wie Fettpolster oder bessere Greifbarkeit bei den Neugeborenen. Aber sie übersehen, dass auch männliche Phänotypen (beispielsweise die Größe des Penis) sich um der Frau willen ausgeprägt haben.“
Aha. Das würde aber im Prinzip auch heißen, dass Penisse von Generation zu Generation wachsen würden, und weibliche Brüste auch.
„Die Brüste werden von ihr genauso als Lockmittel eingesetzt wie aufreizend rot gefärbte Lippen, die an Schamlippen gemahnen. Der Unterleib, nun von Kleidung verhüllt, wird nach außen gekehrt.“
An dieser Stelle wollte ich ehrlich gesagt bereits aufhören zu lesen, hab mich dann aber doch durchgekämpft. Achja, eine weitere Stelle ist in dem Abschnitt noch erwähnenswert:
„Auch die Fellatio [lässt sich evolutionär erklären]: Die Frau und ihr Immunsystem gewöhnen sich an fremde Sekrete und Gameten.“
Und noch kurz zur Homosexualität:
„Schwieriger zu erklären ist die rein männliche Homosexualität, da sie scheinbar gar nicht vererbt werden kann, es aber dennoch geschieht. Über die evolutionäre Logik der Homosexualität wird noch geforscht; will die Evolutionstheorie an ihrem Anspruch, ein universelles Erklärungsmodell zu sein, festhalten, muss sie auch dieses Rätsel lösen.“
Das lasse ich jetzt einmal so im Raum stehen, allerdings drängen sich zwei Fragen auf: Was ist mit „rein“ (was soll das eigentlich sein?) weiblicher Homosexualität, und was ist mit Cunnilingus resp. generell Handlungen beim weiblichen Geschlechtsverkehr. Haben die keine „evolutionäre Logik“, um beim Autor zu bleiben?
Nach diesen Textstellen sind die grauslichsten/dümmsten Aussagen aber zum Glück vorbei, was folgt ist Langeweile im restlichen ersten Teil. Der zweite Teil ist dann derjenige Teil, der dem Autor sehr gut gelungen ist. Mit viel Detailwissen stellt er verschiedenste Kulturprodukte aus den Bereichen Film, Musik und Literatur vor und philosophiert darüber, was davon am ehesten einem Orgasmus gleichkommt. Fazit hierzu: Es gibt noch immer kein kulturelles Artefakt, dass einen Orgasmus in seiner ganzen Fülle abbilden kann.
Der dritte und abschließende Teil widmet sich dann der Philosophie, kreist aber auch wieder oberflächlich an verschiedensten Themen, ohne sich aus meiner Sicht dem Orgasmus zu widmen.
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Ich habe eingangs erwähnt, dass eine meiner stillen Hoffnungen war, hier so etwas wie eine Genealogie des Orgasmus zu bekommen. Gut, das war im Nachhinein betrachtet ziemlich unrealistisch. Und bereits zu Beginn des Buches schreibt der Autor dann auch, dass das Buch keine Kulturgeschichte des Orgasmus sei. Das ist aufgrund der Form durchaus verständlich, auch wenn die Aussage, dass dies nur schwer möglich sei, da er wenn überhaupt nur versteckt Gegenstand schriftlicher Zeugnisse sei, zwar eine Diskursanalyse schwierig machen würde, aber dafür wäre dann eben die Genealogie da. Aber gut, es sei dem Autor natürlich verziehen, dass es ihn nicht in diese Richtung zieht.
Wenn dann allerdings gleich in der Einleitung steht, dass „freilich eine Philosophie im akademischen Sinne diesem Gegenstand völlig unangemessen [wäre]“, da gänzlich unerotisch, so fragt man sich schon, wieso das Buch dann den Titel hat.
Und wenn man es genau nimmt, dann ist die Herangehensweise der Annäherung aus verschiedenen Themenfeldern durchaus mit der Genealogie bei Foucault vergleichbar, wenn auch die stringente historische Komponente fehlt. Alles in allem bleibt aber für eine zufriedenstellende Lektüre das Ganze viel zu oberflächlich, zuzüglich der oben genannten mangelhaften Textstellen im ersten Teil. Und so mäandert der Text so vor sich hin, gänzlich ohne Höhepunkt, und das Ende fühlt sich wie ein Coitus interruptus an — der Text hört wieder auf, eher er richtig begonnen hat.
“The Philosophy of Orgasm” by Claus-Steffen Mahnkopf is a detailed exploration of the nature of orgasm through various perspectives—philosophy, sociology, evolutionary theory, cinema, art, and industry.
The book includes many life-related quotations and explains the nature of orgasm through specific concepts, encouraging philosophical reflection and deeper discussion. It invites the reader to reconsider the depth and mystery of the topic.
The mystical aspect of orgasm is presented in a powerful, thoughtful, and well-researched way. I especially appreciated the non-sexist approach to female orgasm, which stood out as a particularly valuable aspect of the book.