Die Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens sind die Wiege der Mathematik. Der international angesehene Mathematikhistoriker verfolgt die Geschichte mathematischen Denkens vom 4. Jahrtausend v. Chr. bis zum 20. Jahrhundert. Er schildert die mathematischen Ideen, Methoden und Ergebnisse ebenso wie die Kulturen, in denen sie sich in Wechselwirkung zur Gesellschaft entwickelten. Band 1 umfasst die Zeit von den Ursprüngen bis zum 17. Jahrhundert. Spannende Lektüre für Mathematiker und alle, die sich für Mathematik als Kulturtechnik interessieren.
Hans-Ludwig Wußing (October 15, 1927 in Waldheim – April 26, 2011 in Leipzig) was a German historian of mathematics and science. Wussing is the author of numerous scientific historical publications, the author of many mathematicians' biographies, and co-editor of several series of publications, including biographies in the Teubner Verlag, and several volumes in the series Klassiker der exakten Wissenschaften (Ostwald's Classics of the Exact Sciences), in particular on Euler's work on functional theory, Gauss's diary, and Felix Klein's Erlangen program. In 1993 he was awarded the Kenneth O. May Prize.
Ich habe mir den Spaß erlaubt, zwei monumentale Werke der Mathematikgeschichte – „The Maths Book“ und „6000 Jahre Mathematik“ von Hans Wußing (1927–2011)– miteinander zu vergleichen. Mein Ziel war es, nicht nur ihre Inhalte zu betrachten, sondern die tieferliegenden philosophischen Grundannahmen zu beleuchten, die ihre unterschiedlichen didaktischen Ansätze prägen. Während das eine Werk durch klare, visuell gestützte Darstellungen eine heroische, entdeckungsbasierte Erzählung bietet, entfaltet das andere eine dicht gewebte, historisch-philosophische Analyse. Die Frage, die diesem Vergleich zugrunde liegt, lautet daher: Wie spiegeln Form und Stil der Darstellung die jeweilige Auffassung davon wider, was die Geschichte der Mathematik eigentlich ist? Die Analyse der beiden Werke zeigt, dass ihre unterschiedlichen didaktischen Ansätze eng mit ihren jeweiligen philosophischen Weltanschauungen verknüpft sind. „The Maths Book“ erfüllt seine didaktische Aufgabe der Vereinfachung auf brillante Weise, indem es eine heroische, entdeckungsbasierte Erzählung der Mathematik präsentiert. Diese Zugänglichkeit erkauft es jedoch durch den Verzicht auf historische und philosophische Nuancen. Im Gegensatz dazu bietet „6000 Jahre Mathematik“ eine tiefgründige, wissenschaftlich und philosophisch reichhaltige Darstellung der Mathematik als kulturelles Produkt. Seine akademische Strenge und dichte Prosa/Darstellung schränken jedoch das Publikum ein. Die didaktische Form jedes Buches ist kein neutraler Behälter für historische Fakten. Die infografikgestützte, lineare Struktur von „The Maths Book“ dient als natürliches Vehikel für eine platonische Sicht auf die Mathematik. Die dichte, textzentrierte und vielschichtige Struktur von Wußings Werk ist notwendig, um eine historistische Philosophie der Mathematik zu vermitteln. Die Art, wie die Geschichte erzählt wird, ist zugleich eine Aussage darüber, was diese Geschichte bedeutet. Beide Ansätze haben ihren eigenen, unverzichtbaren Wert. Das Modell von „The Maths Book“ eignet sich hervorragend, um Interesse zu wecken und Wissen zu demokratisieren, und bietet einem breiten Publikum einen leicht zugänglichen Einstieg. „6000 Jahre Mathematik“ von Wußing ist für die ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung unerlässlich: Es liefert die Tiefe, den Kontext und die philosophische Strenge, die erforderlich sind, um Mathematik nicht nur als Sammlung von Resultaten, sondern als eine der komplexesten intellektuellen Reisen der Menschheit zu verstehen. Die beiden Werke erzählen die Geschichte der Mathematik nicht nur unterschiedlich; sie verkörpern zwei oft unübersetzbare Philosophien darüber, was diese Geschichte eigentlich ist. Besonders hervorzuheben ist, dass Wußing in seinem kulturgeschichtlichen Ansatz Afrika eine bislang seltene, nun aber zentrale Rolle zuschreibt. Während „The Maths Book“ sich auf die bekannten Hochkulturen konzentriert und Artefakte wie den Rhind-Papyrus hervorhebt, öffnet „6000 Jahre Mathematik“ den Blick für die Ursprünge mathematischen Denkens jenseits dieser klassischen Zentren. In einem eigenen Kapitel zur Ethnomathematik widmet Wußing Afrika explizit Aufmerksamkeit und behandelt etwa die Sona-Geometrie sowie den Ishango-Knochen – ein rund 20.000 Jahre altes Artefakt aus dem heutigen Kongo, das als eines der frühesten Zeugnisse mathematischer Abstraktion gilt. Indem Wußing diesen prähistorischen Zählstab in seine Erzählung integriert, verlagert er den Ursprung der Mathematik symbolisch in das Herz Afrikas und versteht sie als universales, zutiefst menschliches Streben, das weit über die Grenzen der bekannten Hochkulturen hinausreicht. So wird 6000 Jahre Mathematik nicht nur zu einem Werk über Zahlen, sondern zu einem Buch über die kulturelle Vielfalt und Tiefe des mathematischen Denkens selbst. Ein weiterer Aspekt, der „6000 Jahre Mathematik“ besonders hervorhebt, ist die bemerkenswerte Bildauswahl. Wußing nutzt Abbildungen nicht bloß als Illustrationen, sondern als integralen Bestandteil seiner kulturgeschichtlichen Erzählung. Viele der Bilder, die er versammelt, waren mir zuvor unbekannt. Man merkt sofort, dass sie nicht chronologisch, sondern nach inhaltlicher Systematik angeordnet sind – oft in thematisch oder biografisch aufeinander bezogenen Paaren oder Gruppen, die gedankliche Linien sichtbar machen, wo reine Chronologie sie verdeckt hätte. So begegnen sich auf den Seiten d’Alembert und Euler, Lebesgue und Borel, Riesz und von Neumann, Minkowski und Einstein, Hardy und Ramanujan, Cartan und Lie, Ito und Born oder Russell und Whitehead – Korrespondenzen von Geist zu Geist, über Generationen hinweg. Diese Gegenüberstellungen erzeugen eine stille, aber eindrucksvolle visuelle Erzählung: Mathematik als ein Netz von Ideen, Beziehungen und geistigen Resonanzen. Auch die Auswahl der Motive reicht weit über das Erwartbare hinaus. Der Grabstein Jakob Bernoullis im Basler Münster mit der „logarithmischen Spirale“ steht neben Eulers Grabmal auf dem Lazarus-Friedhof in St. Petersburg – beide Bilder zusammen bilden eine Art Meditation über Vergänglichkeit und geistige Unsterblichkeit. Ein Möbiusband, als Skulptur vor der Deutschen Bank in Frankfurt, erinnert daran, wie mathematische Ideen in die Alltagskultur eingedrungen sind. Das Denkmal Lobatschewskis, das zerstörte Geburtshaus von Gauß in Braunschweig oder das Abel-Denkmal in Oslo zeigen, wie unterschiedlich Nationen mit ihrem mathematischen Erbe umgehen. Wußing integriert auch überraschende kulturelle Querverbindungen: Porträts von Debussy und Ravel illustrieren die Nähe von Musik und Mathematik, während das Titelblatt von Ludwig Bieberbachs „Die völkische Verwurzelung der Wissenschaft (Typen mathematischen Schaffens)“ ein düsteres Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte aufschlägt. Der „Cantor-Würfel“ in Halle, van der Waerden bei einem Vortrag 1979 in Heidelberg, die Doppelporträts von Markow und Kolmogorow oder Gödel und Tarski führen die Linie des mathematischen Denkens bis ins 20. Jahrhundert fort. Das Bourbaki-Panorama in Luzern verweist schließlich auf den ironischen, fast mythischen Selbstbezug moderner Mathematik. Besonders eindrucksvoll sind die fotografischen Zeugnisse der Orte des Gedenkens: das Rondell der Göttinger Nobelpreisträger, arrangiert im „Gaußschen 17-Eck“ auf dem Stadtfriedhof; Hilberts Grab mit dem berühmten Spruch „Wir müssen wissen. Wir werden wissen.“; und das Bild von Richard Courant als Frontsoldat 1915, das die menschliche Zerbrechlichkeit hinter mathematischer Größe sichtbar macht. Selbst das Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach – das ich im August dieses Jahres erstmals „besuchen“ konnte, wenn auch nur von außen, da man ohne Einladung nicht eingelassen wird – erhält durch Wußings Darstellung einen beinahe mythischen Glanz als moderner Tempel des mathematischen Geistes. All dies zeigt, dass Wußing die visuelle Dimension seines Werkes nicht als schmückendes Beiwerk begreift, sondern als Teil einer bewussten Systematik. Die Bilder sind Denkfiguren, Spiegel kultureller Tiefenschichten, Resonanzräume zwischen Leben und Werk. Seine Auswahl bezeugt ein enzyklopädisches Wissen, das von Sensibilität für Zusammenhänge getragen ist – und zugleich die Schönheit des mathematischen Denkens sichtbar macht, in Form, Gestalt und Gesicht. Schmerzlich habe ich in Wußings Werk ein Bild des Ishango-Knochens vermisst – und gerade in dieser Leerstelle spüre ich das Vermächtnis eines Forschenden, der die Mathematik als universales, zutiefst menschliches Denken begriff.