Ein gleichberechtigtes Miteinander ist auch im Deutschland des Jahres 2023 keineswegs eine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder hart erkämpft werden. Die Frage, wer wir in Deutschland sind, was mit diesem "Wir" eigentlich gemeint ist und wie gesellschaftliche Teilhabe funktionieren kann, steht im Zentrum vieler kluger Analysen und heiß geführter Debatten. Dieses Buch setzt neu an, findet eine andere, eine entschleunigte Form der In 21 Briefen gehen die Beitragenden mit ihrem Gegenüber intensive Zwiegespräche über ihr Dasein in der deutschen Gesellschaft ein – mal tastend, mal vehement, sich erinnernd, immer suchend.
Eine Sternewertung möchte ich nicht abgeben. Einige Briefe haben mehr zu mir gesprochen als andere. Einige habe ich nur überflogen, andere zweimal gelesen. Ein wichtiges Buch voll dringlicher Botschaften.
anders bleiben – Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten, herausgeben von Selma Wels
Diese Briefsammlung ist ein Fest der Diversität und zugleich sehr augenöffnend. Was ich beim Schreiben den folgenden Eindrücke jedoch bemerke sind die vielen großen Wörter, die bei solchen Zusammenfassungen wie Hürden im Raum stehen bleiben können. In den einzelnen Briefen wird das alles so viel greifbarer, als es eine Zusammenfassung mit abstrakten Begriffen je leisten könnte. Am besten einfach selbst lesen, dennoch ein paar Beispiele:
• Wenn von „Integration“ gesprochen wird, ist häufig eigentlich „Assimilation“ gemeint, also eine nahezu vollständige Angleichung an die örtlichen kulturellen Gepflogenheiten (Kleidung, Feste, Sprache, …). Ersteres ist bereichernd, letzteres führt zu mehr (Selbst-)Entfremdung. Man kann den sprichwörtlichen Kuchen größer machen, er wird durch mehr Vielfalt jedenfalls nicht kleiner.
• Wie können Themen besprochen werden, ohne die Geschichten von Gewaltbetroffenen gegeneinander auszuspielen? Ambivalenzen müssen irgendwie ausgehalten werden. Doch Menschen mögen klare Leitplanken, die ganzen Zwischentöne gehen aber von dem Beharren auf „Gut und Böse“, auf „Wir gegen die Anderen“ verloren. Differenzierte Argumentationen müssen aber drin sein (die aktuelle Situation ist ein passendes Beispiel dafür).
• Es braucht Platz für viele kleine »Wir«. Ein großes »Wir«, das für ganze Länder/Gruppen gesprochen wird, blendet wieder alle aus, die nicht dem gemeinten Normativ entsprechen (z. B. Deutschland und die ehm. DDR).
Diese Hommage an Walter Benjamin und seine Briefsammlung »Deutsche Menschen« ist eine riesige Empfehlung wert!
'Anders bleiben' oder 'Deutsche Menschen II', wie das Buch zunächst hätte heißen sollen, erzählt die Perspektiven von in Deutschland lebenden Menschen. Es ist eine Vielfalt an Perspektiven auf Deutschland und die deutschen Menschen in Form von Briefen. Damit kommen Absendende und Empfänger*innen zu Wort.
'Anders zu bleiben und das Leben ständig zu ändern, ist alles, was man tun kann, um dahin zu kommen, wo man sein möchte.', schreibt Najem Wali an Rainer Maria Rilke. Wohingegen Sharon Dodua Otoo an die Herausgeberin schreibt, dass mit der Bestimmung von 'anders sein und bleiben' die Norm 'in ihrer Position bestätigt' wird. 'Mit meiner kreativen Arbeit versuche ich genau dagegen anzuschreiben. Ich entwerfe Figuren und stecke sie in Handlunge, um vermeintlich Selbstverständliches in Frage zu stellen.' 'Ich habe von Ihnen also vor allem gelernt, Unbehaglichkeit auszuhalten, selbst, nein, vor allem solche, die man nicht mit einem freundlichen Bannspruch auflösen kann.', resümiert Christiane Frohmann in ihrem Brief an Ruth Klüger.
Es sind Gedankenimpulse, die ein so vielfältiges Bild ergeben. So vielfältig wie Deutschland nun mal ist. Gedankenimpulse, die in mir noch lange nach dem Lesen nachhallen.
irgendwie hatte mich der titel eher kritisch gestimmt aber wow, was ein buch! es hat einen riesigen unterschied gemacht, dass viele der autor*innen sich mit dem titel auseinander gesetzt haben, ihn interpretiert und kritisiert haben. die briefe fragen und zeigen und ziehen und drücken, nehmen identität und nationalität und zugehörigkeit auseinander und setzen sie anders wieder zusammen. wie so oft bei essay-sammlungen, vor allem wenn sie von mehreren autor*innen sind, haben mich dabei manche texte mehr, manche weniger getroffen. besonders bei mir geblieben sind die briefe von nava ebrahimi, hannes bajohr, dilek güngör, leila essa und marija latković. der brief von karen krüger hätte, with all due respect, meilenweit von dieser sammlung entfernt bleiben können. er passt irgendwie sehr gut zu ihrem namen. soll sich jede*r dazu denken, was sie* will.