In den Bäumen vor der Villa an der Alster lebt eine Eichhörnchenfamilie. Wie die Menschen die Eichhörnchen beobachten die Eichhörnchen die Menschen. Und denken über sie nach. Nicht nur über das Wissenschaftlerpaar, das in der Villa lebt, ihre Leidenschaft für Musik, Literatur und Kunst, sondern über die Menschheit als Ganzes. „Seit ich sie kannte, scheiterte ich an der Frage, wieso diese Menschen, die doch so viel wussten und so viel Schönes und Kluges hervorbrachten – wieso setzten sie nicht alles daran, diesen Entwürfen zu folgen?“ Dann zeigt sich im Hambacher Forst, was möglich ist, wenn Mensch und Tier zusammen stehen. Für ihr gemeinsames Interesse: den Schutz unseres Planeten. Im Hambacher Forst haben sie gemeinsam den Wald gerettet. Jetzt wollen sie gemeinsam die Welt retten. In Vitopia beginnt ein Kongress, für den Raum und Zeit und die Grenzen zwischen Mensch, Tier und künstlicher Intelligenz keine Rolle spielen. Denn die Eichhörnchen wissen: „Ihr braucht uns. Und wir brauchen euch. Wir sitzen alle, Humans, Animals, die Floralisten und meine Spezies in ein und demselben Boot namens Erde. Das darf nicht untergehen.“
Ulla Hahn wagt sich an eine große Frage: Warum zerstört die Menschheit, was sie liebt, wider alles bessere Wissen, und wie könnte ein Umsteuern gelingen? „Tage in Vitopia“ sprüht vor Phantasie, Sprachlust und Neugier auf alles, was je gedacht worden ist, und alles, was daraus entstehen könnte, wenn wir Menschen endlich begreifen, was es bedeutet, dass die Erde allen gehört und alle der Erde gehören.
In letzter Zeit versuche ich mich öfter daran zu erinnern, dass ich ein Buch nicht komplett lesen muss, um aus ihm zu ziehen, was ich brauche, was es mir in diesem Moment meines Lebens geben kann. Klingt erst mal ungewohnt, vielleicht sogar blasphemisch, aber denkt immer dran: Beim Lesen gibt’s keine Regeln und keine Instanz, die kontrolliert, wie ihr mit eurer Lektüre umgeht.
Tage in Vitopia ist für mich das perfekte Beispiel. Der Roman erzählt aus Sicht eines Eichhörnchens, wie Menschen und nicht-menschliche Tiere sich in einer leicht futuristischen Welt, in der es z. B. Apps gibt, die zwischen Eichhörnchen und Mensch übersetzen, zusammenkommen und in einem utopischen Mikrokosmos einen Kongress abhalten, der die Zukunft und das Überleben aller Arten sichern soll. In jedem Kapitel wird dichterisch bis schwülstig und durchaus gekonnt vor sich hin geschwurbelt. Es werden tote Kunstschaffende und Denkende wie Goethe, Marx, Droste-Hülshoff, Schubert oder Lovelace ins Leben zurückgeholt, um sie in neue Diskussionen zu verstricken und an dem neuen Weltentwurf mithelfen zu lassen.
Nach 100 Seiten hat sich dieses durchaus interessante und amüsante Experiment allerdings erschöpft. Auf maximal 150 Seiten hätte ich so eine Geschichte sicherlich genossen, aber auf den gegebenen 300 erscheint es mir, als würde jetzt einfach noch weitere 200 Seiten lang so weitergehen (und wenn ich den Rest so überfliege, liege ich damit richtig). Bevor ich mich also quäle, ist es doch ok, zu realisieren, dass mir das Buch alles gegeben hat, was es mir im Moment geben kann. Ich habe das Prinzip erfasst und bis zur Erschöpfung ausgekostet, das reicht und ich kann selbst einen Punkt setzen.
Abschließend will ich zwei Kritikpunkte anmerken, von denen zumindest der letztere auch dazu beiträgt, dass ich keine 300 Seiten dieses Romans lesen will. Zum einen haben mich die Fußnoten irritiert, weil sie ziemlich viel erklären, z. B., wer Thomas Morus ist oder von wem das eingeflochtene Zitat stammt. Natürlich ist das hilfreich und fungiert gleichzeitig als Quellenverzeichnis bei einem so intertextuellen Buch, aber es sind alles Infos, die Lesende einerseits selbst googeln können und die andererseits oft nicht nötig erscheinen, weil ich glaube, dass die Zielgruppe, die sich von einem Roman mit so vielen geisteswissenschaftlichen Referenzen angesprochen fühlt, sowieso weiß von wem/was die Rede ist.
Mein anderer Kritikpunkt bezieht sich auf den dargestellten Optimismus gegenüber der Klimakatastrophe. Wie oben beschrieben, findet der Kongress der Humanimals in einer utopischen Blase statt, in der alle alles super finden. Natürlich lässt sich argumentieren, wie erfrischend es ist, auch mal eine durchweg positiv gestimmte Herangehensweise an das Thema zu lesen, aber auf Dauer, sprich 300 Seiten lang, mutet es für mich eher realitätsfremd an, wenn all diese Charaktere aus gebildeten, gut bürgerlichen Haushalten über die Rettung der Erde philosophieren. Klar, darf es sie geben, aber hilft uns so eine akademische Träumerei wirklich weiter, um mit der Realität klarzukommen? Wirkt das nicht fast wie Hohn?
Zwischen Käsegedichten, Klima-Cyborgs und kommunistischen Eichhörnchen frage ich mich immer noch, was Ulla Hahn da bitte geraucht haben muss, um dieses Buch zu schreiben.
Ich bin mir sicher, ich hätte das Buch mehr feiern können, wenn ich alle Referenzen und Bezüge vollständig verstanden und gekannt hätte, aber ich schätze, dafür bin ich einfach noch nicht belesen genug und habe mich an der ein oder anderen Stelle doch recht dümmlich gefühlt. Der Anhang ist daher so ziemlich mein bester Freund gewesen.
Insgesamt war das aber ein unheimlich abgedrehtes, - sowohl inhaltlich als auch sprachlich - geniales Buch, auch wenn es an manchen Stellen wirklich etwas zäh zu lesen war. Es ist außerdem schade, dass der Lösungsansatz am Ende nicht wirklich etwas konkretes ausgesagt hat, auch wenn er wie ein Appell geschmückt worden ist.
Ich schätze Ulla Hahns Gedichte sehr. Sehr lange habe ich mir daher schon vorgenommen, einmal einen ihrer Romane zu lesen. Dass "Tage in Vitopia" dann eher enttäuschend wurde, fand ich sehr schade.
Der Roman wird erzählt aus der Perspektive einer anthropomorphisierten Eichhörnchenfamilie. Die Handlung ist angesiedelt in einer Welt, in der den Tieren lediglich die richtige Technologie fehlte, um mit Menschen kommunizieren zu können. Soweit, so gut. Diese fortschrittliche Technologie nutzen die Tiere dann auch begeistert, so auch Wendelin Kretzschnuss und seine Frau Muzzli. Diese leben in Hamburg in einem Garten und lernen die Schönregens kennen, die beide akademisch, bürgerlich und am Dialog interessiert sind.
Beseelt von der Idee, den Planeten vor dem menschengemachten Klimawandel zu retten, bilden Tiere und Menschen einen Widerstand, der erst den Hambacher Forst, dann die ganze Welt retten soll. An einem Ort, an dem alle Tiere friedlich mit einander auskommen, an dem tote Größen der Weltgeschichte wieder zum Leben erwachen, werden einerseits das Probleme analysiert, andererseits Lösungen gefunden.
Soweit so interessant, jedoch stellte ich beim Lesen fest, dass Konferenzen, egal wie methodisch innovativ sie sind, doch Konferenzen bleiben und sich denkbar schlecht für eine Geschichte eignen. Es ist zugegebenermaßen sehr breit gefächert, welche Probleme Mensch und Tier auf die Konferenz trgen. Dem Thema noch nicht allzu vertraute Leser*innen werden sicherlich einiges lernen können. Als Geschichte taugt diese Konferenz meines Erachtens jedoch aufgrund ihrer Konfliktlosigkeit wenig (alle Teilnehmenden haben dasselbe Ziel; vielleicht wäre ein Einbeziehn der Gegner*innen notwendig gewesen).
Ein anderes Problem hat der Roman in der Form, dass er nicht eurozentristisch sein will, es aber ist. Es treten Jesus, Sokrates und zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der europäischen Geschichte auf. Um dies auszugleichen, wird ein asiatischer Berg am Rande erwähnt. Es tauchen ab und an weitere Sprenkerl auf, die einen Universalismus und eine Vielfalt behaupten sollen, die nicht da sind.
Darüber hinaus sind die Figuren leider auch wenig fortschrittlich gezeichnet. Zwar sind die Schönregens und Kretzschnuss durchaus jeweils gleichberechtigte Paare. Allerdings sind die Männer dann doch jeweils die großen Welterklärer und ein Hauch von Patriarchat kommt immer wieder auf.
Auch ist der Roman bemüht, jede Form von Disharmonie, von Gegensätzen zu überwinden. Kein Rassismus, kein Sexismus, etc. und eine entsprechend aufmerksame Atmosphäre prägen die Konferenz. Selbst fleischfressende Tiere bedienen sich nur an aus dem Labor entstandenem Fleisch.
Bedauerlich ist, dass trotz all dieser Bemühungen Dickenfeindlichkeit es explizit ins Buch geschafft hat. "Käte Krähe mit unverhohlen verzweifeltem Krächzen, berichtete Willi. Mehrfach hat sie hier ihren Schwur gebrochen, endlich, endlich Diät einzuhalten. Hippokrates hat ihr die gestern verordnet: Deine Lebensmittel seien deine Heilmittel, sagte er wortwörtlich. Ansonsten müsse sie in Kürze damit rechnen, von Fressnapf zu Fressnapf nur noch hüpfen, ja torkeln zu können, mit dem Fliegen sei es dann aus. Und wie sie dann ins Nest kommen wolle!" (s. 202)
"Allen voran die international anerkannten Vielfraße Gargantua und Pantagruel, sein Sohn. Zwei Riesen, die von ihrem Vater bzw. Großvater begleitet wurden. Franz Rabbeläs hieß der, wusste Isidor, mit Abkömmlingen dieser weit verbeiteten Sippe von manchem Gelage auf Schützenfesten bestens vertraut, dort gerate der Franz oft mit seiner Verwandschaft aneinander, wegen ihres Benehmens. Auch heute schien er sich seines Nachwuchses zu schämen und mahnte ihn immer wieder mit gesalzenen Drohungen zu anständigen Manieren, wenn sie schmatzend und schlabbernd über einen zuber von der Größe eines Waschtrogs, gefüllt mit sahnigem Hefebrei, herfielen, als ginge es um den ersten Platz im Guinessbuch./ Tatsächlich hatte ich derart verfressene Humans noch nie gesehen. Bis ein weiterer, weit jüngerer Human herbeistapfte. Manekenpix hieß der, klärte Pauli uns auf, er kenne ihn. Flüchtig, nur vom Lesen. An Körpergröße und Leibesumfang stand der Junghuman den beiden älteren Herren in nichts nach. [...]/ Körbeweise wurden nun die Veggieburger rangeschleppt, ein Banner ausgerollt: Schmatzen bis zum Platzen../ Sollte das etwa ein Wettessen werden?/ Doch da hatten die drei und ihre fetten Fans die Rechnung ohne den Wirt, ohne Lukullus gemacht. Der einen derart schamlosen Umgang mit Speisen, wo in Realopia Humans und Animals verhungerten, rundheraus verbot./ Später erfuhren wir, dass derlei Verbote bei Rückfällen in total überholtes retrohumans Verhalten in Vitopia Gaialob äußerst selten nötig waren. Strafen waren hierzulande abgeschafft. Ein Verbot war Strafe genug." (S. 193-194)
Beide Stellen bezeugen den regen, unreflektierten Gebrauch gängiger Topoi über dicke Menschen, die allzu wenig mit der Realität, den Erfahrungen und dem Erleben echter Menschen zu tun haben. Es wird hineinprojeziert, pathologisiert und von einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung ausgehend beschrieben. Nichts davon ist nötig. Der Roman beweist, dass er in der Lage ist, Luthers Sexismus kritisch zu hinterfragen, den natürlichen Jagdinstinkt von Raubtieren niederzulegen und über alle Grenzen hinweg Verständigung über eine Art Universaltranslator zu erreichen. Aber in Bezug auf dieses Thema wird keinerlei Mühe erkennbar, Stereotype abzubauen, die gehässigen Vorurteile zurückzufahren und damit einen Beitrag zur Entstigmatisierung von Dicksein zu leisten (ein Schritt, den die Medizin inzwischen für nötig erachtet, um ein gesundes Leben für dicke Menschen zu ermöglichen).
Daneben ist die Lösungsperspektive, die der Roman bietet, höchst fragwürdig. Individualverkehr, Verteilungsungleichheiten, das Problem unbegrenzten Wachstums, etc. kommen am Rande zwar vor, sind aber nicht Teil der Lösung. Die Lösung sind Fleisch aus dem Labor, ein Universaltranslator zwischen allen Menschen, Tieren und vielleicht sogar auch irgendwann Pflanzen. Und natürlich AIs, die nur überzeugt werden müssen, dass sie Teil der Lebewesen auf der Erde sind, damit sie sich an der Abwendung der Krise beteiligen.
Für einen Roman, der sich derart viel Zeit nimmt, Krise, Auswirkungen und Probleme zu benennen, wird außerordentlich wenig verstanden und die Lösungsansätze fallen auch schwach aus. Nicht, dass Literatur zwingend politische Lösungen finden muss. Aber sie sollte schon zur suspension of disbelief einladen, ihrer eigenen Welt gerecht werden. Das habe ich leider hier überhaupt nicht vorgefunden.
Ein Spiegel-Bestseller. *Seufz* Wie meist bei diesen fühle ich mich beim Lesen dumm und danach etwas weniger dumm. Aber immer noch kein angenehmes Gefühl 😅. Also: ich bin weit davon entfernt alle Anspielungen zu verstehen, aber die Anmerkungen waren wirklich gut. Die Eichhörnchen Perspektive ist wirklich niedlich, jedoch entfernt sich das Buch auf einigen Ebenen sehr weit von der Realität (Enkelkind des Eichhörnchen -Protagonisten ist halb Erdmännchen halb Eichhörnchen). Andererseits ist es Top-Aktuell. Wie alle Menschen und Tiere mit der Flora und Fauna zusammen den Klimawandel stoppen wollen und Frieden schaffen. Die Teil-Lösung (NeuNeus?) hat mich eher verwirrt und es fehlte mir hier an einem oder mehreren konkreten Ansätzen. Mit der ganzen Nennung der Beteiligten ist es sehr konkret aber die Lösungen sind dafür sehr rar und kurz gefasst. Die gender - neutrale Sprache ist definitiv ein Plus. Ansonsten hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem lyrischen Schreibstil.
Hier ein Zitat was aktuell ergreifender ist als wohl geplant: Glocken aus allen Flecken der Welt waren dabei, Glöckchen zahlloser Kapellen bis zu einer der größten und schwersten Glocken weltweit: Auf dem Iwanplatz im Kreml erhob sich die Zar-kolokol, die Zarenglocke, von ihrem Sockel und läutete. Zum allerersten Mal. Für den Frieden der Welt. Zusammen mit dem Geläut der Sophienkirche in Kiew
Ich habe noch nie ein Buch aus der Perspektive eines Eichhörnchens gelesen. Das war auch der Grund warum ich zu dem Buch gegriffen habe. Einerseits fande ich die Perspektive ziemlich unterhaltsam, andererseits fand ich einige Passagen sehr öde und repetitiv. Die dystopische/fantastische Welt war etwas womit ich nicht gerechnet habe, möglicherweise einfach mein Fehler. Ich habe etwas komplett anderes erwartet. Dennoch mochte ich die meisten Protagonisten und die Beziehung zwischen Tier und Mensch.