Über die Maßstäbe für "gute" Gegenwartsliteratur herrscht große Unsicherheit. Moritz Baßlers Buch analysiert erfolgreiche Erzählliteratur der Zeit und diskutiert den veränderten Status der Literatur in der aktuellen Markt- und Mediengesellschaft. Der Schwerpunkt liegt auf deutschsprachigen Romanen, Seitenblicke werden auf den internationalen Kontext, das erfolgreiche Genre der Fantasy sowie auf die inzwischen dominante Erzählform der Qualitäts-TV-Serie geworfen. Dabei macht Baßler einen international prägenden Stil des "populären Realismus" aus: Leichte Lesbarkeit und routinierte Plots, aufgeladen mit Zeichen der Bedeutsamkeit, ohne dass die Texte aber tatsächlich Neuland beträten.
Das Verfahren gegenwärtiger Erzählliteratur, so Baßler, ist durchgängig ein "realistisches" - der Lesende befindet sich immer schon in der erzählten Welt, ohne dass die Zeichen des Textes ihn dabei besonders herausforderten. So konnte sich ein International Style ausbilden, dessen Prosa in Verbund mit routinierten Plots eine leichte Lesbarkeit garantiert. Wer noch Literatur liest, hat dabei aber oft den Anspruch, nicht bloß gut unterhalten zu werden, sondern auch an Hochkultur, an Kunst teilzuhaben. Dafür muss der International Style seine Lesbarkeit mit Bedeutsamkeit aufladen, ohne die Lektüre allzu sehr zu erschweren. Umberto Eco nennt dieses Missverhältnis von leichter Form und schwerem Anspruch Midcult. Vielleicht ist dies die unserer Zeit gemäße Erzählliteratur mit eigenen Chancen?
Wie kann man eine komplexe Literatur verteidigen, ohne in einen elitären Kulturkonservatismus zu verfallen? Über das Populäre und seine Alternativen Identität oder Ambivalenz?
This is the foil against which we should discuss next year's Booker Prizes as well as the German Book Prize: Baßler dissects the complex relationship between the market (what sells?), the books written and published (what is produced?), and what is celebrated by critics and prizes (how do we define literary quality?). I think I have never read such a zeitgeisty pageturner that deals with literary theory, it's stimulating, exciting, and highly relevant - plus it has already triggered quite some reactions, as it questions the standards of literary discussions.
Baßler's thesis is that in contemporary literature, "popular realism" is the dominant form of fictional writing, both in Germany and internationally. It is important to note that realism does not mean that the plot is actually realistic; rather, the style lets the plot seem plausible, because it refers to preconceived scripts that exist in the readers' heads, which is why modernism underlined realism's potential to become ideological: It doesn't challenge preconceived notions, it activates them.
This leads directly to the discussion about the democratization of art: Popular realism activates common scripts and aims to make novels accessible to many people by abolishing potential barriers to understanding, but it also intentionally uses markers to try to indicate that here, readers participate in high art. As these markers, as shown, can't be part of the aesthetic presentation, they feature in the content: "Important" topics are addressed, often combined with "authentic" writers who write about their own experiences, which leads to a discussion whether or how it is even valid to criticize these texts. What is often overlooked here is that this form of democratization (if it even is one!) also a means to turn novels into products that sell better, because it's easier to stomach them aesthetically, as the language is only there to seamlessly evoke worlds we like to spend time in. When it comes to the content, this style of writing further stabilizes preconceived beliefs and does not challenge readers, but employs conventional codes to reinforce their worldview. Baßler calls these books "midcult", referring to a concept developed by Umberto Eco and Dwight Macdonald in the 1960s.
Is this still art? I think that if bubbles start to deny the possibility of aesthetical debate, because the topics are important or the texts represent personal experience, this is the end of the truly communicative character of storytelling. Baßler also points out that the opinions furiously defended by these bubbles are often mainstream, which serves to stabilize the ideological status quo. The obvious is not worth narrating. Trauma alone is not enough to qualify a text as well crafted. To state that some writers are exempt from criticism means to disrespect them as artists.
What leads into the future, Baßler argues, is paradigmatic, tentacular storytelling; texts that do not equate, but open a field of similarities, of debate; texts that acknowledge digital worlds and move away from classic family structures to navigate wider nets of kin.
Sure, I tend to agree with Baßler as we perceive the same writers as relevant: Kracht, Randt, Krusche, Setz, Guse, Groß, Sanyal, etc. - and I love how he dissects Kehlmann, as I agree that he is extremely overrated. I'm really excited to discuss Baßler's observations during 2023, when looking at prize lists and book debates, because these are some astute observations.
Mortiz Baßler wirft einen 393 Seiten-langen-Blick auf die Gegenwartsliteratur und lotet dabei, in vielen Beispielen und Details, die Tiefen und Untiefen des „Internationalen Style des gegenwärtigen Erzählens“ aus. So ganz weiß ich jedoch nicht, wer der Adressat, die Zielgruppe dieses Buches sein könnte. Der „einfache“ Leser bestimmt nicht. Dafür sind die theoretischen Ausführungen zu fordernd und setzen zu viel literaturtheoretisches Wissen voraus. Studenten der Germanistik und aller verwandter Fächer haben sowieso schon genug Leseverpflichtungen, ob die sich ein theoretisches Werk noch zusätzlich auf ihre Leseliste setzen? Literaturkritikerinnen und Kritiker auch eher nicht, weil die kommen in diesem Text nicht besonders gut weg und fühlen sich bestimmt gehörig bevormundet – zumindest ist das mein Eindruck. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich Baßler vollinhaltlich folgen konnte. Zum Beispiel wurde ein Eindruck von mir, dass Kracht, Herrndorf und Goetz sich im von Baßler verpönten Midcult schreibend bewegen, und dass sie nur mittels Themenwahl „Hochliteratur“ vortäuschen (etwas vereinfacht dargestellt), und im Lesegrunde ganz einfache Texte verfassen. Jetzt lese ich in der Deutschlandfunk Kritik vom 20.9.2022 einen dieser meiner Annahme völlig gegenteilige Aussage: „Auch lehne der Literaturwissenschaftler aus der Fraktion Kracht/Herrndorf/Goetz rundheraus alles ab, was ihm allzu schwer erscheint, allzu zeichenträchtig, nicht spielerisch genug - eben nicht Kracht/Herrndorf/Goetz-genug.“ Ich lasse das jetzt einmal so stehen. Fazit für mich ist aber schon, dass ich sehr interessante Zugänge zu Büchern, viele Empfehlungen zu Autoren und deren Werken gefunden habe, und die Lektüre phasenweise sehr bereichernd war und phasenweise für mich sehr schwierig. Baßler selbst schreibt zu einem Text, mit dem er sich schwertat und das kupfere ich jetzt ab und wende es für mich auf sein Buch an: „…seinen Leserinnen an solchen Stellen durchaus einiges an eher nüchterner Aufräumarbeit zumutet, und ich will nicht behaupten, dass ich die formallogische Seite daran restlos verstehe.
Ein echter Diskussionsstarter zum aktuellen Stand in Sachen Erzähltrends, mit vielen Beispielen aus aktuellen Veröffentlichungen der letzten ca. zwei Jahre. Was ist Midcult und was hat dieser mit dem Kulturkampf zu tun? Baßler erklärt alles andere als trocken: Das macht Spaß, unterhält und ist lehrreich zugleich.
Moritz Baßler, seines Zeichen Literaturwissenschaftler an der Universität Münster, fühlt in seinem neuesten Buch „Populärer Realismus“ den aktuellen Bestsellern und Buchpreisbüchern auf den Zahn. Die Gegenwartsliteratur zeichne sich durch Realismus aus, und Realismus bedeutet für Baßler, dass die Sprache als Medium nicht in Erscheinung tritt, sondern nur als Mittler, als unsichtbares Zeichensystem, das direkt in die Welt der Erzählung leitet:
„Der Realismusbegriff, der in diesem Buch verwendet wird, bezieht sich also ausdrücklich auf die Machart der Texte und nicht auf ihren Inhalt. Gespenstergeschichten, Science-Fiction und Fantasy-Romane enthalten zwar Dinge, die in unserer Realität womöglich nicht vorkommen (Gespenster, Vampire, Androiden, Drachen, Zauberer). Sie sind aber trotzdem realistisch erzählt […]“
Die Differenz, die Baßler anbietet, besteht zwischen Diegese, die Allheit der erzählten Welt, und Mimesis, die Anverwandlung an die Erzählposition. Traditionelle Romane wie von Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“ oder Hermann Broch „Der Tod des Vergils“ betonen qua Wortwahl und Rhythmus ein situatives, dechiffrierendes Lesen, in welchem das Lesen sich als Tätigkeit stets bewusst bleibt, also eine Vermittlungsleistung zwischen Schreiben und Lesen im Akt vollzogen wird. Romane des Populären Realismus, so Baßler, lassen die Zeichenwelt verschwinden und ziehen ihr Publikum direkt in die verhandelte Welt, d.h. das Universum von Romanen wie ��Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ oder Christian Krachts „Eurotrash“ ist bereits das bekannte, durch Medien und andere Bücher vorverdaute Universum, auf das nur verwiesen, das nicht mehr beschrieben zu werden braucht. Laut Baßler handelt es sich hier strenggenommen nicht mehr um Literatur:
„Überhaupt trifft alles hier Gesagte für Fantasy-Literatur, als Inbegriff des Populären Realismus, ziemlich genau zu. Um also auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen, ob Fantasy überhaupt noch in einem emphatischen Sinne Literatur ist, muss die ehrliche Antwort wohl lauten: Nein!“
Was übrigbleibt, im Kontext der neuen Schreibweise, besteht im direkten Bejahen dieser Ambivalenz, das wäre die Popliteratur nach Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre, oder das Verschleiern dieser Ambivalenz durch Übernahme von Topoi, Duktus und Stil, ohne je den Zeichencharakter des Textes in den Fokus geraten zu lassen, das wäre Populärer Realismus im Sinne von Daniel Kehlmann oder Martin Mosebach. Beide Formen erzählen realistisch. Beide Formen haben nichts mit dem Versuch der Literatur gemein, neue Sinnlichkeitsformen poetisch emergieren zu lassen. Der Unterschied besteht nur in der sich selbst zugedachten Rolle. Ironisiert Kracht, belehrt Kehlmann. Setzt sich Stuckrad-Barre nicht mehr in die Tradition eines Thomas Mann, imitiert Mosebach gerade diesen:
„Populärer Realismus und Pop-Literatur, deren beider Merkmale sich in „Tschick“ [von Wolfgang Herrndorf] finden, sind also, so betrachtet, Alternativen auf dem Feld einer neuen realistischen Erzählliteratur. Leitkunst des Populären Realismus ist der Spielfilm: Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung und Naturalisierung. Er macht dabei tendenziell unsichtbar, was die Pop-Literatur ausdrücklich betont: die Äquivalenz, die Nebenordnung von Möglichkeiten: Dominanz der Diegese, des Archivs, Markenparadigmen, Parallelwelten, auch Serialität, verbunden mit einer Schwächung der Handlung, oft des Narrativs selbst.“
Baßler stellt sich klar auf die Position der Pop-Literatur. In diesem Sinne untersucht er u.a. Sebastian Fitzeks „Der Heimweg“, Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ und andere in der Kategorie Populärer Realismus, und Dietmar Dath „Gentzen“ und Christian Krachts „Eurotrash“ und Wolfgang Haas‘ „Müll“ für selbstkritische, selbstreflektierte Pop-Literatur. Die traditionelle Literatur gerät hier unter die Räder, und es wird schlicht und ergreifend behauptet, dass sich die Gegenwartsliteratur nicht mehr mit den Begriffen der klassischen Literatur beschreiben lässt. Diese scharfe Trennungslinie wirkt aber überhastet und verengt Moritz Baßlers Text auf eine gelungene Beschreibung der Gegenwartsästhetik, ohne Anschluss aber an eine kommunikative Produktivmachung dieser dominanten Erzählstrategien für Publikum und Schreibende. Hierfür hätte es eines weniger klassischen Kommunikationsbegriffes bedurft, der kybernetisch auf der Höhe der technologischen Entwicklung sein Ziel nicht in Bewertung und Beurteilung, sondern in der Entfaltung von Mitteilungsmöglichkeiten sieht.
Nicht ganz leicht zu lesen, aber sehr erhellend. Für alle, die darüber diskutieren wollen, was gute von mittelmäßiger Literatur unterscheidet. Dazu muss man wissen: Autor Baßler ist ein großer Fan der literarischen Moderne, also grob der Zeit von 1850 bis 1950, einer Epoche der sprachlichen Experimente.
Baßler versäumt es, mehrere Begriffe voneinander zu differenzieren. So stellt er eine damals gegenwärtige formale Moderne einem inhaltlich abfallenden, heute gegenwärtigen, wie er es nennt, „populärrealistischen“ Erzählen gegenüber. Aber die Gegenwärtigkeit der formalen Avantgarde damals um 1900 definierte sich nur teilweise über das Erscheinungsjahr des Textes, gegenwärtig blieb, was andere Texte in Punkto formaler Aufgelöstheit oder Atomisierung, Baßlers Doktorvater Gotthart Wunberg hätte gesagt, Unverständlichkeit überbot, so dass ein Gedicht von Blaise Cendrars von 1912 gegenwärtiger sein konnte als eines von Georg Britting von 1913, einfach weil die Textur des ersteren den State of the Art der Moderne besser repräsentierte. Zweitens ist die Bindung an die Rezeption und an Spielstrukturen sowie an wirtschaftlichen Erfolg für ein gewichtiges Segment heutiger Literatur sicher bezeichnend, aber weder hat alte Literatur auf Spielstrukturen verzichtet (Borges, Ritterroman Erec, Kusenberg) noch ist nach Avantgardemaßstäben das Gekauftwerden eines Buches beziehungsweise literarischen Narrativs entscheidend für seine Bedeutsamkeit - man nehme etwa den Roman Paradiso von Jose Lezama Lima. Eine weitere Unschärfe ist die pauschale Ineinsnahme von Alkoholismus, Homophobie (und nicht etwa, wie Baßler unfassbarerweise im Jahr 2022 schreibt: Homosexualität), Antisemitismus, Femizid und Rassismus als das, was Baßlers Theoriebildung „schwere Zeichen“ nennt. Das Besondere an den letzten drei der vier Zeichen ist ja gerade, dass sie selbst Moderneprodukte sind, Produkte der „Nachtseite der Moderne“ (Mbembe) und zudem, dass sie unerledigte mörderische Probleme der Menschheit sind. Genausowenig wie - wie Baßler behauptet - Antisemitismus im Jahr 1950, als Heinrich Böll ihn anprangerte, erledigt war - er ist es bis heute nicht, sondern feiert grimmige Urständ, ebensowenig sind Femizid und Kolonialrassismus ahistorische Zeichen, unverbunden mit Avantgarde bzw. Moderneanstrengungen, sondern vielmehr bis heute Lebenschancen einschränkende, Menschen tötende, aus der Moderne ererbte Phänomene. Insofern müssen sie, auch aus inhaltlichen Gründen, bis zur gesellschaftlichen Abarbeitung dieser Gewaltformen weiter in unendlich vielen schlechten Romanen beklagt werden und uns wegen ihrer antiästhetischen Hässlichkeit auf die Nerven gehen. Ich bitte darum! Dass sie „schwer“ sind, wie Baßler sagt, hat den Grund in ihrer Modernität und Postmodernität, dem klaren Gefühl oder dem unbewussten aber durchaus gewussten menschlichen Auftrag jedes_jeder einzelnen Leser_in, diese Missstände beheben zu sollen. Weil Baßler die inhaltliche Moderne der Verhandlung von Frauenrecht, queerer Kultur, Antisemitismus und Rassismus aber hartnäckig aus seinen künstlich rein formal gehaltenen Analysen heraushält, (die übrigens brillant sind und zutreffend, nur eben nicht für DIE Moderne, sondern einfach für die Texte, die analysiert wurden) so kann der Germanistikprofessor den Fokus auf eine erfundene Moderne legen: groteskerweise fast ausschließlich auf die Produktion weißer Männer - vornehmlich auch noch deutschsprachiger; so als hätten Frida Kahlo, Left Bank, Harlem Renaissance, Molly Houses und die Erfindung der Heterosexualität in der Moderne nie stattgefunden, als hätten Sojourner Truth und Frederick Douglass nie geredet und geschrieben (Moderne), als wären Jazz und Talking Blues (und in der Verlängerung Hiphop) nie erfunden worden mit ihrem Einfluss auf Gertrude Stein, auf die weißen Ripoffs der Beat Poets und Beatniks, auf Bukowski und O‘Hara. Dieses Moderneverständnis ist so offensichtlich hin auf eine phantasmagorische Hegemonie der weißen Männer einer deutsch-us-amerikanisch angeführten westlichen Hemisphäre hin verschmalt, dass es wunder nimmt, warum diese herbeitheoretisierte weiß-männlich-heterosexuelle Supremacy in den Rezensionen deutscher Medien so beglückt besprochen wurde. Aber das ist wohl dem Rechtsdrift unserer Gesellschaft geschuldet.