»Fear is a man’s best friend« lautet das Motto von Ralf Rothmanns neuem Erzählungsband Hotel der Schlaflosen, und tatsächlich ist es oft die Angst, die seinen Figuren aus der Not hilft. Der alternde Dozent, dem während einer Autopanne in der mexikanischen Wüste die Logik der Liebe aufgeht, die Geigerin, die eine finale Diagnose erhält, oder das Kind im Treppenflur, das seine Prügelstrafe erwartet – sie alle erfahren Angst auch als spiegelverkehrte Hoffnung. Und sogar in der erschütternden Titelgeschichte, dem Gespräch des Schriftstellers Isaak Babel mit Wassili Blochin, seinem Moskauer Henker, für den eine Pistolenkugel die letzte und höchste Wahrheit ist, lässt uns der Autor teilhaben an der Einsicht, dass es eine höhere gibt.
Ralf Rothmann wurde am 10.05.1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.
Ralf Rothmann kann eine Geschichte in manchmal nur 20 Seiten entwerfen. Dabei zeichnet er auch absolut glaubhafte Charaktere und lässt sie reden wie sie halt so reden. Sehr toll. Die Geschichten fand ich alle toll geschrieben. Ein paar empfand ich als "gnadenlos". Er beschönigt nicht.
Kurzgeschichten, die von Zuschnitt, Personenkonstellationen und Erzählweise her sehr unterschiedlich sind, aber allesamt zu Ende gelesen werden wollen. Sehr gut!
Beim mehr oder weniger alltäglichen Laufen im Treptower Park oder der Rummelsburger Bucht hat's sich mittlerweile etabliert, dass ich, statt Musik, den - mit Verlaub - fantastischen Deutschlandradio-Podcast Lesart höre. Ein werktägliches Magazin, das sich - Überraschung - mit aktuellen Buchveröffentlichungen beschäftigt und dabei zu gleichen Teilen tagespolitische Themen und entsprechende Releases wie auch Klassiker abhandelt.
Vor knapp acht Jahren las ich Rothmann's Milch und Kohle, welches mir als äußerst angenehm in Erinnerung geblieben ist. Da wurde ich freilich hellhörig, als es bei der Lesart plötzlich hieß, Rothmann hätte ein neues Buch veröffentlicht.
Kurzgeschichten oder Erzählungen reizen mich normalerweise gar nicht; das prosaische Schinkenformat ist mir eigentlich viel lieber, da hier sowas wie ein Beziehungszwang zum Werk besteht: Man muss Zeit investieren, um Glück spürbar zu machen (das trifft natürlich nich' auf den Zauberberg zu, ganz klar, haha), daher bin ich bei erwähnten Formaten grundsätzlich sehr skeptisch. Rothmann allerdings kann diese im Umfang stark limitierte Spielart der Erzählung ganz vorzüglich!
Egal, ob es ein Tagesausschnitt des Potts der 80er, ein unmoralisch-romantischer Roadtrip in Südamerika oder die Beschreibung des Aktes einer Pferdekopulation auf dem Bauernhof ist; Rothmann schafft es meisterhaft, allem ein - mal mehr, mal weniger - poetisches Timbre zu verleihen, den Ernst des Moments in aller Radikalität zur Schau zu stellen und beweist damit ein Höchstmaß an literarischer Finesse. Der erschütternde Realismus, Naturalismus, die schiere Vehemenz des Echten, die es an bestimmten Stellen (ganz gewiss) aller hier gesammelten Erzählungen zu finden gibt, ist wahrhaft schwindelerregend, begeisternd, groß!
Es ist also immer noch das Format, das mich etwas verhalten zurücklässt: Einerseits lädt der flüchtige Exkurs zu höchstem literarischen Genuss ein, andererseits sind die Stücke selbst so kurz und intensiv, dass langfristig wenig mehr als eine gewisse naive Wehmut bleibt. Um die obig verwendete Metapher der zwischenmenschlichen Beziehung nochmal aufzutun: Rothmann's Erzählungen haben zweifelsfrei ein inherent-orgasmisches Moment.
Natürlich muss ich hier eine klare Empfehlung aussprechen, denn Rothmann gehört ganz gewiss zur Speerspitze der deutschsprachigen Erzählerelite. Völlig egal, ob das der Waschzettel im Buch gleichermaßen behauptet oder das Deutschlandradio ein Feature macht. Wenn der Herr es schaffen sollte, mich anno 2021 auf Romanlänge (nochmal und/oder) auf ähnliche Weise zu begeistern, wird er sich wohl oder übel in den Reihen meiner Großen, zwischen Hamsun, Bernhard und Neumann, wiederfinden müssen. Famos!
Vor mehreren Jahren hatte ich von Rothmann ‚Im Frühling sterben‘ gelesen und fand es etwas langatmig. Bei diesem Kurzgeschichtenband gibt es einige sehr gute (v.a. ‚Hotel der Schlaflosen‘, ‚Auch das geht vorbei‘, ‚Der Wodka des Bestatters‘) und weniger gute Erzählungen (v.a. die Reiterhof- und die Mexiko-Erzählung). Manche Lebenswelten sind mir schlichtweg fremd (Ruhrpott, Kohlebau) und so fiel es mir schwer, mich auf manche Erzählungen einzulassen.
Eine Krebsdiagnose zunächst ohne Folgen. Eine beklemmende Szene im sowjetischen Folterkeller. Eine von Schlägen, Prügel und Erniedrigung bestimmte Kindheit, die eine Frau zur Katzenquälerin werden lässt. Das ist der zuweilen deprimierende Stoff, aus dem Ralf Rothmann seine düsteren Erzählungen webt. Schaurig schön und schön schaurig. Und unbedingt lesenswert.
“Fear is a man’s best friend.” Diesen Satz hat Ralf Rothmann seinem Erzählungsband „Hotel der Schlaflosen“ vorangestellt. Und getreu diesem Motto ist es die Angst – in ihren vielen möglichen Facetten –, die die elf Erzählungen verbindet.
Es sind düstere, für die Figuren ausweglos erscheinende Geschichten, die Rothmann seinen Leser*innen präsentiert. Dabei nimmt er uns – auch sprachlich! – mit in unterschiedlichste Milieus, sei es beispielsweise zu einer Konzertprobe, auf eine Baustelle, in die Wüste Mexikos oder auf einen Pferdehof. In jeder Erzählung passiert etwas Schreckliches und doch flammt auch ab und an ein kleines Fünkchen Hoffnung auf.
Besonders gefallen bzw. besser gesagt „bewegt“ haben mich die Erzählungen „Auch das geht vorbei“ (Hier geht es um eine Frau, die als Kind ständig von ihrer Mutter misshandelt wurde und nun als Erwachsene auch ihre Katze quält.) und „Der Wodka des Bestatters“ (Ein alter, vom Alkohol stark gezeichneter Beerdigungsunternehmer identifiziert unter den geborgenen mumifizierten Leichen eines lange zurückliegenden Grubenunglücks seinen eigenen, ihm dennoch unbekannten Vater, der dort mit 23 Jahren ums Leben kam.).
Ralf Rothmanns erzählerischer Einfallsreichtum hat mich sehr beeindruckt. Er bietet auf den 205 Seiten ein breites Spektrum an Schauplätzen, Figuren, Sprache und Themen und taucht tief in die Gefühlswelten seiner Figuren ein. Dies alles in einer starken atmosphärischen Erzählweise und mich sehr berührend. Gerne hätte ich noch weitere Geschichten gelesen.
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"Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz?" ... "Wieder spürte man das Meer, ohne es zu sehen, ein leises Ziehen in der Herzgegend;"
Elf unglaublich gut geschriebene, teils richtig intensive Erzählungen. Sehr sprachgewaltig. Eine Wucht!
Lieblingsstelle: „Noch keine vierzig, hätte ich eigentlich fit sein müssen, klar; Kollegen im gleichen Alter schleppten sonntags jede Menge Kinder durch die Zoos. Aber in meinen Gelenken tickte wohl eine andere Uhr; die bräuchten auch mal ein Frostschutzmittel. Auf der Treppe hielt ich mich neuerdings am Handlauf fest, und musste ich auf die Knie, überlegte ich mir, was ich noch alles erledigen könnte, wenn ich schon mal unten war.“ (Der Wodka des Bestatters)
„Aber am besten verstehen wir es, feine Klingen zu machen, schön graviert. Manche Messer, die man im Ärmel trägt, sind schmal wie Bleistifte und so unglaublich spitz und scharf: Man spürt sie erst kaum, hat nur ein kleines unbehagliches Gefühl.“ (Zitat aus „Der Dicke Schmitt“, Seite 88)
Inhalt und Thema Dieser Erzählband umfasst elf Geschichten, in denen es um Menschen und jenen kleinen Augenblick geht, in dem eine Entscheidung gefällt wird. Diesem Moment ordnen sich alle nachfolgenden Ereignisse unter. Es sind gefährliche Situationen, plötzliche Ereignisse, in denen das Handeln Mut erfordert, oder scheinbar ausweglose Momente, und immer besteht eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten.
Handlung und Schreibstil Der Autor lässt in einer klaren, verständlichen, aber niemals überflüssig erklärenden Sprache seinen Figuren immer die freie Wahl der Entscheidung und des Handelns. Einige der Geschichten sind beklemmend und düster, doch auch hier gibt es mehrere Möglichkeiten, selbst ein Kind nach einer harten Kindheit im Elend könnte es im Erwachsenenleben anders machen und ein Genosse Major kann umdenken, auch wenn er riskiert, dann vom Täter selbst zum Opfer zu werden. Es sind Erzählungen über mutiges und weniger mutiges Verhalten und darüber, sich bietende Chancen zu ergreifen. Eine Geigerin vor dem Konzert, deren Problem nicht nur eine gerissene Seite und die Ersatzseiten im Hotel sind, fragt sich bei der Fahrt durch die Gegend, wo sie aufgewachsen ist „Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz?“ (Seite 16) und in der letzten Geschichte stellt der Protagonist mit Erstaunen fest, dass die Erinnerungen im Alter zu einer eigenen, völlig neuen Realität werden können.
Fazit Elf Erzählungen, elf Situationen und elf Entscheidungen, die uns beim Lesen nachdenklich stimmen, noch lange nachklingen mit der Frage, was wir in einem ähnlichen Fall tun würden oder vielleicht getan hätten.
Von schmunzeln bis schockiert sein, diese Erzählungen fesseln den Leser. Rothmann verarbeitet sehr verschiedene Themen. Die Erzählungen bieten kontrast- und facettenreichen Stoff. Ich habe sie sehr zügig mit Genuss gelesen. Am besten hat mir die Erzählung Das Sternbild der Idioten gefallen, eine Geschichte aus dem alten Westberlin. Beim Lesen sah ich sie förmlich wieder auferstehen, die 80er in der geschützten Zone.
Schön in der Sprache und schmerzlich im Inhalt sind diese Geschichten, nach denen man oft eine Pause braucht, um sich wieder zu sammeln. Das ist große Kunst und eine uneingeschränkte Empfehlung zum Lesen.
Una serie di racconti di discontinua intensità. Rothmann scrive bene: i suoi personaggi sono ben tratteggiati e credibili, ma non tutte le storie presenti in questo volume sono riuscite a catturare la mia attenzione. "Ciccio Schmitt" vale tutto il libro.
Kurzgeschichten sind wieder modern und Ralf Rothmanns „Hotel der Schlaflosen“ spielt ganz vorne mit. Die eher melancholischen Reisen in verschiedenste Leben und Zeiten ziehen den Leser und die Leserin in ihren Bann und regen dauerhaft zum Denken an. Teils auch grausam, aber immer realistisch und nicht absurd folgen wir unterschiedlichsten Schicksalen. Ein mitreißendes und anderes Leseerlebnis für anspruchsvolle Liebhaber!