Fortschritt ist sozialer Wandel hin zu einer Situation, in der die Verhältnisse nicht nur anders, sondern besser werden – etwa dadurch, dass die Sklaverei abgeschafft wird oder die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen gilt. Viele würden dem zustimmen, und doch hat die Vorstellung eines generellen gesellschaftlichen Fortschritts ihren Glanz verloren. Sie ruft sogar Skepsis hervor. Hingegen wächst die Neigung, etwa die Zunahme autoritärer Ressentiments und rechtspopulistischer Bewegungen als eine Art von Regression zu bewerten.
Rahel Jaeggi verteidigt in ihrem Buch das Begriffspaar Fortschritt und Regression als unverzichtbares sozialphilosophisches Werkzeug für die Diagnose und Kritik unserer Zeit. Als fortschrittlich oder regressiv versteht sie nicht nur das Resultat, sondern vor allem die Gestalt der gesellschaftlichen Transformationsprozesse selbst. Indem sie nach den Dynamiken sozialen Wandels fragt sowie nach den Erfahrungsblockaden, die regressiven Tendenzen Vorschub leisten, entwickelt sie einen Begriff des Fortschritts, der materialistisch und plural, also durch und durch emanzipativ und zeitgemäß ist.
Das Buch ist ganz interessant. Jaeggi versucht die Begriffe des Fortschritts und den mittlerweile inflationär verwendeten Begriff der Regression neu zu fassen. Dafür rekonstruiert sie, wie diese Begriffe im Laufe der Zeit verwendet wurden und aus welchem Kontext diese stammen; die Regression bspw. stammt ursprünglich aus der Psychoanalyse, worauf sie kurz eingeht.
Die Schwierigkeit, einen bestimmten Maßstab für Fortschritt oder Regression innerhalb des "sozialen Wandels" zu bestimmen, durchzieht das gesamte Buch. Wenn dieser so klar wäre, hätten vermutlich 50 Seiten gereicht und man hätte kein ausführliches Buch schreiben müssen. Dennoch wird bis zuletzt nicht klar, was genau das Kriterium dafür ist. Jaeggi, so scheint es mir, umgeht diese Problematik dahingehend, dass sie die Reaktion auf eine Krise in den Blick nimmt und nicht die Ursache oder Einschätzung, was genau eine Krise innerhalb der jetzigen Gesellschaft ist. Wie dann auf Krisen reagiert wird, ist dann das Kriterium, ob eine Reaktion als Fortschritt oder Regression betrachtet wird - Jaeggi spricht von "Wandel im Wandel" der zu bewerten ist (Kriterium sind dann Erfahrungs- und Lernprozesse). Fortschritt und Regression trennt sie einerseits kategorial streng miteinander, andererseits sieht sie die gegenseitige Bedingtheit der Kategorien (vor allem im Exkurs zu "Dialektik des Fortschritts"). Interessant, trotz wenig neuem Inhalt und keinerlei Erwähnung des Antisemitismus, zeigt Jaeggi Regressionen in Zusammenhang mit der Diagnose der älteren Kritischen Theorie über den Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus auf. Dieser sei eine regressive Reaktion auf eine Krise, die nicht fortschrittlich, nicht konservativ, sondern nach ihr als regressiv zu beschreiben ist, da nicht nur Altes wieder gefordert wurde, sondern die alte Volkstümelei in einem radikal neuem Gewand im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie erschien. Stephan Grigat sprach vor Jahren davon als negative Aufhebung des Kapitalverhältnisses.
Jaeggi macht zu Beginn ihres Buches klar, dass es ihr um eine sozialphilosophische Arbeit geht und keine, welche die empirische Gegenwart genau unter die Lupe nehmen will.
Da Jaeggi (fast nur) die Reaktion auf die Krisen in den Fokus nimmt und weniger die Krisen an sich und deshalb diese nicht aus den Veränderungen des Kapitalverhältnisses zu erklären versucht, werden viele ihrer Aussagen trivial und vage. Das macht dann alles nicht falsch, aber auch nicht richtig und tendiert dazu, die Gesellschaft als Pseudonatur anzunehmen und auf die sowieso stattfindenden Krisen nur richtig und gleichzeitig zu reagieren.
Der Autorin zu gute zu halten ist aber die Reflexion der regressiven Reaktion auf Krisen, auch von scheinbar emanzipatorischen Gruppen, was in den Arbeiten neuerer kritischer Theorie (D. Loick, Robin Celikates) oftmals fehlt. Dort wird oftmals ohne den Versuch Kriterien zur Bewertung bestimmter sozialer Bewegungen zu formulieren, diese per se als fortschrittlich gebrandmarkt (Celikates spricht bspw. von Greta Thunberg als kritische Theoretikerin). Der aktivistische Touch fehlt bei Jaeggi - zum Glück.
Viele spannende und anregende Gedanken sowie eine vielversprechende (Neu-)Interpretation des Fortschrittsbegriffs. Leider bleibt aber vieles vage, nicht vollständig ausgesprochen und daher teils schwer einzuordnen. Ein guter Beginn, an dem man aber weiter ansetzen muss.
Die Veröffentlichung dieses Buches hatte ich lange und mit einiger Spannung erwartet; die Spannung wich weitgehend der Ernüchterung.
Jaeggi unternimmt in “Fortschritt und Regression” den Versuch, die im Titel genannten Begriffe für die sozialtheoretische Diskussion zu retten. Vor dem Hintergrund der Kritik am Fortschrittsbegriff, die sie nur oberflächlich darstellt, entwickelt Jaeggi ein Konzept desselben, demzufolge Fortschritt nicht auf ein übergeordnetes Ziel gerichtet, sondern ein Erfahrungs- und Lernprozess ist, durch den Probleme gelöst werden.
Werden Erfahrung und Lernen in einer Gesellschaft systematisch blockiert und erfolgt eine nicht angemessene Bewältigung von Krisen, handelt es sich Jaeggi zufolge hingegen um Regression. Unklar bleibt jedoch letztlich, anhand welcher Kriterien die (Un-)Angemessenheit beurteilt werden soll und wie diese Kriterien überhaupt begründet sind.
Ein Teil des Buches widmet sich dem Fortschritt der moralischen Vorstellungen, und es ist vielleicht dieser Teil des Buches, der am meisten an die Grenzen der Geduld treibt: Hier - aber nicht nur hier - finden sich viele nichtssagende Passagen, es reihen sich Sätze aneinander, die das Gleiche noch einmal anders und dabei ermüdend unpräzise formulieren, und der verwendete Jargon ist teils schwer zu ertragen. Ein Beispiel:
"Wir haben es hier mit einem komplexen Verflechtungszusammenhang zu tun, der durch multifaktorielle wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher Praxissphären beziehungsweise von Praktiken und Überzeugungen entsteht - mit einem komplex geknüpften Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, Einflüsse, Effekte und Verbindungen vielfältiger Art und Richtung.”
Diese Aussage ist so unnötig komplex formuliert wie in ihrem Gehalt banal. Weiter schreibt Jaeggi: “Moralischer Wandel kommt ... dadurch zustande, dass sich die Hintergrundbedingungen und Anschlusspraktiken ... verändern." Auch damit ist wenig gesagt; wer erwartet, dass Jaeggi hier weiter in die Tiefe geht, wird enttäuscht, und diese Enttäuschung ist ein wiederkehrendes Muster.
Die Lektüre des Buches ist oft ein Gang durch die Eiswüste, und die Trennung des Fortschrittsbegriffs von einem übergeordneten Ziel kann nicht recht überzeugen. In dem Moment, in dem ich ein zu lösendes gesellschaftliches Problem identifiziere, deutet sich in seinem Gegenteil an, was ich als Ziel der Gesellschaft verstehe. Ich kann nicht den Klimawandel oder die Tatsache, dass viele Menschen in Armut leben, als Problem benennen, ohne damit gleichzeitig zu sagen, dass das Wohlergehen der Menschen das zu verfolgende Ziel ist. Ich kann vor diesem Ziel die Augen verschließen, aber keineswegs ist es deshalb weniger existent.
Trotz aller Kritik halte ich Jaeggi aber zugute, dass sie das Thema des Fortschritts wieder in die Diskussion bringt und gerade durch die Defizite des Buches zur Auseinandersetzung drängt.
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Eines der besten Bücher in Kritischer Theorie. Rahel Jaeggi führt hier die in "Kritik von Lebensformen" angesprochene Rekonzeptualisierung des Fortschrittsbegriffs durch. Dazu ist dieses Buch auch für diejenigen geeignet, die nicht vollständig in der Thematik eingearbeitet sind. Jaeggi präsentiert beispiellos wie Philosophie für die Gesellschaft möglich ist. Am Ende bleibt dir Frage: Und jetzt? Aber wenn es eine fixe Antwort gäbe wären wir auch in der Religion und nicht der Philosophie.