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470 pages, Hardcover
First published January 1, 2002
"Der Mensch muss noch viele Werge beschreiten", fuhr Martin fort. "Er stürzt sich auf alles, das nach seinem Dafürhalten einen Sinn bergen konnte. Er versuchte zu kämpfen, er versuchte, etwas zu erbauen. Er liebte und er hasste, schuf und zerstörte. Und erst als sein Leben sich dem Ende zuneigte, erkannte der Mensch die tiefere Wahrheit. Das Leben hat keinen Sinn. Der Sinn bedeutet stets Unfreiheit. Der Sinn formt stets jenen harten Rahmen, in den wir einander hineinjagen. Wir behaupten, der Sinn läge im Geld. Wir behaupten, der Sinn läge in der Liebe. Wir behaupten, der Sinn läge im Glauben. Doch all das sind nur Rahmen. Im Leben gibt es keinen Sinn, und darin liegt sein höherer Sinn, sein höherer Wert. Im Leben gibt es kein Finale, das wir unbedingt erreichen müssten - und das ist wichtiger als Tausende ersonnener Sinndefinitionen." (S. 371)
"[...] Es legte sich Verstand zu. Es begriff die Welt. Weshalb?"
"Das ist das natürliche Bedürfnis des Verstands. Der Wunsch, die ihn umgebende Welt zu erschließen ..."
"Quatsch", fiel ihm die Amöbe scharf ins Wort. "Das einzige natürliche Bedürfnis des Verstands ist es, seine Existenz maximal in die Länge zu ziehen. Die Welt zu erschließen dient nur der Gewährleistung der Sicherheit. Ich stelle dir eine andere Frage: Wozu braucht man den Verstand? Nicht den primitiven, tierischen Instinkt, sondern den Verstand? Ich hoffe, du bist in der Lage, diese beiden Begriffe auseinanderzuhalten."
"Das bin ich", beteuerte Martin. "Den Verstand braucht man für die Sicherheit, die du angeführt hast. Ein Wesen, das sich abstrakte Fragen stellen kann, hat weitaus größere Chancen zu überleben."
"Nur langfristig. Gut, nehmen wir einmal an, eine Kette von Zufällen habe den Instinkt um den Verstand ergänzt. Aber die meisten der sogenannten intelligenten Wesen stört der Verstand letzten Endes. Ihnen reicht das instinktive Handeln völlig aus. Damit führen sie einfache Arbeiten aus, kommen den Anforderungen der sozialen Gemeinschaft nach, empfinden Vergnügen beim Essen, bei der Fortpflanzen und bei körperlichen Betätigungen anderer Art. Tiere leben vortrefflich in Herden, freuen sich ihrer Existenz und leiden nicht unter den negativen Aspekten des Verstandes."
Martin lachte unfroh auf. "Stimmt, du hast recht. Ein großer Teil der Menschheit würde hervorragend mit rein instinktivem Handeln zurande kommen. Ihr Verstand schlummert. Ich nehme an, bei den meisten humanoiden Zivilisationen ist es nicht anders. Aber was folgt daraus?"
"Wozu braucht man den Verstand?"
"Als Mittel des Überlebens ..."
"Wozu braucht man den Verstand?", blaffte Pawlik.
"Um idiotische Fragen zu stellen!", brüllte Martin. "Um sich mit Fragen über den Sinn des Lebens zu quälen! Um den Tod zu fürchten! Um sich Gott auszudenken!"
"Schon besser", befand die Amöbe sanft. (S. 442 f.)