1977 startete die RAF ihre »Offensive 77«, wurde in Paris das Centre Pompidou eröffnet, in Kalifornien der Apple II lanciert – und das Internet erfunden. Was bedeuten diese merkwürdigen Gleichzeitigkeiten? Warum sprach zur selben Zeit Jimmy Carter von den »human rights«, sprachen schwarze Aktivistinnen von »identity politics«, Esoteriker vom »New Age« und Architektinnen von »symbolischen Formen«? Warum gleichzeitig Punk, Disco und Hip-Hop? Und warum sagte Michel Foucault 1977: »Wir müssen ganz von vorne beginnen«?
Philipp Sarasin untersucht in seinem Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die diese und andere Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden – und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann. 1977 führt uns ein Jahr vor Augen, in dem nur die Unsicherheit gewiss und die Ahnung verbreitet war, dass die alten Koordinaten der industriellen Gesellschaft in Zukunft keine Orientierung mehr bieten würden. Eine phänomenale Zeitreise in die Geschichte unserer Gegenwart.
Das Buch ist recht umständlich und nicht besonders schön geschrieben, in seiner Materialfülle aber dennoch interessant. Ich finde aber nicht, dass es Sarasin gelingt, sein Gestaltungsprinzip (die nacheinander erzählten Wirkungsgeschichten zufällig 1977 gestorbener Personen) schlüssig zu erklären, obwohl er sich dafür Dutzende Seiten nimmt.
Davon abgesehen: je mehr Bücher mir unterkommen, die sich auf ein bestimmtes Jahr fokussieren, desto ahistorischer und banaler scheint mir dieser Vermarktungstrick.
Sarasin verfolgt in dem Buch einen innovativen und spannenden Ansatz. Anhand eines Jahres soll ein Wandel bzw. Bruch innerhalb der Moderne verdichtet beschrieben werden und damit Reckwitz gewissermaßen historisch unterfüttert werden, da es Sarasin auch um den Wandel von der Moderne der Allgemeinheit zur Moderne der Singularitäten geht. Spannend fand ich auch den Versuch, diesen Bruch mithilfe von fünf Biografien zu zeigen, die 1977 endeten. Personen also, deren Leben paradigmatisch für die Moderne des Allgemeinen seien.
Leider geht das Konzept so nicht auf. Vielleicht wollte Sarasin mehr als sein Konzept hergibt oder er hat das falsche Jahr bzw. nicht die richtigen Personen ausgesucht, jedenfalls passt nur wenig zusammen. Die Verbindung aus Nekrolog und Wandel der Moderne funktioniert eigentlich nur bei Ernst Bloch und dieses erste Kapitel zum Ende revolutionärer Hoffnung und das letzte zum Neoliberalismus haben mir auch wirklich gut gefallen. Warum Sarasin im zweiten Kapitel zur Durchsetzung der Menschenrechte ausgerechnet Fannie Lou Hamer ausgesucht hat, die sich auch schon vor den 1970er Jahren auf die Menschenrechte bezog, bleibt mir schleierhaft. Die Einsicht, dass es im Menschenrechtsdiskurs der 70er Jahre vor allem um individuelle Opfer ging (und sich damit auch Singularität zeige), klingt erst einmal einleuchtend, wenn man Berichte von Amnesty International betrachtet. Allerdings funktionierten deren Berichte schon in den 1960er Jahren so und weitet man den Blick auf die großen Kampagnen (etwa zu Chile oder den sowjetische Juden) der Zeit, dann stimmt das einfach nicht (in Deutschland etablierte sich zu dieser Zeit etwa auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, die dezidiert nicht Individuen in den Blick nahm). Noch weniger hat mich überzeugt, dass die Helfer als Individuen angesprochen werden. Das ist erst einmal nichts Neues. Gleichzeitig sind die Hilfsaktionen auch weiterhin Momente, in denen sich Nationen als helfende stilisieren. Mehrfach hatte ich den Eindruck, dass Sarasin nicht von offenen Fragen ausging, sondern an so vielen Stellen wie möglich eine Entwicklung zur Singularität finden wollte. Dazu werden Prozesse manchmal zurechtgebogen und schlussendlicht ist das für mich eher ermüdend als erkenntnisbringend.
Mit den nächsten zwei Kapiteln konnte ich wenig anfangen, weil mir die Argumentation und der innerliche Zusammenhang nicht deutlich geworden ist. Inwiefern Identitätspolitik überhaupt Ausdruck von Singularität und nicht ebenso eine Form von Vergemeinschaft ist wie die Nation, scheint mir fraglich. Also ob "hier der Signifikant der 'Identität' […] in neuartiger Weise […] 'Gemeinschaft' zu stiften versprach" (S. 247), scheint mir weniger eindeutig als Sarasin behauptet.
Durch das Kapitel zu "Kulturmaschinen" musste ich mich richtig durchquälen, weil ich den Eindruck hatte, hier wird vor allem gezeigt und weniger argumentiert. An mehreren Stellen im Buch wirkt der Bezug zu 1977 sehr gewollt, z.B. wenn Sarasin mehrfach darauf hinweist, dass ein Buch in diesem Jahr in der zweiten Auflage erschien oder in der Übesetzung. Oft ließe sich auch genauso gut ein anderes Jahr wählen. Der Durchbruch des Neoliberalismus hätte sich z.B. auch mit der Wahl von Thatcher 1979 beschreiben lassen oder mit dem Nobelpreis für Hayek 1974. Inkonsequent ist außerdem, dass Sarasin häufig in der Zeit zurückgeht, aber nicht vorausblicken möchte. Außer im Schluss, den ich den schwächsten Teil des Buchs fand. Hier entwickelt Sarasin eine Perspektive auf die Gegenwart, die auch ganz ohne seine historische Betrachtung ausgekommen wäre und mir keine neuen Erkenntnisse eröffnet. Wirklich geärgert habe ich mich dann über Aussagen, dass bestimmte Entwicklungen der Gegenwart wie etwa die Auseinandersetzung um "Fake News", die bei Sarasin unter "Verschiebung der Wahrheitsregeln" diskutiert werden, als "Erbe von 1977" (S. 426) beschrieben werden. Dann ist es eben nicht Foucault, sondern Paul Feyerabend, der Schuld daran sein soll, dass Fox News und Trump lügen. Mit solchen absurden Kontinuitäten hat der Autor mir leider den Spaß an der Lektüre verdorben, den ich eigentlich als klug schätze.
Das poppige Design der Hardcoverausgabe führt in die Irre, wenn man ein populärwissenschaftlich-nostalgischen Rundblick über die Jugend der Boomer-Generation erwartet. Das Taschenbuch erschien in der Reihe stw und ist damit wesentlich treffender charakterisiert: Hier geht es zuweilen ziemlich beinhart theoretisch zu, wer von Michel Foucault oder Paul Feyerabend noch nie gehört hat, sollte hiervon besser die Finger lassen. Auch der Titel kann falsche Erwartungen wecken, wenn man eine ereignisgeschichtlich orientierte Darstellung erwartet, wie sie etwa Frank Bösch mit "1979" vorgelegt und sich damit auf ein Jahr bezieht, das in seiner Ereignishaftigkeit auf den ersten Blick weit eher als Epochenzäsur erscheint. Sarasins Darstellung ist eher eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte der späten 70er Jahre, die Festlegung auf das Jahr 1977 erscheint zuweilen etwas konstruiert, manche Prozesse reichen in die späten 60er oder frühen 70er zurück oder entfalten ihre wahren Folgen erst später. Aber die These, dass hierin zahlreiche Anstöße für die Entwicklung einer "Gesellschaft der Singularitäten" entstand, leuchtet ein. Dem Autor gelingt es, strukturgeschichtliche Schneisen in eine Epoche des Umbruchs zu schlagen, wobei er eher geschichts- und gesellschaftststheoretisch als faktenorientiert argumentiert: Mit klassischer Quellenarbeit, insbesondere quantitativem Material hat er es nicht so. Das lässt das Buch manchmal etwas arg kopflastig wirken. Auch wäre die ein oder andere Abbildung hilfreich gewesen, das hätte umständliche Beschreibungen von Bildquellen erspart. Und manchmal ist Sarasin etwas schnell mit politischen Zuschreibungen wie "links" und "rechts" (Reinhard Koselleck etwa mag ein konservativer Historiker sein, aber das politische Label tut ihm meiner Ansicht nach Unrecht). Insgesamt aber hätte ich sicher mit vielen der behandelten Themen von selbst kaum befasst, habe aber die Lektüre als gewinnbringende Horizonterweiterung empfunden.
Das Mäandern durch das Jahr 1977 macht Spaß weil es so voller Material ist: Man trifft Kommunisten, Genetiker, Farrah Fawcett, die ersten PCs (und die Frage: Was kann man damit tun? Z.B. Haushaltsfinanzen organisieren), Donald Trump. Das Jahr wird als Startschuss inszeniert für eine Entwicklung, die in einer Erosion des Allgemeinen mündet / münden wird. Spätestens beim Schlusskapitel hört der Spaß auf, der Autor ist pessimistisch: "Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen ... können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch." Wie er das zusammenbindet gefällt mir nicht, so als unausweichliche Seiten einer Medaille. Wenn dem so ist, dann hätte ich das doch gerne begründet. Wenn allgemein anerkannt wird, dass es eben nicht nur die eine allgemeine Erfahrung / Wahrheit gibt (was noch nicht Mal so ist), heißt es noch lange nicht, dass nichts mehr als Unsinn benannt werden kann. Hach, ich hätte mir gewünscht, er macht mehr am Schluss, erklärt mehr, macht seine Methode klarer. Dass bleibt alles so als totaler Klumpen in der Luft hängen.
Warum eigentlich 1977 und nicht '76 oder '78? Diese Frage kann Sarasin nur bedingt beantworten.
Als deutscher Leser denkt man natürlich an das im Deutschen Herbst manifestierte endgültige Scheitern linker Träume von der Weltrevolution. Ob der erstmals 1977 von Richard Dawkins verwandte Begriff des Mems als Beitrag zur schon in den Siebzigern intensiv geführten Debatte um Soziobiologie und Genetik nicht langfristig bedeutsamer sein wird, muss sich noch zeigen.
Richtig liegt Sarasin allerdings mit seiner einen spektakulär breiten Rahmen von Trends, Entwicklungen, Kontroversen abdeckenden Studie schon: Die Siebziger sind eine Trendwende, wenn nicht sogar ein Ende des seit der Französischen Revolution laufenden Projekts der Moderne. Und sie sind der Urgrund vieler, praktisch aller Strömungen unserer Zeit: vom Liberalismus Hayeks über feministische Identitätspolitk bis hin zur Stadt der Gegenwart als Raum von Zeichen/Chiffren.