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Aufschreibesysteme 1800/1900

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Wenn bei einer Habilitationsschrift insgesamt 13 Gutachten notwendig sind, um zu einer Einigung zu kommen, muß vermutlich - eine sachliche Diskussion vorausgesetzt - zweierlei strittig sein: inhaltliche Befunde oder Thesen, die dem Gegenstandsbereich des Fachs nicht eindeutig zugeordnet werden und formal eine zumindest umstrittene Argumentationsweise. Über beides kann bei Friedrich Kittlers Aufschreibesystemen trefflich gestritten werden: inhaltlich fordert er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel der Literatur-, wenn nicht sogar der Geisteswissenschaften; formal bleibt die Beurteilung von Argumentation und Stil des Buchs jedenfalls eine Geschmacksfrage.

Worum geht es? Friedrich Kittlers zentrale Einsicht liegt darin, daß Texte vor allem durch ihre "Machart" - d.h. durch die Art und Weise wie sie technisch hergestellt werden - bestimmt sind. Präziser gesagt geht es Kittler um die Frage, wie Diskurse durch sich wandelnde technische Medien gestaltet werden. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisbaren Formationen des Diskurses nennt er "Aufschreibesysteme": "Das Wort Aufschreibesystem […] kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben." (S. 519) In seiner Studie untersucht er zwei exemplarische Epochenschwellen, die sich jeweils durch die Durchsetzung eines neuen Aufschreibesystems auszeichnen: Die Jahre um 1800, in denen die allgemeine Alphabetisierung einsetzt, und die Jahre um 1900, in denen die technische Datenspeicherung beginnt.

Entgegen den Gepflogenheiten seines Fachs macht Kittler nicht die Interpretation literarischer Texte, sondern die Analyse der technischen Bedingungen der Aufschreibesysteme zum Gegenstand seiner Untersuchungen: "Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informationsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformationen noch nicht. Archäologen der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen. Gerade die Literaturwissenschaft kann nur lernen von einer Informationstheorie, die den erreichten technischen Stand formalisiert anschreibt, also Leistungen und Grenzen oder Grenzen von Nachrichtennetzen überhaupt meßbar macht. Nach Sprengung des Schriftmonopols wird es ebenso möglich wie dringend, sein Funktionieren nachzurechnen." (S. 519) - Daß Kittler hier vom "Nachrechnen" schreibt und damit auf einen Begriff der Informationstechnik zurückgreift, ist kein Zufall. Vielmehr gehört dies zu seiner (in späteren Schriften noch deutlicher formulierten) Forderung nach einem Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft: hin zu einer Wissenschaft von den technischen Bedingungen der Informationsspeichersysteme.

Er bricht deshalb mit den Regeln der herkömmlichen Literaturwissenschaft nicht nur, indem er ihr einen neuen Gegenstand verschreibt, sondern auch indem er traditionelle, an einem hermeneutischen Verstehenskonzept orientierte Analysemethoden verabschiedet: "Um solche Regelkreise von Sendern, Kanälen und Empfängern zu beschreiben, helfen Momentaufnahmen weiter als Geistesgeschichte." (S. 520f.) Entsprechend seiner Orientierung an den Methoden des Poststrukturalismus gehört es deshalb zu Kittlers Ansatz, daß aus diesen vielen "Momentaufnahmen" eben kein "Gesamtbild" entstehen kann - keine Zuordnung eines "Gesamtsinns" zu einer Anzahl beobachteter Phänomene möglich ist.

Faszination und Verwirrung markieren die Diskussion um die Aufschreibesysteme: Das Buch hat wie kaum ein zweites in den letzten Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften Epoche gemacht. Kittlers neuer Ansatz wurde ebenso heftig abgelehnt wie als Bereicherung und erwünschte Erweiterung (oder Neuorientierung) des traditionellen Blickwinkels erfreut aufgenommen.

524 pages, Paperback

First published January 1, 1985

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About the author

Friedrich A. Kittler

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Friedrich Kittler was a literary scholar and a media theorist.

Kittler is influential in the new approach to media theory that grew popular starting in the 1980s
Kittler's central project is to "prove to the human sciences [...] their technological-media a priori" (Hartmut Winkler), or in his own words: "Driving the human out of the humanities",[4] a title that he gave a work that he published in 1980.

Kittler sees an autonomy in technology and therefore disagrees with Marshall McLuhan's reading of the media as "extensions of man": "Media are not pseudopods for extending the human body. They follow the logic of escalation that leaves a written history behind it.

Among Kittler's theses was his tendency to argue, with a mixture of polemicism, apocalypticism, erudition, and humor, that technological conditions were closely bound up with epistemology and ontology itself. This claim and his style of argumention is aptly summed up in his dictum "Nur was schaltbar ist, ist überhaupt"—a phrase that could be translated as "Only that which is switchable, exists" or more freely, "Only that which can be switched, can be."

He studied German studies, Romance philology and philosophy at the Albert Ludwigs University of Freiburg in Freiburg im Breisgau. During his studies, he was influenced by Jacques Lacan's, Michel Foucault's and Martin Heidegger's writings.

In 1976, Kittler received his doctorate in philosophy after a thesis on the poet Conrad Ferdinand Meyer. Between 1976 and 1986 he worked as academic assistant at the university's Deutsches Seminar. In 1984, he earned his Habilitation in the field of Modern German Literary History.

He had several stints as a Visiting Assistant Professor or Visiting Professor at universities in the United States, such as the University of California, Berkeley, the University of California, Santa Barbara and Stanford University.
He was recognized in 1996 as a Distinguished Scholar at Yale University and in 1997 as a Distinguished Visiting Professor at Columbia University in New York.

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Displaying 1 - 2 of 2 reviews
Profile Image for Christina.
16 reviews4 followers
Read
August 25, 2007
Because hard stuff to read likes to make think that you feel better about yourself. That you are better, and that the world will be a better place because of the fact you read and understood this book. Because it's the most impenetrably brilliant and impossibly absurd piece I've read. It talks about discourse and, at least for me, quite literally reproduced its own discourse because for months I couldn't shut up about it (the book.) I can't pretend I entirely understand, although I daily pretend to partially do so. It also gives such a great "reading" of the "recording angel" logo that it will get tattooed on my arm, or re-inscripted, as it were.
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