Unsere Zukunft speist sich aus unserer Vergangenheit. Die Erzählerin dieses autobiografischen Romans, mittlerweile selbst Großmutter, spürt den Fäden und Verbindungen zwischen den Generationen nach: Was bewog die eigene Großmutter, Ostende zu verlassen und ihrem 14-jährigen Sohn Gaston, der sich der deutschen Wehrmacht angeschlossen hatte, nach Deutschland zu folgen? Wie hielt sie, die nie wieder nach Belgien zurückkehrte, das Leben in der Fremde aus? Und wie können diese Erinnerungen in Zeiten, die erneut von Flucht und Vertreibung geprägt sind, Trost und Hilfe sein?
Im abschließenden Teil ihrer beeindruckenden Roman-Trilogie umkreist Birgit Vanderbeke Fragen, die weit zurückführen und doch aktueller nicht sein könnten.
Birgit Vanderbeke was a German writer. Vanderbeke grew up in Frankfurt am Main after her family moved to West Germany in 1961. She studied Law, Germanic and Romance languages. The English translation of her debut novel, Das Muschelessen, by Jamie Bulloch was published in 2013 by Peirene Press as The Mussel Feast. Since 1993 she has been living in southern France.
Schwacher Abschluss für eine bisher sehr starke Trilogie – Vanderbekes neuer Roman kann leider nicht überzeugen.
Birgit Vanderbekes „Wer dann noch lachen kann“ habe ich 2017 richtiggehend verschlungen, unwissend, dass es sich um den zweiten Band einer Trilogie handelt. Band eins wurde kurzerhand nachgekauft – und stand ungelesen im Regal. Bis dann der Erscheinungstermin von Teil drei, „Alle, die vor uns da waren“, bekanntgegeben wurde. Und so las ich im Februar die beiden vorangehenden Bücher von Vanderbekes autobiographisch angehauchten Romanen, also „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ (1) und „Wer dann noch lachen kann“ (2) – letzteren zum zweiten Mal. Und erneut begeisterte mich Birgit Vanderbeke mit ihrer speziellen Erzählsprache und der emotionalen Geschichte. Band drei konnte kommen! Und obwohl mich der Klappentext dann doch nicht so ansprechen konnte, wollte ich doch diese Trilogie beenden, deren erste zwei Bücher mich so begeistert haben. Doch leider entpuppte sich „Alle, die vor uns da waren“ als Enttäuschung, die nach zwei großartigen Büchern einen faden Nachgeschmack hinterließ.
"Eine Sache ist nicht beendet und aus der Welt, bloß weil niemand darüber spricht. Bloß weil die Leute sich selbst Amnestie und Absolution erteilen, bis sie vor Selbstgerechtigkeit kaum mehr laufen können. Es sind immer die, die nach uns kommen, die dafür bezahlen müssen."
Es geht um unsere aus den zwei vorangehenden Bänden bereits bekannte Protagonistin, die bekanntermaßen keine angenehme Kindheit hatte. Und obwohl sie dies stets als „kleines Pech“ abtut, verfolgen sie die Geschehnisse von damals bis in ihr Erwachsenenalter. Wir treffen Karline und ihren Mann Gianni, die einen Sohn haben, der auch bereits eine eigene Familie gegründet hat. Das Ehepaar macht sich auf den Weg nach Irland zum Urlaub, in das Haus der Familie Böll. Dass sich das Dörfchen auf der Insel mitten im Nirgendwo befindet und die beiden komplett abgeschnitten von der Außenwelt sein würden, trifft Karline und Gianni unerwartet. Dennoch versuchen sie, das beste aus der Situation zu machen, indem sie über die Vergangenheit sinnieren, im Böll-Haus herumstöbern und die Ortschaft erkunden. Karline beschäftigt sich mit den Geschichten ihrer Großmutter und der Zeit, bevor sie und ihre Familie vom Auffanglagern im Osten ins „Schlaraffenland“, den Westen umgezogen sind. Hier lockte der Konsum, Lebensmittelknappheit war kein Problem mehr und man konnte sich alles leisten, was man will. Doch so schön es auch gewesen sein mag, litt Karline unter ihrem Vater, der sie häufig windelweich prügelte, da sie ungeschickt war und Dinge öfters mal zu Bruch gingen. So weit die Prämisse.
Dieser Teil des Buchs hat mir sehr gut gefallen, doch mit den Geschichten aus dem Lager und denen der noch weiter zurückliegenden Vergangenheit konnte ich mich nicht so richtig anfreunden. Viel lieber hätte ich noch mehr aus Karlines Leben gehört. Die Szenen in Irland haben sich ein wenig im Kreis gedreht, da Gianni und sie nur begrenzte Möglichkeiten vor Ort hatten. Die Überlegungen Karlines, was die Nachwelt angeht, der Zukunft, in der ihr Sohn und seine Kinder leben müssen, fand ich hingegen sehr spannend. Sie beschäftigt sich mit Gedanken zur Umweltverschmutzung und Nachhaltigkeit, die ihrer Meinung nach viel zu spät die breite Masse erreicht haben:
"Inzwischen wissen wir, dass es mit dieser Zukunft vorbei ist und alle Kinder von dieser vergewaltigten und geschundenen Erde von Glück sagen können, wenn sie sie überleben."
Fazit: Mit dem abschließenden Band ihrer Roman-Trilogie legt Birgit Vanderbeke auch zugleich den schwächsten Roman vor. Auch, wenn mir die bekannte Erzählsprache wieder sehr gefallen hat, haben mich die Geschichten der Vergangenheit von Karlines Großmutter wenig berührt. Die Handlung auf der Insel drehte sich im Kreis und lediglich ein Teil des großen Ganzen konnte mich wirklich begeistern. Leider war ich nach der Lektüre sehr enttäuscht; die gesamte Reihe hat dank des letzten Buchs einen faden Nachgeschmack gewonnen.
Bei Alle, die vor uns da waren muss man sich von der Vorstellung lösen, dass talentierte Autorinnen und Autoren ausnahmslos gute Bücher schreiben. Leider hat mich dieses Buch, das den dritten Teil von Birgit Vanderbekes autobiografischer Trilogie darstellt, zu keinem Zeitpunkt wirklich gepackt oder überzeugt. Zu viele Themen, die angerissen, aber nie wirklich vertieft werden (vom modernen Sklaven- und Ruinentum über Displaced Persons bis hin zum „Quallenkoma“ der heutigen Gesellschaft). Zu bruchstückhaft die autobiografischen Elemente, anhand derer man sich nur mit viel Fantasie die Lebensgeschichte der Erzählerin zusammenreimen kann. Alles bleibt sehr oberflächlich, wodurch das Buch weder Interesse noch Emotionen weckt.
Den Erzählrahmen bildet ein Reisebericht der Erzählerin, die als Schriftstellerin zu einem Arbeitsaufenthalt in das ehemalige Cottage von Heinrich Böll auf der irischen Insel Achill Island eingeladen wird, wo sie daraufhin mit ihrem Mann einen dreiwöchigen Aufenthalt verbringt. Neben allerhand Absurditäten, die sie und ihr Mann im Kontakt mit der Inselbevölkerung erleben, erscheint ihr eines Tages im Arbeitszimmer des Cottages auch noch der längst verstorbene Böll höchstselbst. Aber auch andere Verstorbene, so zum Beispiel die beiden Großmütter der Erzählerin, tauchen immer wieder auf und geben ihr Ratschläge. Die Erzählerin ist überzeugt, dass uns „alle, die vor uns da waren“ behüten und beschützen – was vor allem in der heutigen Zeit mit der von der Erzählerin nachdrücklich vermittelten Weltuntergangsstimmung ein tröstlicher Gedanke ist.
Allerdings bekommt man als Leser den Bogen von den Schilderungen der Probleme der modernen Gesellschaft über die wohl amüsant gemeinten Inselanekdoten und die fragmenthaften Andeutungen einer nicht sehr rosigen Jugend bis hin zu den bedeutungsschwangeren Zwiegesprächen mit toten Menschen nur schwer hin. Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier mit heißer Nadel gestrickt wurde, um auf Biegen und Brechen die angekündigte Trilogie zeitnah abzuschließen.
Leider hat Vanderbeke mich bei diesem Buch schon irgendwo im ersten Drittel verloren. Den Rest habe ich nur noch gelesen, um zu sehen, ob es nicht doch noch an irgendeiner Stelle interessant wird. Schade, dass Birgit Vanderbeke 2021 verstorben ist; ich hätte gerne noch einmal ein gutes Buch von ihr gelesen.