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Vierundsiebzig

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Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt. Es geht darum, hinzusehen, zuzuhören, Zeugnis abzulegen, Bilder und Berichte mit der eigenen Geschichte zu verbinden, mit einem Leben als Journalistin und Autorin in Deutschland.

Ronya Othmann erschafft ein Werk von ungeheurer Dichte, notwendiger Klarheit und Härte. Ihre Stimme ist eine der Diaspora, die auch in den Lesenden tiefe Spuren hinterlässt.

512 pages, Hardcover

Published March 12, 2024

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1536 people want to read

About the author

Ronya Othmann

7 books68 followers
Ronya Othmann, geboren 1993 in München, studiert seit 2014 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie arbeitet als Autorin und Journalistin, schreibt Lyrik, Prosa und Essay. Mit Cemile Sahin schreibt sie zusammen die Kolumne OrientExpress in der taz. Sie war Mentee im Mentoring-Programm der Neuen deutschen Medienmacher*innen.

Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet u.a. mit dem Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Lukas 2015, den MDR-Literaturpreis 2015. 2017 gewann sie den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essay und den Open Mike für Lyrik, 2018 erhielt sie mit Beliban zu Stolberg und Eser Aktay zusammen das Grenzgängerstipendium für die Türkei der Robert-Bosch-Stiftung. 2019 erhielt sie den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für ihren Text„Vierundsiebzig“ über den Genozid an den Ezîden und den Gertrud Kolmar Förderpreis für ihr Gedicht „Ich habe gesehen“.

Veröffentlichungen u.a. in edit, Text+Kritik, Taz am Wochenende, Literaturbeilage von DER SPIEGEL, Zeit Online, Jahrbuch der Lyrik, edit und glitter.

2015 organisierte sie die kurdischen Filmtage Leipzig und 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok, Kurdistan, Irak.

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Profile Image for Elena.
1,031 reviews413 followers
September 9, 2024
"Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. Ein Tonband, ein Filmband. Ein Tonband, das nicht kaputtgeht von dem, was es hört. Ein Filmband, das nicht kaputtgeht von dem, was es sieht. Und das, was es gesehen hat, wiedergibt, beim ersten Mal wie beim zweiten wie beim dritten, beim vierten Mal, und nicht von Erinnerungen und Vergessen überschrieben wird." - Ronya Othmann, "Vierundsiebzig"

In "Vierundsiebzig" dokumentiert Ronya Othmann ausgehend vom 3. August 2014, dem Tag, an dem IS-Terroristen das von der êzîdischen Minderheit besiedelte Gebiet im Sin­dschar-Gebirge im kurdischen Irak überfielen, Tausende ermordeten, entführten und versklavten, den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung. Schwer auszuhalten ist ihr rund 500 Seiten langer Text, der nicht wirklich in die Form eines Romans passt, mehr notwendiges Zeitdokument, Biographie und Reisebericht in einem ist. Die 1993 in München geborene Autorin bereist mit ihrem kurdisch-êzîdischen Vater ehemalige êzîdische Dörfer, trifft dort Verwandte und Überlebende in Camps, recherchiert in Büchern und besucht den Gerichtsprozess der deutschen IS-Terroristin Jennifer W. und ihrem irakischen Ehemann in Deutschland. Das Ehepaar hatte nach dem 3. August 2014 eine êzîdische Mutter und ihre Tochter als Sklavinnen gekauft und das Kind im Hof verdursten lassen. Immer wieder kehrt Ronya Othmann zum vierundsiebzigsten Massenmord, dem 3. August 2014, zurück, er bildet einen Rahmen für diese beeindruckende, beklemmende und erschütternde Rechercheleistung. Das Buch ist unbedingt lesenswert, es ruft den Genozid an der êzîdischen Bevölkerung ins Gedächtnis und macht deutlich, dass allein durch das Framing des Völkermords als Genozid 2023 im Deutschen Bundestag kein Schlusspunkt gesetzt werden darf - denn die Gewalt und Verfolgung der Êzîd*innen dauert weiter an.
Profile Image for mitkaffeeundkafka.
67 reviews106 followers
September 19, 2024
»Vierundsiebzig« von Ronya Othmann ist meiner Meinung nach zurecht auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreis und mein persönlicher Favorit.

Othmann hat mit ihrem Buch etwas von beeindruckender Tiefe und Intensität erschaffen, das weit über eine bloße Erzählung hinausgeht. Sie dokumentiert die Schrecken des Genozids an der êzîdischen Bevölkerung am 3. August 2014 in Shingal im Nordirak durch den IS. Êzîdische Männer wurden ermordet, Jungen als Kindersoldaten zwangsrekrutiert, Frauen und Mädchen entführt, misshandelt, vergewaltigt und in die Sklaverei verkauft, Dörfer und Tempel zerstört. Êzîd*innen wurden vertrieben, leben zum Teil noch immer in Camps. Viele werden bis heute vermisst. Es ist eine jahrhundertelange Geschichte der Gewalt und Verfolgung. Der 3. August 2014 war der 74. Völkermord an den Êzîden, der »Ferman 74«.

Othmann reist mit ihrem Vater in die zerstörten Gebiete, zu den Ursprüngen und Tatorten. Sie reist an die Frontlinien, in die Camps, zu Verwandten. Sie sieht hin, hört zu und schreibt. Versucht Worte zu finden, Zeugnis abzulegen. Eindrucksvoll verwebt Othmann die Begegnungen mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Identität und Herkunft.

»Ich schreibe: Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache.« S. 13

Trotz der inhaltlichen Schwere zeichnet sich »Vierundsiebzig« auch durch seine literarische Schönheit aus. Mit poetischer, aber klarer Sprache versucht Othmann, das Unaussprechliche greifbar zu machen. Dabei bewegt sie sich zwischen Dokumentation, Essay und autobiografischem Bericht​. Die Verbrechen des Genozids und die Geschichten sind teilweise nur schwer zu ertragen, doch es ist notwendig, sie zu lesen, von ihnen zu hören. Othmann hat mit »Vierundsiebzig« ein Werk gegen das Vergessen geschaffen, ein Buch, das sowohl literarisch als auch politisch relevant ist.
Profile Image for Cule.Jule.
91 reviews85 followers
September 21, 2024
Triggerwarnung: körperliche und sexualisierte Gewalt, Misshandlungen, Krieg, Traumata

Am 03. August 2014 überfielen IS-Terroristen das von der êzîdischen Minderheit besiedelte Gebiet im Sindschar-Gebirge im kurdischen Irak. Es ist der vierundsiebzigste Genozid an der êzîdischen Bevölkerung.

Das Buch umfasst ca. 500 Seiten und greift einerseits die Überfälle mit den Morden, Entführungen und Versklavungen der êzîdischen Bevölkerung auf. Andererseits erhält die Leserschaft Einblicke in die Reise der Autorin, die sie zusammen mit ihrem kurdisch-êzîdischen Vater zu ehemaligen êzîdischen Dörfern unternommen hat. Als Journalistin hat Ronya Othmann Gespräche mit Betroffenen geführt, um zu verstehen, welche Grausamkeiten die Menschen durchleben mussten. Des Weiteren ist die Autorin bei dem Gerichtsprozess der deutschen IS-Terroristin Jennifer W. bis zur Urteilsverkündung anwesend und greift ihre Beobachtungen in dem Buch auf.

Mit einem Mix aus Dokumentation, Essay sowie biographischen Elementen hat die Autorin mit diesem Buch geschafft mir als Leserin schonungslos die Wichtigkeit der Thematik anhand einzelner Schicksale näher zu bringen.

Die Autorin beschreibt Seite für Seite die grausamen Ermordungen und Misshandlungen der êzîdischen Bevölkerung. Die detaillierten Ausführungen sind keine leichte Kost, sodass ich während des Lesens mehrmals Innehalten oder sogar Pausen einlegen musste.

„(…) In dem Video sagt er, er habe gesehen, wie die IS-Kämpfer êzîdische Kinder geköpft und die Köpfe der Kinder dann ihren Müttern gegeben haben. (…)“ (Seite 429)

Frauen und Kinder wurden voneinander getrennt und in die Sklaverei verkauft, wo sie Vergewaltigung, Misshandlung und Entmenschlichung erfuhren. Männer wurden bestialisch ermordet oder mussten durch das Verhungern ihr Leben lassen.

„Über das Darknet soll er sie 2018 zum Verkauf angeboten haben.“ (Seite 271)

Es sind solche Worte und Szenen, die mich während des Lesens erschüttert haben. Eindrücke und Schilderungen, die voller Wucht sind, jedoch gehört und gelesen werden sollten. Die Gewalt und Verfolgung an Ezîd:innen findet weiterhin statt und bekommt durch dieses Buch eine starke Stimme gegen das Wegschauen und Vergessen.

Von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung für diese wichtige Lektüre. Das Gesamtkonzept des Buches sowie die Herangehensweise an diese wichtige Thematik sind in meinen Augen sehr gelungen.

„Ich notiere, dass mein Vater den Kopf schüttelte und sagte: Man kann den IS zwar militärisch besiegen, aber aus den Köpfen kriegt man ihn nicht heraus.“ (Seite 493)
Profile Image for Alexander Carmele.
475 reviews438 followers
Read
October 8, 2024
Eine Stellungnahme, für mich ästhetisch unbewertbar.

In ihrem Text Vierundsiebzig beschreibt Ronya Othmann ihre Reisen in den Irak, nach Shingal, wo am 3. August 2014 der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS) einen dezidierten Massenmord an der jesidischen Bevölkerung begann und verübte, und der mittlerweile als Genozid bezeichnet wird.

Auf den Straßen waren wir alleine, schreibe ich später. Ich sage mir, man muss aufpassen, nicht bitter zu werden. Man muss gegen die eigene Verbitterung anarbeiten, sage ich mir. Freunde vor dem 3. August 2014 waren nach dem 3. August 2014 nicht mehr meine Freunde. Und manche waren es mehr denn je.
2018 bekommt Nadia Murad den Friedensnobelpreis. Und nach und nach fängt man an, die Êzîden zu vergessen. Ich treffe Menschen, die sich nicht mehr an Shingal erinnern können. Die mich ratlos ansehen, wenn ich von Genozid spreche. Ihre Zeit schreitet voran, schreibe ich. Meine ist am 3. August 2014 stehengeblieben.


Mit ungebremster Vehemenz und Verzweiflung berichtet Othmann von ihren Erlebnissen, ihren Schuldgefühlen, ihrer Angst und ihrer Wut. Sie beginnt ihren Text selbst mit den Worten, dass Worte nicht hinreichten, dass Sprache dieses Grauen zu beschreiben nicht mächtig sei. Sie stürzt in die Zeiten, in die Genealogie, in die Vorgeschichte, berichtet von den vielen Massakern, Verbrechen, Morden und monströsen Gewalttaten, die an der êzîdische Bevölkerung verübt worden sind. Im Verzicht auf distanzierte Erzählung, im nackten Wiedergeben dessen, was in ihr rumort und wühlt, betreibt sie keine Literatur, wie bspw. Franz Werfel in Die vierzig Tage des Musa Dagh oder Peter Weiss in seinem Theaterstück Die Ermittlung . Vierundsiebzig beschreibt den 74. Ferman, wie er in dem Sachbuch von u.a. Stefan Gatzhammer Ferman 74: Der Genozid an den Jesiden 2014/15 aufgeführt worden ist, von der Innenperspektive heraus.

Abends sitze ich am Schreibtisch. Um die Schreibtischlampe sammeln sich Insekten. In der schwarzen Fensterscheibe spiegelt sich mein Gesicht. Ich frage mich, wann ich die Kontrolle über diesen Text verloren habe. Oder ob es eine Illusion war, jemals Kontrolle über diesen Text gehabt zu haben. Immer dieselben Passagen, angefangene Sätze, die irgendwo abbrechen, im Nichts zerfransen. Als wäre selbst mein Text ein Trümmerfeld.

Ronya Othmann legt keinen Roman vor. Hier findet keine ästhetische Vermittlung statt. Es gibt keine Kunstfertigkeit des Narrativen, des Ausdrucks, und es gibt auch keinen Einfallsreichtum zu vergleichen, keine Erzählstimme zu extrahieren, keine Spannungsbögen zu finden. Vierundsiebzig stellt ein Dokument dar, und als Dokument steht es außerhalb einer ästhetischen Kontingenz und eines Diskurses, der dem Phantastischen, dem Imaginären Platz in den Gedankenräumen zu verschaffen sucht. Hier wird der Gedanke an die Realität des Unausdrückbaren gefesselt, und stellt sich in die Tradition autobiographischer Verarbeitung von Zwangs- und Todessystemen wie Die Tagebücher der Anne Frank , Alexander Issajewitsch Solschenizyn Der Archipel GULAG oder Hannah Arendt Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen .

Keiner von diesen Texten aber behauptet, ein Roman zu sein. Wieso sich Vierundsiebzig Roman nennt, entzieht sich schlicht meiner Vorstellungskraft.

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Details – ab hier Spoilergefahr (zur Erinnerung für mich):
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Inhalt: Die Ich-Erzählerin Ronya Othmann, berichtet im Nachgang über den 74. Ferman, den Genozid, der 2014/15 von Mitgliedern des Islamischen Staates an den Jesiden, hauptsächlich im Nordirak, rundum der Stadt Shingal, verübt haben. Ronya ist oft in das Gebiet gereist. Das Buch splittet sich in verschiedene Erinnerungswelten auf: Die Ereignisse, die Bilder, die im Zuge des 3. August 2014 stattfinden; eine Reise von ihr im Juni 2018 in den Irak, als sie ihren Onkel Khalef und ihre Cousinen Lava und Lara besucht; als sie als Journalistin mit einer ehemaligen Sängerin, nun Soldatin namens Xate spricht; ihrer Alltag in Deutschland, in Leipzig; die Flucht der Großmutter 2014 und ihr Tod im Februar 2017; ihre Reise 2014, im September, nach Georgien; Zusammenbruch am 3. August 2018 in Chemnitz; Gerichtsverhandlung über IS-Verbrechen (Nora B. gegen Jennifer W. und Taha Al-J.; Nadine K., Ibrahim O.); eine Recherchereise in die Türkei; Besuch von Frau Meriem und Herrn Habib nach Midyat; das Zusammentreffen mit ihren Eltern 2018; Reise mit ihrem Vater und Mam Khalef; Gerichtsbeschlüsse über den Grad der Verfolgung von Jesiden; Reise nach 2019 mit ihrem Vater in den Nordirak, um ein Interview mit Vian Dakhil zu führen; Bundestagsreden 2023; historische Zeugnisse, Layard, Lobdell, Gertrude Bell; eine Reise 2022 mit ihrem Vater in den Irak. Besonders die Reise mit dem Vater 2022 nimmt das letzte Viertel fast vollständige ein: Sie starten in Duhok, Kurdistan, und wollen in den Irak nach Sinjar (Shingal). Sie bekommen aber kein Visum. Sie versuchen illegal die Grenzkontrollen zu passieren, am letzten aber misslingt es. Sie kehren zurück und fliegen mit dem Flugzeug von Erbil nach Bagdad, um von dort aus über Mossul nach Sinune nach Shingal zu reisen.
… vgl. Die Tagebücher der Anne Frank; Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes und Die Ermittlung; Alexander Issajewitsch Solschenizyn: Archipel Gulag. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen.
… über weite Strecke inkohärente Reisebeschreibung, ein Tumult, durchforstet von Reportagen, Interviewfetzen, Informationen, Selbst- und Fremdanschuldigungen, enorm verworren, mit vielen Namen, überlagernden Zeiten, völlig aus den Fugen geratenen Erinnerungsräumen.
Profile Image for Kai Spellmeier.
Author 8 books14.7k followers
November 17, 2024
Othmann schreibt: Früher war unsere Familie zusammen. Wir haben im selben Dorf gelebt. Aber wenn du einen Tonkrug auf einen Felsen wirfst, springen die Scherben in alle Richtungen.
Othmann schreibt: Immer dieselben Passagen, angefangene Sätze, die irgendwo abbrechen, im Nichts zerfransen. Als wäre selbst mein Text ein Trümmerfeld.
Othmann schreibt: Hier kann es keinen fertigen Text geben, keine Entwicklung bis zur Katharsis, keine Erkenntnis, keine Figuren, keinen Plot.
Othmann schreibt: Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin. Der Text als verborgene und aufklaffende Lücke, denke ich.
Othmann schreibt: Ich schreibe, und wenn ich etwas aufgeschrieben habe, denke ich, das ist die Wahrheit. Und dann lese ich es wieder und denke, man müsste es noch ein zweites Mal schreiben, und ich schreibe es ein zweites Mal und denke, so ist es richtig, und dann lese ich es, und nachdem ich es gelesen habe, denke ich, obwohl alles daran stimmt, ist es nicht die Wahrheit.

Othmann schreibt einen der wuchtvollsten und stärksten Texte, den ich je gelesen habe - und lesen werde. Ein Buch, das unvergesslich ist, dem ich kein anderes Buch gleichsetzten kann und will. Es ist eins dieser Bücher, das ich auf ewig empfehlen werde, wohl in dem Wissen, dass kaum jemand ein Buch in die Hand nehmen wird, das auf 500 Seiten versucht, einen Genozid aufzuarbeiten. Obendrauf kommt, dass hier so nüchtern und faktisch wie möglich geschrieben wird: dadurch werden die beschrieben Gräueltaten zwar nicht ausgeschlachtet, aber eben auch nicht verharmlost. Das geht an die Materie. Nur, wenn eine Autorin es über sich bringt, ein Mammutwerk an Recherche und kräftezehrender Arbeit derart akribisch zusammenzutragen, dann ist es mir auch möglich, es zu lesen. Und gelesen hab ich, mit angehaltenem Atem, mit Gänsehaut, mit Tränen in den Augen, und das von der ersten Seite. Othmann entfaltet hier einen derart mächtiges Werk - wenn Worte Berge versetzten könnten, dann Othmanns. Es gab dann doch die ein oder andere Stelle, wo auch ich Durchhaltevermögen beweisen musste, grade gegen Ende. Wenn man Kapitel um Kapitel liest, wie die Autorin fruchtlos versucht, ein Visa zu bekommen, ist das frustrierend und verlangt Geduld. Aber die bringe ich auf. Das Buch verlangt von mir nicht viel mehr, als gelesen zu werden, und das kann ich tun.

Bücher gehen mir dann so richtig unter die Haut, wenn Autor*innen Ungesehenes ans Licht bringen, wenn sie Worte für Unbeschreibliches finden. Genau das passiert hier. Das klingt jetzt alles schrecklich nüchtern, und überhaupt schrecklich. Nur hat dieser Text Sogkraft. Manchmal, und das soll in keinster Weise von seiner Realitätsnähe wegnehmen, kam ich mir vor als läse ich ein Märchen, eines das dich packt und schüttelt und nicht mehr loslässt. Man kann gar nicht anders, als weiterlesen. Ich war in den Bann geschlagen, so beeindruckt war - und bin - ich von diesem Text, der auf so vielen Ebenen wirkt.

Und wie man auch an dieser Rezension sieht: so viele Worte, und doch scheitere ich daran, dem Buch gerecht zu werden.
Profile Image for Ileana (The Tiniest Book Club).
206 reviews34 followers
March 11, 2024
Sehr sehr schmerzhafter autobiografischer Text über die Völkermorde an den Êzîden (vierundsiebzig an der Zahl) und den persönlichen Umgang einer jungen deutschen Autorin mit êzîdischen Wurzeln mit dem Unausprechlichen.
Mit ihrem Debüt „Die Sommer“ ist Ronya Othmann ein bewegender und sehr erfolgreicher Roman gelungen, welcher den Spagat zwischen zwei Welten verdeutlichte, die Zerrissenheit der Protagonistin zwischen einem kleinen êzîdischen Dorf in Nordsyrien und einer deutschen Stadt. Ihr zweites Buch geht Othmann noch persönlicher an, es ist ein Tatsachen- und Reisebericht: Othmann forscht nach und schreibt auf (im Kontrast zur êzîdischen Kultur, die eine narrative ist, sich also nicht auf Schriften, sondern auf mündliches Erzählen stützt), berichtet von Reisen in den Irak, an die Schauplätze des Völkermords des Jahres 2014 durch den IS. Und sie geht noch weiter zurück, befragt ihre Familie, beschäftigt sich intensiv mit den rar gesäten historischen Quellen. Sie wohnt Gerichtsverhandlungen bei. Othmann ist gnadenlos zu sich selbst und auch der Text seziert scharf, ohne den Blick abzuwenden. Das wird sehr deutlich in einer Szene vor einem deutschen Gericht: Aussagen im Prozess gegen die Deutsche Jennifer W., die sich 2014 in Syrien dem IS angeschlossen und ein 5-jähriges êzîdisches Mädchen grausam hat sterben lassen, schreibt Othmann nieder, in all ihrer Unerträglichkeit.
Ich bin relativ abgebrüht beim Lesen harter Stoffe. Aber „Vierundsiebzig“ zu beenden war schwer. Auch, weil die Auslöschung des Êzîdentums nach wie vor voranschreitet.
Die harsche Kritik an Othmann (ihr werden „Islamfeindlichkeit“ und „Zionismus“ nachgesagt, besonders auch von Gruppen in der deutschen Linken), die in ihrer Ausladung beim Literaturfestival in Karatschi gipfelte, wo ein Diskurs inklusive der Stimme Ronya Othmanns wichtig gewesen wäre, wird mit Erscheinen von „Vierundsiebzig“ sicher weitergehen, was ich ausgesprochen erschreckend finde.
Profile Image for Booquinia Renee.
14 reviews6 followers
February 19, 2025
Hass und die Folgen

Was für ein Buch!

Ronya Othmann habe ich schon ihrem Buch „Die Sommer“ kennenlernen dürfen und dieses Kennenlernen habe ich sehr genossen. In „Vierundsiebzig“ übertrifft sie ihr „Die Sommer“ aber haushoch und vollkommen überwältigend.

„Vierundsiebzig“. Schon der Titel ist eine Herausforderung. Vierundsiebzig. Was soll diese Zahl bedeuten? Der IS verübt 2014 in Shingal den vierundsiebzigsten Genozid an den Êzîden. Ein Volk, eine Glaubensgemeinschaft erlebt vierundsiebzig Genozide. Das macht was mit ihren Angehörigen. Wie man dem Buch von Ronya Othmann entnehmen kann.

Vierundsiebzig mal Horror, vierundsiebzig mal Tod und Zerstörung. Die Krankheit der Gier wütet wieder einmal. Und die Welt schaut zu.

Wie kann man darüber nachdenken Êzîden wieder in ihre Heimat zurückzuschicken, da dort ja jetzt Frieden herrscht? Die Täter des IS aber immer noch dort leben. Das verstehe ich nicht und frage mich, ob diese Menschen, die diese Ausweisungen beschließen, wissen, was sie tun und ich frage mich, ob sie ein Gewissen haben und sich selbst noch im Spiegel anschauen können. Können sie. Ich weiß. Menschenfeindliches und unempathisches Gedankengut ist nach wie vor viel bei uns zu finden. Ich weiß. Und es wird leider mehr. Gut geschürt von den Angstmachern.

Ronya Othmann hat in ihrem Buch „Vierundsiebzig“ ein extrem vielschichtiges Buch geschrieben, es trägt biographische Züge, es trägt historisches Wissen um die Êzîden, es trägt kulturelle Informationen zu den Êzîden, es wirft Blicke in die Politik der Türkei, in die Politik von Syrien und auch Blicke in die Politik vom Irak und vom Iran, es trägt historische Informationen zu den vier Staaten, es blickt auf die verschiedenen Genozide und es blickt auf den Umgang der Welt damit. „Vierundsiebzig“ ist ein Blick auf die Täter und die Opfer.

Es ist ein Buch der Gewalt, Gewalt, die den Êzîden angetan wurde. Gewalt, die schwer auszuhalten ist. Und genau wegen dieser Gewalt, dieser Unmenschlichkeit ist es wichtig dieses Buch geschrieben zu haben. Denn die Welt muss aufwachen!

Ebenso ist dieses Buch auch ein Reisebericht, denn Ronya Othmann bereist viele der êzîdischen Gebiete, blickt auf die Gewalt, blickt auf die Folgen, redet mit den Menschen, redet mit den Opfern, blickt auf das Grauen. Hut ab vor dem Mut und der Kraft dieser Autorin! Besonders in den Reisen blickt die Autorin auf die politischen Gebilde und zeigt eine Fragilität, eine lebensgefährliche Fragilität.

Muss es wirklich zur Fünfundsiebzig kommen? Oder kann man dies im Namen der Empathie und der Menschlichkeit verhindern?!?!

Unbedingt lesen!
Profile Image for Literatursprechstunde .
196 reviews93 followers
February 12, 2025
4,5 Sterne

Nicht umsonst stand Ronya Othmann mit „Vierundsiebzig“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024.
Als Tochter einer Deutschen und eines säkularen Jesiden thematisiert sie, stark autobiografisch beeinflusst, den Genozid, der 2014 an den Jesiden verübt wurde durch Terroristen des Islamischen Staats. Sie rüttelt wach, fordert auf hinzusehen, welch Gräueltaten sich im Sindschar-Gebirge zutrugen. Sie berichtet von Traumata, den zerstörten Behausungen, Leben, ja gar ganzer Dörfer, thematisiert einen Münchner Prozess, der gegen eine IS-Anhängerin geführt wurde und wir erfahren persönliches über ihre Beziehung zu ihrem Vater, was auch Gedanken über jesidische Identität hervorruft.

Aber wie kommt es nun zum Romantitel „Vierundsiebzig“?!
Der Titel gibt die Anzahl der Massaker wieder, denen die Jesiden mindestens in der Vergangenheit zum Opfer fielen, 74 historische Verfolgungen, der die Opfer ausgesetzt waren. Ronya Othmann besuchte die Orte des Geschehens im Nordirak ein paar Jahre später zusammen mit ihrem Vater, um mit Überlebenden und deren Angehörigen zu sprechen und sammelte dabei Material über die Geschichte der Jesiden und deren Verfolgung für ihren Roman. Aber Roman trifft es eigentlich nicht ganz, dieses Buch ist noch so viel mehr, vereint sowohl Geschichtsschreibung, Essay, Reiseliteratur, Erzählpassagen und Autobiografie in sich - gespickt mit fiktiven Elementen. Literarisch erforscht sie den Genozid in all seiner Komplexität - sie beschreibt erschütternde Einzelschicksale von Jesiden ebenso wie sie die Aufmerksamkeit auf die juristische und politische Aufarbeitung lenkt.

Besonders hat mich mitfühlen lassen, wie eng die eigene Familiengeschichte der Autorin, mit der des jesidischen Volkes verknüpft ist.
Ich habe unglaublich viel dazugelernt mit dieser Lektüre und habe den Appell der Autorin vernommen: Ich werde hinschauen, Ich werde zuhören!
Ronya Othmanns „Vierundsiebzig“ ist ein Buch, dessen Dringlichkeit man sich nicht entziehen sollte - absolute Leseempfehlung!
Profile Image for Wandaviolett.
468 reviews68 followers
November 23, 2024
Kurzmeinung: Reicht niemals vergessen aus – nein, aber es ist ein Anfang.
NIEMALS VERGESSEN!
Als mittelbar Betroffene nimmt sich Ronya Othmann einer Thematik an, die viel zu wenig Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit gefunden hat, dem Genozid an den Jesiden. Es ist eine kleine Volksgruppe, die nicht viele Fürsprecher hat/te. Viel zu spät, am 19.1.2023 erkannte der Deutsche Bundestag den Genozid an den Jesiden als solchen an. Endlich wurden diese Verbrechen als solche benannt und als Völkermord gebrandmarkt.
Ein Roman ist dieses Buch nicht, es ist eine erzählende Dokumentation und sie geht unter die Haut. Wie kann es sein, fragt man sich, dass religiöse Fanatiker, nämlich der IS, rücksichtslos alle, die ihren Glauben nicht teilen, regelrecht abschlachten und dies fast unwidersprochen und unbemerkt von der Weltöffentlichkeit? Es zeigt sich wieder einmal, je mehr die Unmenschlichkeit um sich greifen kann, je weniger Allgemeinbildung vorhanden ist und je hasserfüllter Menschen Feindbilder aufbauen. Viele genießen auch einfach nur die Macht, die ihnen von einer Ideologie gegeben wird. Hass wird in ihren Handlungen manifest. Hass, der aus dem Nichts kommt und unbegreiflich ist. Und unmenschlich.
Ronya Othmann bereiste die Türkei, Armenien, Teile Syriens und des Irak. Ihre Reisen waren nicht gefahrlos. Sie führte viele Gespräche und war teilweise in Begleitung ihres Vaters, der perfekt arabisch spricht, sich aber weigert, die Sprache der Unterdücker zu benutzen. Als Sprache der Unterdrückung hat er es jedenfalls erfahren und erlebt, lange Zeit saß er in türkischen Gefängnissen.

Fazit: Ein zutiefst berührender dokumentarischer Roman, der einen den Glauben an die Menschheit rauben kann.

Kategorie: Dokumentation.
Rowohlt, 2024
Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, 2024


Profile Image for Jule.
342 reviews14 followers
August 20, 2024
Ronya Othmann nimmt die Leser*innen mit auf ihre persönliche Reise und ihren Prozess der Auseinandersetzung mit den Genoziden an den Êzîd*innen. Es ist ein sehr umfangreicher, informationshaltiger Text, der teilweise verwirrend ist aufgrund der Vielzahl von genannten Orten, Ereignissen und Personen.
Mir fiel es längere Zeit schwer, mich auf den Stil einzulassen. Meines Erachtens handelt es sich eher um einen Text bestehend aus autobiographischen Bezügen, Recherchematerial, Reiseberichten, Sachinformationen und Erlebnisberichten als um einen Roman.
Berührend, deutlich und schonungslos.Ein total wichtiges Buch, von dem ich hoffe, dass es sehr viele Menschen lesen.
Profile Image for Rosa.
80 reviews23 followers
August 24, 2024
#longlistlesen — (6/20)

Ich glaube, ich werde mich in dieser Rezension nur kurz halten. Dieses Buch - ob man jetzt der Eigenbezeichnung „Roman“ zustimmt oder nicht, soll dahingestellt sein - war weltbewegend.

Nicht nur weltbewegend, sondern auch beeindruckend, mitreißend, berührend, aufwühlend und welche sinnstiftenden Adjektive einem noch so in den Sinn schießen wollen.

Ich bin dankbar und ergriffen, dass ich über die Êzîden lernen durfte, über den Genozid, der 2014 das 74. Mal an ihnen verübt wurde. Wieder einmal kann ich nicht anders, als der Literatur dafür zu danken, dass sie mir diese Türen öffnet und mich in eine Welt einführt, von der ich heute Morgen noch nichts gewusst habe.

Ich habe einen ganzen Tag für dieses Buch gebraucht, und mich trotz seiner Länge keine einzige Sekunde gelangweilt. Othmanns erzählerische Fertigkeiten zeigen sich nicht nur in ihrer klaren, aber dennoch persönlichen Sprache, sondern vor allem in der Reihenfolge der Ereignisse, die sie uns vorbringt.

Sich Shingal bis zum Schluss aufzusparen, nachdem sie beinahe das gesamte Buch immer wieder um das, was dort im August 2014 geschah, herumgekreist ist, war ein Höhepunkt, wie ich ihn kaum ertragen konnte. Ich habe so, so viel gelernt und ich glaube, dass ich die Welt nach heute nie wieder mit denselben Augen sehen kann.

Ich möchte mir noch ganz kurz Zeit nehmen, um über den Vater zu sprechen. Ich weiß, dass er kein „Charakter“ in dem Sinne ist, wie er es in einem Roman wäre - aber dennoch finde ich Othmanns Charakterisierung von ihm, und vermutlich auch seine reale Persönlichkeit grenzenlos beeindruckend. Ich bewundere Menschen, die aus so einer Situation entfliehen können, und sich trotz allem der mühevollen Arbeit der Dokumentation verschreiben. Ich habe in Othmann selbst immer wieder die Spuren ihres Vaters gesehen; in seiner furchtlosen Hingabe zur Aufdeckung der Wahrheit. Wie diese zwei gearbeitet haben, hat mich fasziniert und mir restlos imponiert. Ich möchte nicht, dass ihre Arbeit umsonst ist - und ich möchte, dass wir mehr über das sprechen, das den Êzîden immer und immer wieder angetan worden ist.

Fazit: Ich hoffe auf Shortlist und ich hoffe auf den Sieg, schlichtweg weil ich nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr anders kann, als um möglichst viel Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für dieses Thema zu bitten.
Profile Image for Francesco Iorianni.
246 reviews2 followers
September 6, 2025
"Im Jahre 2014 lebten im Irak etwa 500 000 Êzîden. Sie besiedelten zusammenhängende Gebiete im Nordwestirakischen Sindschar-Gebiet und im weiter östlich gelegenen Sheikhan. Im Umkreis des Sindschar-Gebiets lebten bis August 2014 rund 300 000 Êzîden. [...] Zum Zwecke der vollständigen Vernichtung der êzîdischen Religion, des Êzîdentums als solchem und seiner Angehörigen in den vom IS besetzten Gebieten vollzog der IS gegen diejenigen Mitglieder der Gruppe, die im Umkreis des Sindschar-Gebiets ansässig waren, zielgerichtet körperliche Zerstörung der Êzîden in ihrer Gesamtheit."

Dieser Völkermord begann am 3. August 2014. Am 19. Januar 2023 erkennt der Deutsche Bundestag den Genozid an den Êzîden als solchen an.

Ronya Othmann schreibt in ihrem 500-seitigen Roman die Geschichte ihrer Familie, ihrer Vorfahren und einer eliminierten Kulturgeschichte. Sehr detailliert, recherchiert, aber auch emotional berichtet Ronya über die Entdeckungen und Geschichten auf ihrer Reise. Kann sie diese Zusammenstellen? Ist ein roter Faden möglich? Wird sie einen geeigneten Schluss finden? All diese Fragen werden durchgehend in den Text eingeworfen und demonstrieren, dass der Roman aus einem Potpourri von Gerichtsprozessen, Reiseberichten, Familienerinnerungen, Sachbüchern und und und entstanden ist.
Ich habe einiges gelernt, Ronyas einfühlsames Sprachduktus sehr geschätzt und mich in die Lektüre gut vertiefen können. Einige Informationen werden oftmals wiederholt und haben einen repetitiven Charakter, aber auch das hat womöglich mit einem rhetorischen Mittel zu tun, um die Schwierigkeit des Schreibens über ein solches Thema zu verdeutlichen. Kann ich sehr empfehlen!
Profile Image for Karla.
43 reviews
May 6, 2024
sehr bedrückend, erschreckend, traurig. sehr emotional, manchmal musste ich das buch weglegen um zu verarbeiten und heulen. ein super lehrreicher autobiografischer journalistischer roman(?), interessante sprache, voll gut zu lesen.
jede person sollte das lesen!
Profile Image for Leyla.
21 reviews1 follower
August 22, 2025
Unerträgliche Geschichte wird in diesem Buch erzählt. Nicht aber als Geschichts oder Sachbuch, sondern als Erlebtes von Menschen. In diesem Buch sind Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter die Betroffenen.

Ich habe nicht alles verstanden und konnte nicht alles nachvollziehen was Ronja Othmann erzählt und vor allem wie sie es erzählt. Manchmal hatte ich das Gefühl ihr Schreibstil klickt bei mir einfach nicht und trotzdem ist er durch die Stimmung angekommen.

Das Buch ist einmalig. Ich bin dankbar, darauf gestossen zu sein.
Profile Image for Malu.
16 reviews4 followers
March 6, 2025
Ich würde jeder Person empfehlen dieses Buch zu lesen und bin beeindruckt von der Recherchearbeit, die Ronya Othmann in diesen Roman gesteckt hat.
Profile Image for Julien Dopp.
70 reviews4 followers
October 3, 2024
Eine Meisterleistung an akribischer Recherche, die in schlichter, aber poetischer Sprache in eine monumentale literarische Reportage und Dokumentation verwandelt wurde.
Ein Buch, das an vielen Stellen schwer zu ertragen ist und durch das man sich in Teilen auch durch kämpfen muss. Keine gemütliche Gute-Nacht-Lektüre, aber umso mehr ein unglaublich wichtiges, zutiefst aufwühlendes, aufrüttelndes, nachdenklich machendes und gleichzeitig ungemein lehrreiches Buch von unglaublich hohem journalistischem Wert. Ich wünsche diesem Buch wie kaum einem anderen in diesem Jahr vor allem eines: möglichst viele Leser*innen.

Hochverdient auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024. Allein wegen des immensen Rechercheaufwandes hätte Autorin Othmann den Preis auch verdient.

Leseempfehlung: Ja! Uneingeschränkt und unbedingt!!!
Profile Image for Natascha.
38 reviews
September 2, 2024
3.5-3.75
Starkes Buch mit einer unglaublichen Rechercheleistung, keine Frage. Nur ließ mich die Gliederung oft verwirrt zurück: dass Othmann durch dieses fragmentarische Erzählen ihre Ratlosigkeit bei dem Thema zum Ausdruck bringen möchte, erschloss sich mir. Nur ist dieses Thema (ethnische Spannungen und Kriege im Nahen Osten) mE nicht immer dafür geeignet - und viele wirklich wichtige Erkenntnisse gehen dadurch ein bisschen unter.
So sehr Othmann im Laufe des Buches ihren Schreibprozess offenlegt (“Ich schreibe”, “Ich streiche durch”) gab es immer wieder Passagen, wo ich sie gerne fragen würde: Was genau ist damit gemeint? Welcher Krieg, welches Dorf, welche ezidische Tradition? Ohne Google hätten sich mir einige essentielle Teile des Buches nicht erschlossen.
Trotzdem guter Longlist Pick.
Profile Image for annie_1813.
10 reviews
June 14, 2025
Es fällt schwer, dieses Buch als Roman auf einer Skala von 1-5 zu bewerten.
Othmann beschreibt Seite um Seite, Kapitel um Kapitel das Leid der Êzîdi*innen während des Genozids durch den IS 2014, aber auch davor und danach. DasLeid von Kurd*innen, Aramäer*innen, Assyrer*innen unter dem IS. Nichts wird ausgespart.

Der Roman stellt dabei über weite Teile eine Aufzählung dar, die fast nüchtern daher kommt und das Lesen umso bedrückender macht. Dabei ist der Schreibstil dennoch ästhetisch und der Roman ist mit einer interessanten narrativen Instanz ausgestattet, die sich aus der Erzählung zwischenzeitlich am liebsten zurückziehen möchte. Da Othmann vor allem von ihrer eigenen Familie und ihren eigenen Besuchen vor Ort schreibt, lässt sich dadurch auch in ihr Innenleben blicken.

Es ist die Grauenhaftigkeit der Verbrechen an den Êzîd*innen, die im Detail beschrieben werden, die den Roman für mich schwer bewertbar machen, denn kann man so ein Verbrechen überhaupt als Roman, der qua Gattung ja auch unterhalten soll, bewerten?
Ich gebe hier dennoch 5 Sterne, da ich hier unbedingt eine Leseempfehlung aussprechen möchte. Vor allem diejenigen, die 2015 gegen Geflüchtete gehetzt haben, die nun, ob der aktuellen politischen Entwicklungen in Syrien, gar nicht schnelle genug nach Abschiebungen schreien konnten, sollten den Roman lesen und sich in Empathie üben. Dass dieser Roman überhaupt entstanden ist, ist Grund genug für fünf Sterne.
Profile Image for Noah W.
20 reviews1 follower
January 20, 2025
Mochte ich mega gerne! Ich wusste nichts über den Genozid an den Êzîd:innen. Hat mich zwischendurch iwie auch an Blutbuch erinnert.
Fand das Buch insgesamt sehr touching, nicht was was man unbedingt vor dem Einschlafen lesen sollte, weil sehr viel Gewalt auch graphisch beschrieben wird. Obwohl es 500 Seiten hat, hat sich das Buch super schnell gelesen.
Ich konnte aber auch immer nur eine gewisse Zeit am Stück lesen, weil das Thema sehr doll ist & auch, weil ich Iwan immer das Gefühl hatte, die ganzen Informationen gar nicht mehr aufnehmen zu können- gerade auch, weil mich mit dem übergeordneten Thema noch nicht beschäftigt hatte, war natürlich sehr viel neu für mich. Würde das Buch sehr empfehlen, wenn man Kappas hat auch immer die Städte und Parteien, die in die verschiedenen Konflikte involviert sind, nachzuschlagen.
Profile Image for Eule und Buch.
350 reviews7 followers
January 14, 2025
Die Autorin und Journalistin Ronya Othmann ist die Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. 2014 begeht der IS gezielt Völkermord an den Êzîden in Shingal. Die Autorin begibt sich hier auf die Suche nach Antworten, nach Geschichten, nach Motiven. Doch gibt es wirklich eine Antwort?
Das Buch ist fragmentarisch geschrieben und immer ein Ringen nach Worten. Das Thema war schwierig und wichtig und ich habe beim Lesen gemerkt, wie wenig ich über den Völkermord an den Êzîden wusste. Definitiv etwas, das ich dabei geändert habe.
Strukturiert ist das Buch mehr als persönlicher Reisebericht und ich fand es teilweise schwer, dem Gedankenstrom zu folgen. Insbesondere weil die Handlung oft zeitlich und räumlich sprang und es für mich dadurch schwer war, Dinge zueinander in Verbindung zu setzen. Ich hatte auch immer wieder das Gefühl, dass sich Narrationen wiederholten und insbesondere unwichtige Details sehr oft wiederholt und stark ausgeschmückt wurden. Das Buch ist dadurch deutlich länger als es hätte sein müssen.
Insgesamt war dies für mich ein wichtiges Buch und einer, den ich definitiv weiterempfehlen würde – aber wie oft kritisiert wurde, ist dies eigentlich kein wirklicher Roman und die Erzählstruktur machte es für mich schwerer als nötig, zu folgen.
Profile Image for javi.
142 reviews38 followers
April 14, 2022
me lo he leído para familiarizarme con la obra de esta autora. tendré que interpretarla en una mesa redonda dentro de poco y quería sacar algo bueno de esta experiencia tan estresante
Profile Image for Paula Mira.
20 reviews
March 30, 2025
Mischung aus Dokumentation, Roman, Biografie und Recherche über den Genozid an den Êzîd:innen 2014 im Irak. Der Rechercheprozess ist dabei Teil des Buches, was die Fassungslosigkeit und den Schmerz umso spürbarer machen.
Profile Image for Circlestones Books Blog.
1,146 reviews34 followers
October 30, 2024
„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)

Inhalt
Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.

Thema und Genre
In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.

Erzählform und Sprache
Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)

Fazit
Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.
Profile Image for miriam moe.
5 reviews2 followers
March 12, 2025
Die Wahl des Titels in Ronya Othmanns jüngstem Roman kommt nicht von ungefähr:
Die Protagonistin begibt sich gemeinsam mit ihrem êzidischen Vater auf eine Reise in die autonome Region Kurdistan, in den Iran, Irak, Syrien und die Türkei - auf der Suche nach ihren Spuren und auf der Suche nach einer Sprache für den 74. Genozid an den Êziden, einer religiösen Minderheit. 

Othmann schreibt schonungslos ehrlich und selbstverständlich über die Gräueltaten - denen die Bezeichnung kaum gerecht wird. Auf der Suche nach einer Antwort auf zum Beispiel die Frage, warum ein Mensch in der Rüstung des IS foltert, erschießt, enthauptet. Ohne Punkt und Komma.

Der Text, der keine klassische Dramaturgie aufweist und dem Genre dokumentarischer Roman zuzuordnen ist, klärt auf und ist brisanter denn je. Die politische Motivation, ganze Völker jahrhundertelang zu verfolgen, mit dem Ziel, sie auszulöschen, kommt bekannt vor.

Eine beinahe redundante Erwähnung stellt dabei die Verpflichtung des globalen Nordens dar, Betroffenen ein Sprachrohr zu verschaffen und aufzuklären. Genau dort, wo westlicher Journalismus und Medien versagen.

Ein politisches Highlight auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2024 und eine dicke Leseempfehlung für alle jene, die Literatur dem Doku-Konsum vorziehen.
Profile Image for Matilda.
7 reviews
June 9, 2025
ein text, der schmerzhaft zu lesen ist, sich einem widersetzt und es schwierig macht, in einen lesefluss zu kommen. viel deskriptives schreiben und die bloßen aufzählungen unzähliger massaker an jesid*innen lassen die lesende person beinahe abstumpfen und zeilen überfliegen.
wichtiges zeugnis des genozides an der ezidischen community mitsamt (ehemaligen) heimatorten, berufen, lebenswegen dieser; deshalb mehr ein dokument als ein roman für mich.
Profile Image for Jonas Zürrer.
5 reviews
August 12, 2025
Teilweise zu tiefst bewegend und extrem persönlich. Ich habe sehr viel gelernt über die Kulturen, Völker, Religionen aber auch deren Konflikte in dieser Region.

Der Stil führte aber dazu, dass das Buch in gewissen Teilen eher verwirrend mit der Fülle an Orten und Namen war. Dennoch eine Leseempfehlung!
7 reviews
December 27, 2024
Für meine zwei treuesten (und einzigen haha) Freund*innen in Goodreads. Vierundsiebzig ist ein "Roman" von Ronya Othmann, die sich durch ihre Reisen, Gespräche mit fremden, Verwandten, Freunden, historischen Dokumenten, Erzählungen, Erfahrungen mit ihrer Identität als Ezidin auseinandersetzt und so eine historisch akkurate, aber sehr persönliche Geschichte des Ezidentums erzählt. Die Eziden sind eine ethnische und religiöse Minderheiten die irgendwo im Länderdreieck Syrien, der Türkei und dem Irak (und der autonomen Region Kurdistan) angesiedelt sind und historisch unter dem zunehmenden Einfluss des Islams verfolgt worden und werden. Diese Verfolgung gipfelte im Völkermord an den Eziden am 3. August 2014 durch den IS. Wie auch Ronya Othmann schon sagt fehlt einem die Sprache. Schweres Buch mit TW für alles was mit Krieg und Genozid zu tun hat, aber auch unglaublich lehrreich. Musste es oft weglegen um mit dem geschriebenen zu sitzen oder Tränen wegzuwischen aber trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen.
Absolute Empfehlung (wenn man grde die mentale Stärke für so ein Buch hat). LG Ihr liebennnn
Profile Image for Otto.
750 reviews49 followers
September 15, 2024
Ronya Othmann legt hier eine hervorragende Erzählung über ihre Familie und das Volk der Jesiden vor, das über Jahrhunderte unterdrückt und verfolgt in den gebirgigen Gegenden des Irak, Syriens und der Türkei versuchte zu überleben, bis es von den fanatischen Mörder:innen des ISIS beinahe vollkommen vernichtet wurde. 2014 war das Jahr des letzten großen Massenmordens an den Jesiden. Die Autorin begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln als Tochter eines jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter.
Wie kann ein Volk, eine Kultur, eine Sprache, eine Religion in der Diaspora überleben, was ist die Essenz des Jesidentums, das sind Fragen, die in diesem ergreifenden Roman gestellt werden. Jetzt schon mein Favorit für den Deutschen Buchpreis.
4 reviews
February 18, 2025
Auf 500 Seiten berichtet Othmann vom Völkermord an den Êzid:innen im Jahr 2014. Man begleitet Othmann bei ihren persönlichen Erlebnissen der letzten Jahre in der Region, bei Erlebnissen ihrer Freund:innen und Familie und der Erforschung der Geschichte der êzidischen Kultur und Gemeinschaft, genauso wie man unverblümt Teil des Terrors und Mordens und Othmanns Verarbeitungsprozesses wird, was sich in einer sich durchziehenden Sprachlosigkeit und Absonderung vom lyrischen Ich zeigt (wirklich gut ey).
Es ist doll, es macht teilweise auch keinen Spaß, aber will dieses Buch nicht missen.
Profile Image for Mitra.
36 reviews
November 3, 2024
sehr detailliert und umfassend recherchiert, lehrreich und zugänglich geschrieben, aber aufgrund der thematik trotzdem schwierig zu lesen. sie schildert klar und unbeirrt die gefahren und unmenschlichkeiten des islamismus und den verrat an den eziden vonseiten ihrer nachbarn. auch die vater-tochter-beziehung hat mich sehr berührt.

die kategorisierung als roman finde ich passend, obwohl es schwierig ist das buch klar einzuordnen, da es sich wie eine mischung aus essays/reiseroman/historischer sachlektüre liest und auch viele autobiografische einblicke teilt.
Displaying 1 - 30 of 59 reviews

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