Wenn Menschen scheinbar aus dem Nichts ausflippen, steckt manchmal ganz schön viel dahinter. Bei Ines Geiger etwa, die aus Frust auf ihren Arbeitsalltag nur noch positive Asylbescheide ausstellt. Bei Heide, die mit ihrem kleinen Sohn den Kindergarten besetzt, weil die Öffnungszeiten für eine Alleinerzieherin ein Witz sind. Oder bei ihrer Exfrau, der Astronautin Katalin, die angesichts einer sturen KI in ihrer winzigen Kabine auf der Raumstation ISS rabiat wird, während die Aktivistin Milka aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelindustrie im Supermarkt mit Tomaten um sich wirft. Sie alle wollen etwas verändern, für sich persönlich oder im Großen. Ihnen allen wurden Steine in den Weg gelegt, die manchmal nur mit Gebrüll aus dem Weg gesprengt werden können.
„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält.“ (Zitat Seite 51)
Inhalt Während Katalin gerade auf der Raumstation ISS im Weltall unterwegs ist und mit der KI Simon diskutiert, sorgt ihre Zwillingsschwester Eszeter als Polizistin für Ordnung im Alltag von Wien und als Managerin ihres Hedgefonds auch im internationalen Dschungel der Finanzwelt. Die Umweltaktivistin Dr. Milka Andrić ist Mitglied einer NGO und setzt sich für menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei der Produktion von Lebensmitteln ein, denn für sie ist das Gegenteil von Armut nicht Reichtum, sondern Gerechtigkeit. Seit beinahe zwanzig Jahren teilt Milka eine WG mit Martin und Ines. Ines Geiger, die in der Asylbehörde Anträge prüft und dabei laufend von ihrem Vorgesetzten mit internen Weisungen unterbrochen wird, zusätzliche Schulungen, Nachschulungen, Formulierungshilfen für ablehnende Bescheide. Fatima leitet einen Kindergarten, dessen Öffnungszeiten mit den Arbeitszeiten der seit ihrer Trennung von Katalin alleinerziehenden Mutter Heide unvereinbar sind – sie alle erkennen plötzlich, dass man immer etwas tun kann, und jede von ihnen trifft eine spontane Entscheidung.
Thema und Genre Es ist ein Roman, der unterschiedliche Geschichten erzählt, mit einzelnen Situationen und Episoden als Auslöser für Veränderungen. Es geht um gesellschaftspolitische Probleme, Forschung, Wirtschaft, Finanzmärkte, doch auch um Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen in ihren unterschiedlichen Formen, Freundschaft, Familie.
Charaktere Im Zentrum dieses Romans stehen Frauen, jede auf ihre Weise individuell, mutig, zunächst der jeweiligen persönlichen Situation noch irgendwie angepasst, werden sie aktiv, als sie immer wieder an ihre Grenzen stoßen.
Handlung und Schreibstil Dieser Roman spielt in Wien. Die Handlung greift viele brisante Themen unserer Zeit auf, konfrontiert die Protagonistinnen mit spontanen Konfliktsituationen und gibt ihnen Raum, Entscheidungen zu treffen, spontan und teilweise chaotisch. Nicht immer verlaufen die Ereignisse chronologisch und auch mögliche Beziehungen zwischen ihren Figuren deckt die Autorin nicht sofort auf, sondern lässt uns die Zusammenhänge erst nach und nach erkennen, manchmal treffen die Figuren unerwartet und zufällig aufeinander. Diese Geschichten sind keine Wohlfühllektüre, dennoch ist man ihnen und vor allem den einzelnen Protagonistinnen sofort verfallen, folgt ihrem Alltag, ihren Entscheidungen. Denn die Autorin schreibt engagiert, direkt, aber auch mit viel Einfühlungsvermögen und Humor. Es ist diese schwer zu beschreibende Mischung, die diesen Roman lesenswert und empfehlenswert macht.
Fazit „Was also sollten sie mit diesem bisschen ungebetenen Glücks namens Leben in Zukunft anstellen?“ (Zitat Seite 247). Das Leben stellt unterschiedliche Anforderungen an die modernen Frauen in diesem Roman, doch sie haben eines gemeinsam: sie wollen etwas verändern, im persönlichen Umfeld, aber auch im großen Ganzen.
Um der Komplexität der Welt ein wenig gerechter zu werden, greifen mehr und mehr Schreibende zum Episodenroman. In einzelnen, kleinen seriellen Bruchstücken setzt sich auf diese Weise ein kaleidoskopisches Szenario zusammen und führt eine Realitätsauslotung durch. Klassische Beispiele führen John Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ oder die USA-Trilogie an, oder noch früher Eugène Sues „Die Geheimnisse von Paris“. In der Gegenwartsliteratur gibt es viele Romane dieser Art. Hier seien Hervé Le Telliers „Die Anomalie“, Eva Menasses „Dunkelblum“ oder Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“ von vielen angemerkt. Ursula Knolls Debütroman „Lektionen in dunkler Materie“ gehört dazu. Er bemüht sich um eine Standortbestimmung:
„Die Menschen in dieser Stadt, Trottel, alles Trottel. Sie braten sich selbst wie Hendln am Grill. Dass niemand hier den Hintern hochkriegt und etwas anderes versucht, dass alle das so gottergeben ertragen. Im Winter wird es schon wieder frieren.“
Eine der Protagonistinnen des Romans heißt Katalin. Sie ist Astronautin und hat eine Schwester, Eszter, die Finanzterroristin und Polizistin ist. Diese lebt getrennt von ihrer Ex-Freundin und Lebenspartnerin Heide, die das gemeinsame Kind Linus aufzieht. Linus geht in den Kindergarten, wo er von Fatima betreut wird, die wiederum eine Affäre mit Ines beginnt, einer Immigrationsbeamtin, die ihren Job verliert, und mit Milka zusammenwohnt, einer Aktivistin für gerechte Arbeitsmarkt- und Handelspolitik. All dies wird zusammengeschüttelt und zusammengehalten von der dunklen Materie:
„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält. Es ist unklar, woraus es besteht, woraus es entstanden ist oder was es sonst noch tut. Man kennt nur seine Funktion. Es ist einfach da und der Grund für unsere Existenz.“
In dem Roman von Knoll geht es aber weder um die dunkle Materie noch um Physik, oder das Universum oder dem Versuch, den Grund der Existenz nachzuspüren. Es geht vor allem um die Probleme des Alltags, Beziehungskrisen, übers Allein- und Verzweifeltsein, über Armut, Zeitmangel, über Wut auf die Verhältnisse, aufs System, auf die Familie und all die, die alles missverstehen und nichts ändern wollen.
„Wenn, dann steht es ihr, Katalin, zu, das Leben der anderen zur Hölle zu machen. Zu zerstören, was sich zerstören lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt, wenn sich schon nichts konstruktiv damit anfangen lässt. Menschen sind nun einmal so, das steht in jedem Psychologiewälzer.“
Am Ende fliegt alles irgendwie auseinander und fällt auch irgendwie zusammen. Die Figuren begegnen sich, lieben sich, zerstreiten, verlieren sich. In unmanierierter Sprache mischt Knoll die Handlungsstränge etwas beliebig zusammen, was vor allem dem Genre Episodenroman geschuldet ist, der eine in sich kohärente Erzählweise gar nicht voraussetzt und eine gewählte Komposition stets als optional erscheinen lässt.
Wer den Titel nicht ernst nimmt, sich in Ereignissen und Tomatenwerferei treiben lassen möchte, macht mit der Lektüre von „Lektionen in dunkler Materie“ nichts falsch. Überraschungen und Innovationen gibt es nämlich keine. Und ob diese oder jene Figur mehr oder weniger, spielt dann auch keine Rolle mehr. Die Welt bleibt in Bewegung, wahrscheinlich wegen der dunklen Materie.