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Rot [Hunger]

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Über die Einsamkeit des Körpers und unsere Sprache der Liebe

Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache. Wir sagen: Ich habe Dich zum Fressen gern. Ich will Dich auffressen. In seinem zweiten Roman erzählt Senthuran Varatharajah zwei Geschichten, die zu einer werden. Die Geschichte eines Jahres, nach einer Trennung, und die Geschichte eines Tages: vom 9. März 2001, an dem A in seinem Haus in Rotenburg B, wie zuvor vereinbart, tötet, zerteilt und Teile von ihm isst. Mit lyrischer Intensität und philosophischer Strenge erzählt »Rot (Hunger)« davon, dass der Mensch, den wir lieben, immer zu weit entfernt ist. Und davon: dass er immer fehlt, auch wenn er vor uns steht. Das ist eine Liebesgeschichte. Mit diesem Satz beginnt der Roman.

120 pages, Hardcover

Published February 23, 2022

6 people are currently reading
421 people want to read

About the author

Senthuran Varatharajah

7 books32 followers
Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 erschien sein Debütroman »Vor der Zunahme der Zeichen«, der mehrfach ausgezeichnet wurde. Senthuran Varatharajah lebt in Berlin.

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Displaying 1 - 23 of 23 reviews
Profile Image for Meike.
Author 1 book4,961 followers
February 24, 2022
Love in the time of cannibalism, or something along those broken lines. Senthuran Varatharajah, of Dear Senthuran: A Black Spirit Memoir (Akwaeke Emezi) fame, gives us his second novel, which alternates between two storylines: The aftermath of a relationship between a Tamil-German man named Senthuran and a Kurdish woman (and of course the internet will tell you that the author did indeed date a Kurdish woman) and the true story of the so-called cannibal from Rotenburg, Armin Meiwes, wo met a man online who wanted to be slaughtered and eaten, which Meiwes did. Varatharajah doesn't really care about storytelling though; this short novel is a philosophical, conceptual, highly aestheticized text, and while I appreciate the underlying ideas and the ambition, I did not enjoy reading it at all.

Varatharajah states that he is an author who writes out of speechlessness, that as a displaced person (his family fled Sri Lanka when he was four months old), he identifies neither as a German nor as a Tamil. This idea of the futile desire to belong and the reality of a shattered love/identity is the key motif: Meiwes wanted to "merge" with his victim, as he put it, he destriyed a body and devoured it; the attempt of the two lovers to merge also failed, and their hearts got shattered.

As the author claims that every writer's body consists of words, he illustrates his ideas by shattering the language in his book: Often, the prose launches into poetry (see Maurice Blanchot), and the sentences just run on over the line breaks and in the middle of words. Idiomatic expressions become literal, there are repetitions and references to biblical ideas (Varatharajah learnt German from the Bible and studied Religion). The destruction of language is paralleled with the destruction of the body, which gains additional significance if you consider that speaking the author's native tongue, Tamil, meant death during the war in Sri Lanka. The lines he has crossed - borders of countries and languages - have crossed him, and he tattooed lines on his body, probably to become a living reference and break down the barrier between body and language.

For this writer, literature is metaphysical - and that's all well and interesting, and I see how everything he does is well thought out and smart, but this is not my kind of literature. To me, it feels pretentious, and I struggled with the fact that this text ostentatiously says that it ddoesn't want to tell me a story and aims to destroy language as a statement. Although the author's art is valid, it gives me nothing.
Profile Image for Gavin Armour.
612 reviews127 followers
April 6, 2022
Ich habe dich zum Fressen gern – ein geflügeltes Wort, über das genauer nachzudenken in seltsame, makabre und durchaus unangenehme Bereiche der menschlichen Psyche und Emotion führen kann. Einige meinen es ernst, todernst sozusagen. Und machen Ernst. So tat es der sogenannte „Kannibalen von Rotenburg“. Armin Meiwes, so sein Name, suchte und fand im Internet einen anderen Menschen – Bernd Jürgen Brandes – der sich ihm als Opfer anbot. Während Meiwes die Vereinigung mit einem Menschen wollte, den er komplett in sich aufnehmen und immer mit sich tragen wollte, wurde Brandes, der zuvor vollkommen unauffällig gewesen ist, im Prozess ein extremer Masochismus attestiert, bei dem die Vorstellung, von jemand anderem getötet, gegessen und vollkommen verinnerlicht zu werden, zentraler Bestandteil seiner Maximalphantasien war. Meiwes erfüllte ihm den Wunsch und erfüllte sich den eigenen. Als Mord wollte er den Vorgang auf keinen Fall verstanden wissen.

Der Fall ging einige Wochen durch die Presse und zog enorme Aufmerksamkeit auf sich. Mehrfach wurde er künstlerisch verarbeitet, wobei die nach Meiwes´ Geschichte entstandenen Filme vor allem an der Ausschlachtung der expliziteren Details interessiert schienen. Denn was fasziniert nach wie vor mehr als Sex & Drugs & Rock´n´Roll – Eros und Thanatos oder eben Blut und Liebe. Vor allem Blut. Und Kannibalismus ist und bleibt eines der letzten große Tabus westlicher Gesellschaften. Ein Faktum, über welches sich in Anbetracht einer Religion, bei deren Rituale der Gläubige Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische seines Gottes – wenn auch symbolisiert durch Wein und eine Oblate – zu sich nimmt, durchaus bedenkenswert ist.

Man kann also nachvollziehen, daß der Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ Künstler – gleich ob Filmemacher, Dramatiker oder Schriftsteller – fasziniert und vielleicht sogar inspiriert. So wird es dann auch bei Senthura Varatharajah gewesen sein. In seinem zweiten Roman ROT (HUNGER) (2022) widmet er sich in einer höchst komplexen und noch viel komplizierteren sprachlichen Anstrengung der Angelegenheit und schließt sie kurz mit einer offenbar autobiographischen Liebesgeschichte. Varatharajah ist tamilischer Herkunft, als kleines Kind kam er als Flüchtling nach Deutschland. Er schreibt auf Deutsch. Und schon in seinem hervorragenden ersten Roman VOR DER ZUNAHME DER ZEICHEN (2016) war es vor allem die Sprache, der er sich in einem ebenfalls hochkomplexen Debut widmete. Und so ist es auch hier.

Es ist die Sprache, auf die Varatharajah immer wieder zurückkommt, deren Macht und Ohnmacht er untersucht und immer wieder auf den Prüfstand stellt. Sprechen wir uns, wenn wir „ich“ sagen – oder müssen wir selbst in dem Satz „Ich liebe Dich“ immer auch die Abwesenheit, die Unerreichbarkeit des anderen erkennen? Sind wir in unserer subjektiven Sprache derart eingeschlossen, daß das Lieben an sich schon Illusion bleiben muß, weil sowohl „ich“ als auch mein Adressat immer schon eine eigene Vorstellung dessen haben, was mit der „Liebe“ eigentlich gemeint ist? Und wenn ich den andern essen will, mir einverleiben will, eine immerwährende Vereinigung zu vollziehen glaube – wenn ich jemanden also „zum Fressen gern habe“, ist das dann Ausdruck der Verzweiflung vor der Unüberwindlichkeit in der Sprache der Liebe? Es verwundert nicht, daß der Ich-Erzähler, der hier nahezu deckungsgleich mit dem Autor des Romans ist, an einer Stelle Roland Barthes´ FRAGMENTE EINER SPRACHE DER LIEBE (FRAGMENTS D´UN DISCOURS AMOUREUX/1977) bei sich trägt. Welches Buch käme dem Rezipienten bei einem solchen Thema eher in den Sinn?

Aber es verwundert auch nicht, wenn der Leser auf Sätze wie diesen in Varatharajahs Roman stößt:

Unsere Sprache der Liebe ist eine Sprache der Einsamkeit. Und diese Sprache erzählt nur davon: von der Trauer unserer Hände.

Ein Satz, der unmittelbar von Barthes beeinflusst ist und schließlich in diese Aussage mündet:

Die Strenge eines Satzes gehört zum Register seiner Empfindsamkeit.

Letzteres ein Satz, den der Autor im Verlauf der knapp 115 Seiten, die dieser Band nur umfasst, mehrfach variiert. Ein Satz, an dem der Leser zwangsläufig hängenbleibt. Und sich fragt, ob er es hier mit echtem Tiefgang oder doch Schwurbelei zu tun hat? Erschwert wird die Beantwortung dieser Frage – sie stellt sich im Laufe der Lektüre einige Male, um nicht zu sagen, häufig – dadurch, daß der Autor sich eines sehr eigenwilligen Schriftbildes, bzw. Seitenlayouts bedient. Mal werden Sätze durch große Wortabstände gedehnt und gestreckt; grundsätzlich ist der Text im Blockformat gesetzt, doch da er immer wieder durch eben diese Dehnungen und Streckungen, Absätze und Einrückungen unter- und aufgebrochen wird, fällt das Format vor allem dann ins Auge, wenn einzelne Wörter getrennt werden und dies nur und ausschließlich zu den Bedingungen des Formats geschieht. Keine Silbentrennung und auch kein Trennstrich, sondern das Wort wird bis zum Ende der Zeile ausgeschrieben und läuft in der nächsten Zeile einfach weiter. Verwirrend, wenn dann gelegentlich nur einzelne Buchstaben in den Zeilen verrutschen etc. Doch genau darauf verweist der Text ununterbrochen – auf die eigene Form, die so zu einer Art Beweisführung wird. Die Grammatik, die Regeln der Sprache und der Schrift, jene Konventionen, auf die wir uns dank Duden geeinigt haben, können a priori nicht das emotionale Geflecht durchdringen, das die Begegnung zweier Menschen immer bedeutet, je intimer desto intensiver und verschlungener. So muß die Sprache, müssen die Regeln der Sprache gebrochen und bewusst ver-rückt werden, um dem Anarchischen, der Wildheit und Ungebundenheit der Liebe an sich gerecht zu werden. Annähernd gerecht zu werden.

Wahrscheinlich sollte man ROT (HUNGER) als das lesen, was es dem Erscheinungsbild nach eigentlich ist: Ein Gedicht. Ein (post)modernes Lang-Gedicht, ungebunden, frei von jeglicher Lehre, Regel oder vorgegebenen Rhythmik, mäandernd, assoziativ, manchmal metaphorisch, gelegentlich explizit in seiner hyperrealistischen Drastik. Man denkt automatisch an Gedichte von Allen Ginsberg aus den späten 50er und den 60er Jahren; sprachliche Meditationen, Versuche, tief empfundene Wahrheiten sprachlich zu erfassen oder zumindest in einem ganz eigenen Duktus und einem eigenen Rhythmus auszudrücken. Jazz-Lyrik.

Das kann den Leser faszinieren, so er denn bereit ist, sich auf einen Meta-Text einzulassen, der sich seines Status´ als Meta-Text immer schon bewusst ist. Ein Text, der immer über sich selbst sinniert und sich und damit den Leser, mehr noch vielleicht den Autor, mit Fragen bombardiert, auf die niemand Antworten erwarten kann. Hier untersuchen sich Zeichensysteme selbst – womit Varatharajah beim Vorgänger anschließt. Da er nicht nur Philosoph, sondern auch evangelischer Theologe ist, ein Bibelkenner, und da am Anfang bekannterweise das Wort war, kann Varatharajah seinen Roman aber auch ausweiten auf die Kultur des Landes, in dem er heimisch geworden ist. Er vermittelt immer untergründig das christliche Moment des Opfers mit. Und es ist wohl diese Ebene, die ihn auf die Geschichte von Meiwes und Brandes – im Buch als A und B benannt – zurückgreifen lässt.

Denn inhaltlich wird hier nahezu nichts erzählt, eine Geschichte findet nicht statt. ROT (HUNGER) ist entweder das oben beschriebene Gedicht, es ist der Meta-Text in lyrischer Fassung, oder es ist schlicht eine Meditation über die Vergänglichkeit der Liebe und darüber, wie wir uns selbst in unseren intimsten, innigsten, geheimsten Wünschen, in jenen Regionen unseres Innern, in welche wir nur ungern und nicht allzu oft hinabsteigen, irren können. Der Erzähler berichtet, wenn auch fragmentarisch und ausnahmslos assoziativ von einer alten Liebe. Es ist das Zwiegespräch mit einer Ex-Freundin, wie es wohl jeder kennt, der eine tiefgreifende Trennung erlebt hat und nun in fast zwanghaften inneren Dialogen die Auseinandersetzung mit dem nun unerreichbar gewordenen Objekt der Begierde sucht, um wieder und wieder all das zu sagen, was immer gesagt werden musste, nie gesagt wurde und das doch so wesentlich scheint, um verstanden zu werden. Zugleich ist es auch Erinnerung an gemeinsame Reisen, kreuz und quer durch Europa, mal beruflich, mal privat. Darunter auch eine zu dem Anwesen von Armin Meiwes. Nichts wird dabei erklärt. Der Leser findet sich an der Stelle des Adressaten wieder, der die Informationen hat, die den Anspielungen und Beschreibungen von emotionalen Reaktionen auf unterschiedliche Situationen, Menschen und Momente zugrunde liegen. Und so ist alles – wie dieser gesamte Text hier – immer nur Interpretation. Womit Varatharajah grundlegende Erkenntnisse postmoderner Theorien, vor allem postmoderner, poststrukturalistischer Literaturtheorien, verarbeitet, nutzt und zur Prämisse seines Textes macht; ein Konvolut, das dann konsequenterweise eben auch „Text“ genannt werden sollte – und vielleicht eher nicht „Roman“.

Es erschließt sich dem Leser so natürlich keine Kausalität. In einander abwechselnden Kapiteln – oder Abschnitten oder Strophen, wie man will – wird die persönliche Liebesgeschichte, die sich aber auf Freundschaften und Leibesbeziehungen im Allgemeinen ausdehnt, des Erzählers verarbeitet und die Begegnung zwischen Meiwes und Brandes erzählt. Das ist nicht zwingend, schon gar nicht psychologisch oder analytisch nachvollziehbar. Es bleibt eine Aneinanderreihung von Ideen, Einschüben, Gedankensprüngen, Verweisen und Zitaten, das man sicher im Einzelnen auseinanderklamüsern könnte, doch fragt sich: Warum? Denn das ist das Problem dieses Texts und vergleichbarer Texte: Zumeist können sie ihre Leser nicht genug fesseln, binden, vereinnahmen, sich einverleiben (um im Kontext zu bleiben), damit diese sich der Mühe unterziehen, all diesen Verweisen und Zitaten, den Gedankensprüngen und Einschüben zu folgen. Ein Spiel, eine Schnitzeljagd, braucht schon Anreize, auch emotionale Anreize, damit man bereit ist, den ganzen Parcours zu gehen. Varatharajahs Roman aber ist zu hermetisch, lässt den Leser nicht wirklich ein, sondern hält ihn permanent in einer intellektuellen Spannung, die jedwedes emotionale Interesse an beiden hier präsentierten Geschichten – die letztlich auch nur in den Köpfen der skizzierten Protagonisten und damit irgendwann auch des Lesers zusammenfinden – erkalten lässt.

Dann aber ist dies nur noch eine fleißige Übung, eine Leistungsschau der eigenen Belesenheit, ein nicht uneitles literarisches Unterfangen. Doch besteht insofern Hoffnung, da es ja immer heißt, der zweite Roman sei der schwierigste. Vielleicht ist dies ein Freischwimmen, ein notwendiger Versuch, sich den Zeichen des Vorgängers zu entziehen. Und letztlich zu einer Geschichte durchzudringen.
Profile Image for Janick.
36 reviews
April 29, 2022
" — es muss eine Sprache geben, die nichts zeigt und nichts verbirgt; die jede Rede wendet, und alle Bilder aufgegeben hat; die trägt, was wir nicht ertragen können."
Profile Image for Literatursprechstunde .
196 reviews93 followers
June 22, 2024
„Rot [Hunger]“ des Autors Senthuran Varatharajah ist 2022 bei S. Fischer erschienen und behandelt die Geschichte um den Menschenfresser, bzw. Kannibalen aus Rotenburg a.d. Fulda.
Mein Interesse an diesem Buch begründet sich durch meine Heimatnähe (10km) zu dem Tatort Wüstefeld, nähe Rotenburg an der Fulda, ich hatte Zwiespältiges und Schauerliches gehört deswegen hat es bis 2024 gedauert bis ich das Buch zur Hand genommen habe.

Wichtig vorweg zu sagen ist, dass es bei diesem Buch nicht um Moral geht, sondern um Erkenntnis. Der Autor setzt am Anfang: „Dies ist eine Liebesgeschichte.“ Eigentlich sind es zwei Liebesgeschichten, wenn man auf der Stoffebene bleibt. Es gibt zwei Materialkreise. Der eine Materialkreis handelt von zwei Männern, die sich in einem Forum kennengelernt haben, von denen der Eine sich wünscht von jemand anderem gegessen zu werden und der Andere nach jemanden sucht, den er essen darf. Das Ganze ist ein historischer Fall unter der Schlagzeile „Kannibale von Rotenburg“. Diese „Liebesgeschichte“ der beiden Männer wird auf der einen Ebene erzählt und auf der anderen Seite handelt der andere Materialkreis von einer Figur namens Senthuran, in einem kosmopolitischen Freundeskreis und erzählt die Geschichte von einer Trennung von einer Frau, die nur indirekt benannt wird. Es wird an einer Stelle gesagt, sie heißt wie der erste Buchstabe des arabischen Alphabets, also Elif. Es gibt verschiedene andere Frauen, die auftauchen und es wird die Geschichte der Trennung von dieser Frau erzählt. Man könnte sagen, es ist eine Geschichte, die von Liebe handelt, die an verschiedene andere Texte anschließt, an eine Erforschung des Sprechens über Liebe, über die Möglichkeit von Liebe, über Einsamkeit. Man könnte auch sagen, der Text handelt von Gewalt, er handelt von gesellschaftlicher Einsamkeit. Ich würde aber sagen, dass er letztendlich ein Versuch ist ein Verhältnis zur Sprache zu finden. Es gibt einen ganz zentralen Satz in diesem Buch: „Die Suche nach einer Sprache, die nichts zeigt und die nichts verbirgt.“
Also die keine Absicht hat und die trotzdem die absolute Nähe ermöglicht - das ist was diesen Text für mich so spannend macht. Nämlich dass auf diesen beiden verschiedenen Stoffebenen es eigentlich immer darum geht, dass man eigentlich keine Möglichkeit hat, an sich selbst ranzukommen, weil einem die Ausdrucksmöglichkeiten dafür fehlen. Das spielt er auf verschiedenen Ebenen fantastisch durch - ständig sind da Sätze, über die ich Wochen nachdenken kann.

Eigentlich ist der Text nicht brutal. Er erzählt was passiert ist, mit Zitaten über die Korrespondenz der beiden Männer. Er macht das ganz sachlich, es ist überhaupt nicht skandalisierend, darum geht es ihm nicht. Ich glaube, das was man als brutal empfinden könnte, ist wirklich das Körperliche, was man hier immer wieder spürt. Beim ersten Lesen hatte ich eine körperliche Reaktion - es ist sehr schwer diesen Text zu lesen. Und beim zweiten Mal hatte ich schon einen größeren Abstand. Und um Abstand geht es ja auch immer wieder.
Ich glaube, das dieser Text die Schönheit einer mathematischen Formel hat. Es gibt zwei Mal zwölf Kapitel, es gibt Verse, die parallel geführt werden. Man könnte denken, es hat was mit der Struktur von Psalmen zu tun, es geht immer wieder um Lieder, es wird das Heilige und das Profane zusammengeführt. Er stellt sich auch selbst in Traditionen von Autor*innen wie Herta Müller zum Beispiel. Was die existenzielle Auseinandersetzung mit Buchstaben, mit Wörtern angeht usw. Und ich glaube wirklich, dies ist ein Text - und darum ist es gar nicht erstaunlich, warum man damit anfänglich nur schwer zurechtkommt- mit dem man sehr viel Zeit verbringen kann und auch muss. Man kann diesen Text nicht sofort beurteilen, das ist ein Text, den man sich erarbeiten muss. Es ist etwas, was sehr viel Aufmerksamkeit erfordert, was sehr neu ist, was teilweise auch als obszön oder gewalttätig erscheinen mag. Aber ich glaube hier ist jemand unterwegs große Kunst zu schaffen.

Dieses Buch hat einen formalen Kniff, nämlich ein leeres Zentrum. In diesem Zentrum befindet sich die Reproduktion von zwei Gemälden, die er in Auftrag gegeben hat bei einem Maler, die ein jeweils rot-schwarzes Bild zeigen. Das alleine schon fand ich doch eine sehr mutige Geschichte. Das ist genau, was mir in unserer Erzählliteratur fehlt, der Mut auszuscheren, mal sich was neues zu überlegen. Und natürlich kann man sagen, das sind Tricks der Moderne, die haben wir alle schon mal durchdekliniert - aber so ein Text, der mir derart unter die Haut ging, der mir so oft eine Neulektüre abverlangte, mit dem ich immer noch nicht abgeschlossen habe - an solche Bücher gerät man doch ziemlich selten.

Das Literarische und das Kannibalische folgen einer ähnlich Sehnsucht, nämlich der einer Fleischwerdung des Wortes, fast schon im christlichen Sinne. Der Autor spielt immer wieder auf das Abendmahl an, wenn Jesus hier am Tag vor seiner Kreuzigung sagt: „Ich breche mein Brot, hier ist mein Leib,..“ (ich glaube das ist nach seiner Wiederauferstehung). Und es ist eine Anspielung auf die Liebenden in dem Moment, als es auch um die Inkorporation geht - es geht um die Frage, wie die Worte diese Leiblichkeit erreichen. Hier erkennt man die Radikalität des Autors, seinen Formanspruch.

Es geht um etwas aus dem Sprachspiel, aus dem Religiösen heraus destillierten. Das ist die Sehnsucht nach Transzendenz, nach der Begegnung in der Liebe und so kommt die Liebesgeschichte zwischen der Tamilen und dem Kurden ins Spiel. Es ist die Liebe zu Gott, die Liebe einer transzendenten Verschmelzung. Und das ist so radikal, aber formal so zwingend erzählt, dass ich sagen muss: Wow - in der deutschen Gegenwartsliteratur kommt es nicht alle Jahre vor, dass mir so ein Text in die Hände fällt. Das sollte man uneingeschränkt rühmen meiner Meinung nach.

Das Erstaunliche was diesem Text gelingt, ist eine Umkehr: In der Boulevardpresse haben sie immer den Kannibalen als Täter dargestellt, der sein Opfer auffrisst. Dieser Text macht aber das vermeintliche Opfer zum Täter, das seinen Willen durchsetzt.
Ich habe mich bei der Lektüre erschrocken, aber ich erschrecke mich öfters, dafür ist ja Literatur da - in meinen Augen hat Senthuran Varatharajah mit „Rot [Hunger]“ ein Meisterwerk geschaffen.
Profile Image for Patrick.
10 reviews5 followers
May 10, 2022
Das außergewöhnlichste, schönste und grausamste Buch, das ich seit langer Zeit lesen durfte. Mehr Worte fehlen mir zu diesem sprachgewaltigen Meisterwerk.
Profile Image for Jana Kramer.
10 reviews
October 14, 2024
Dieses Buch ist so experimentell und intellektuell, dass sich womöglich deshalb einige nicht richtig trauen, es nicht zu mögen. Aber es ist unfassbar wichtigtuerisch und profitiert stark von seinem heftigen Stoff.
Der Text gliedert sich in zwei Teile, und hätte Varatharajah sich dazu entschieden, sich auf die Geschichte des Kannibalen von Rotenburg zu beschränken, wäre das hier eine andere Rezension und ich tief beeidruckt von seiner literarischen Konsequenz und seinem Mut. Denn die zerstückelte Sprache in Verbindung zu Kannibalismus zu setzen und dort anzusetzen, wo die Sprache versagen muss, ist ein Wagnis, das ich zu schätzen weiß.
ABER (und das ist wirklich ein großes Aber) die zweite Handlungslinie ist einfach unerträglich. In jedem zweiten Kapitel liegt eine Autorfigur kiffend auf ihrem Bett rum, jammert über eine verflossene Liebe, hat pseudo-schwermütige Gedanken und versucht, den vorliegenden Text zu schreiben. Und genau in diesem Teil versagt die Form, die der krassen Geschichte zwischen Armin Meiwes (A) und Bernd Brandes (B) so gut entspricht. Denn bei aller (kannibalischen) Liebe: Es ist albern, einen Biss beim Sex mit derselben existentiellen Schwere zu schildern wie eine Situation, in der eine Person eine andere im wahrsten Sinne des Wortes verschlingt.
Das vermittelt den Eindruck, dass Varatharajah nur dieses eine pathetische Register zur Verfügung hat und nicht variieren kann, was es deutlich weniger beeindruckend macht.
Profile Image for René Gehrmann.
23 reviews3 followers
Read
February 28, 2025
Verstörend, hyperrealistisch, tief, geheimnisvoll. Unsere Sprache ist eine kannibalische Sprache, welche die Sehnsucht nach Verschmelzung in der Liebe zu einem Gegenüber zum Ausdruck bringt: "Ich habe dich zum Fressen gern." "Ich fresse dich mit Haut und Haaren." So versucht Sprache, die Einsamkeit als Seinsmodus des Menschen zu überschreiten. Gleichzeitig stößt Sprache in der Liebe auch an ihre Grenzen. Der Mensch ist auf seine Einsamkeit zurückgeworfen:

"wir müssen durch die unendliche Dichte von Zeit und Raum hindurch - aber Gott zuerst, um zu uns zu gelangen. Von allen Beziehungen zwischen Gott und dem Menschen ist die Liebe die größte. Sie ist so groß wie der Abstand, der zu überwinden ist. Damit die Liebe die größtmögliche sei, ist der Abstand der größtmögliche. Weil der Mensch, den wir lieben, zu weit entfernt ist. Weil der Mensch, den wir lieben, immer fehlt: auch als ich auf deiner Brust lag. Auch wenn du mich verschlungen hättest." S. 114
167 reviews1 follower
June 19, 2022
What else can I say but that I am in awe of the writing of Senthuran Varatharajah. It won't be it for everyone but if you enjoy reading a book where the language itself and the exploration of this language are one of the biggest characters themselves than I highly recommend this book. Def an author I will look out for in the future!
Profile Image for Fiona.
677 reviews81 followers
May 10, 2022
Ein außergewöhnliches Buch und nichts für Zartbesaitete. Aber sehr beeindruckend.
Profile Image for Manu.
14 reviews3 followers
December 4, 2022
Das.ist. inhaltsloser. postmoderner. Schwachsinn. Hab das Buch nach 40 Seiten. zur. Seite. Gelegt.


Vielleicht bin ich auch einfach zu doof um dieses Buch zu verstehen; aber hat mich wirklich nicht gepackt.
Profile Image for Fiona.
132 reviews26 followers
January 29, 2025
Bin leicht (!) verstört und gleichzeitig vollkommen fasziniert. Literarisch einzigartig und ein so spannender Ansatz, wie der Autor der Thematik hier mit poetischer und dekonstruktiver Sprache begegnet. Definitiv keine Empfehlung für jede:n, aber wer Lust hat, mal seine literarische Comfortzone komplett zu verlassen, give it a try!
(Zuvor aber besser trigger warnings checken☝🏼🙃)
34 reviews
December 25, 2022
Ein wirklich auf allen Ebenen einer literarischen Bewertung schlechtes Buch. Das sowas überhaupt verlegt wird. Kein Verständnis für all die positiven Besprechungen. Unverständliches Gequirle ist noch kein Merkmal für Kunst.
Profile Image for Anita Gerber.
10 reviews
October 23, 2024
Schwierig zu bewertendes Buch. Oszilliert irgendwo zwischen einem erstaunlich nahbaren, poetischen Porträt der Beziehung zwischen Armin Meiwes und seinem Opfer und dem etwas unbeholfenen Versuch des Autors seine eigene Identität und Beziehungen mit dieser in ein Verhältnis (welches?) zu setzen. Ich wusste nicht besonders viel über den „Rothenburg Kannibalen“, bevor ich dieses Buch gelesen habe und bin generell auch kein True-Crime-Girlie, dieser Teil des Buches überschattet aber ganz klar den anderen, autobiografischen Part. Schade ist, dass Varatharajahs Biografie ja durchaus nicht uninteressant ist, aber bei all dem unnötigen Namedropping (er liest Barthes, Weil, Batailles UND Hegel!), dem emoifizierten Konsum von hartem Alkohol und Koks und die ähnlich unter die Nase geriebenen Erzählungen von seinen Lesungen, sexuellen Eskapaden und Reisen um die Welt, ist man irgendwann versucht diese Kapitel einfach zu überspringen, damit man erfährt wie es eigentlich mit A und B weitergeht.

Davon abgesehen ist das Buch formalistisch auch nicht so experimentell, wie es sich verkauft. Varatharajah ist bei weitem nicht der erste, der auf die Idee gekommen ist, den Körper der Typografie und Sprache analog zu einem (körperlichen) Bruch der Romanfiguren zu dekonstruieren. Interessantere Beispiele finden sich dafür zB bei Alasdair Gray oder Kathy Acker.
Profile Image for Annika.
68 reviews
October 16, 2025
Is it pretentious? Is it good? Are we human or are we cannibal? Don’t know don’t care, it’s art!
Profile Image for Janina.
866 reviews80 followers
March 12, 2025
Interessant. Ich mochte vor allem die lyrischen Passagen. Hätte auch Hunger (Rot) heißen können, hätte auch gepasst. Aber die Farbe rot ist durch die Wörter, den Fokus auf Blut und Fleisch, schon auch sehr präsent, also passt Rot (Hunger) auch gut. Eine Geschichte (Kannibale von Rotenburg) in der Geschichte des Autors. Ich mochte, wie oft relevante Literatur erwähnt wurde, die thematisch (Hunger, Kannibalismus, Körperlichkeit, Liebe) gepasst hat. Hat mich teilweise an The Sluts, Dennis Cooper, erinnert mit den grafischen Szenen. Außerdem ein sehr, sehr cooles Autorenfoto auf dem Umschlag.

tw/cw: Tod, Mord, Totenunruhe, Kannibalismus, Fleisch, Schlachten von Tieren, Trennungsschmerz, sexuelle Aktivitäten
Profile Image for Charlie .
2 reviews
April 18, 2023
Verschmelzung von irriger Liebe, Wahn, Sehnsucht, postmodernem und biblischem Gegleite, Reduktion der Zeichen und dadurch Zeiteröffnung in der Rezeption, phänomenologischem Ambivalenzgetaste in Zeichen und Kulturen

Spannende Recherchereise, schwer tragbar weil als Grenzwahn veranlagt

Persönlich:
manchmal wirkt die Reduktion sehr gewollt, könnte m.E. einen Bruch vertragen (was vielleicht ginge ohne dabei gegen das Anliegen des Buches zu laufen), ich möchte manchmal mehr wissen, das Ende tut weh
Ich muss mich nach dem Buch erholen, musste mich während des Lesens immer wieder bewusst von den Geschehnissen distanzieren, weil die Phänomene kochen

creepy: Am Ende des Buches ist nachts, als ich aufgewacht bin, zum selben Zeitpunkt das Haus von Armin Meiwes abgebrannt
Profile Image for Thorben.
49 reviews
January 29, 2025
Das Buch ist eine Mischung aus Berliner Studententum, Fluchtgeschichte, Gedanken über politische Autonomie und einem Bericht über de "Kannibalen von Rotenburg". Die Mischung habe ich irgendwie nicht unter einen Hut bekommen. Der Schreibstil ist alternativ und hat zu meiner Überforderung beigetragen.
Profile Image for Maxime.
1 review
July 5, 2025
Sehr gutes literarisches Werk. Ein Werk das von Liebe, Einsamkeit und dem Wunsch der Verschmelzung mit denjenigen die wir lieben handelt. Der Satz aus dem Buch der in mir nachhallt ist folgender: "Wenn wir träumen, träumen wir nicht in rot. Wir träumen in Silben".
Profile Image for -ˋ₊˚. Rosebud Boy ‧₊°.
135 reviews1 follower
Read
July 5, 2022
Keine Ahnung wie ich das bewerten soll 🥲 Hab's gemocht und kann es nur weiterempfehlen. An manchen Stellen nur etwas grafisch
6 reviews1 follower
July 11, 2024
Tolles Buch und unfassbar schwer zu lesen. Über „die Trauer unserer Hände“ und eine Klammer, die nichts hält. Für die Gedanken und die Sprache muss man das Buch einfach lesen, der Autor besitzt einen mir zuvor unbekannten Schreibstil. Worte, die ohne grammatikalische Notwendigkeit und ohne Bindestrich am Ende einer Zeile einfach getrennt werden (sogar das Wort „wir“ wird zweigeteilt!), eingerückte Sätze, Lyrik in Prosa, alles scheint geladen an Bedeutung. Das Buch eröffnet eine neue Welt, die ich nicht ganz verstehen konnte, aber die Auseinandersetzung mit ihr war sehr interessant und hat mir eine neue Sicht auf Sprache, Liebe und Einsamkeit ermöglicht.
Displaying 1 - 23 of 23 reviews

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