Osteuropa-Literatur discussion

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message 1: by Babette (last edited Oct 01, 2020 12:03PM) (new)

Babette Ernst | 1619 comments Erster Teil, 3. Kapitel
(S. 163) bis ca. 12.10.


message 2: by Frank (new)

Frank (cromus) | 971 comments Da geht jetzt allerhand durcheinander! Herrlich, wie die Wirkungen des Provinzklatsches und die schamlose Art des städtischen Intriganten Nr.1 (so scheint es) beschrieben werden. "Schuld" haben also wieder einmal die Frauen, in diesem Falle soll es also Dascha sein, die den Grund für ihre überstürzte Verheiratung selbst geschaffen habe; aber es sind auch die (anderen) Frauen, die alles wissen wollen und die natürlich leicht bereit sind, alles zu glauben. Und das natürlich hinter der Fassade allgemeinen Wohlwollens. Ich meine, Dostojewski zeigt hier sehr überzeugend, wie sehr in seiner Zeit alles zur Fassade geworden ist, hinter der (geistig, materiell und moralisch) nichts ist. Mit einem modernen Ausdruck könnte man sagen, dass er alle Figuren und ihre Erzählungen "dekonstruiert", also zeigt, was dahinter ist. Und dahinter ist regelmäßig - nichts! Nicht einmal die einmal eingeführte weibliche Schönheit ist, wenn sich der Erzähler später (!) daran erinnert, wirklich schön gewesen. Die Klugen sind nicht klug, die Anständigen nicht anständig, die Hochgestellten verhalten sich niedrig usw. usf. Allerdings tippe ich ein bisschen darauf, dass Dascha in diesem Buch die "Heilige", die "Sonja" (Schuld und Sühne) sein wird. Aber das wird man sehen. Ohnehin sind dieses Mal die Prognosen über den weiteren Verlauf unsicher (es sei denn, man schaut in den Romanführer- pardon: Wikipedia) Man bekommt schon den Eindruck, Dostojewski beim "Verfertigen der Gedanken" zusehen zu können. Mehr als eine allgemeine Idee dürfte er kaum gehabt haben und deshalb schreibt sich der Text nun von Kapitel zu Kapitel fort und die Details verwirren eher, als sie die Richtung weisen. Das ist bei Turgenjew freilich anders. Kommt der deswegen hier so schlecht weg? Die Begründung wird der Autor kaum liefern, denn in diesem Falle bin ich fast sicher, dass sein Konkurrent im Roman nicht mehr wirklich und leibhaftig auftreten wird (zumal die Karikatur, die Dostojewski von seinem Äußeren gibt, eher ihn selbst als Turgenjew beschreibt, dessen Erscheinung sonst ganz gegenteilig beschrieben wird) . Es reicht hier wohl, seine Fama ein bisschen anzupis...en. Autoren, auch große, sind doch immer eitle Kinder und jeder ist sich selbst der Größte und also seines nächsten Konkurrenten Feind. Aber damit kann man leben. Ich habe freilich aus diesen Gründen immer den Umgang mit den toten dem mit den lebenden Schriftstellern vorgezogen und erinnere die in der damaligen Leipziger Germanistik üblichen Treffen mit DDR- Schriftstellern wie Erik Neutsch & Co. äußerst ungern (Ausnahmen: Peter Edel, Trude Richter und immer wieder Volker Braun). Aber das gehört schon nicht mehr hierher. Viel Spaß euch beim Lesen! Ich glaube, es macht Spaß! ;-)


message 3: by Frank (new)

Frank (cromus) | 971 comments Nein, stimmt: Vom Erzähler wissen wir nichts. Aber das ist sicher auch nicht wichtig, denn D. wollte bestimmt nicht autobiografisch werden. Die Ähnlichkeit der Charaktere...- nun ja, ein Autor hat ja selten mehrere Top- Themen. (Zum Beispiel ist Eugen Ruge nobelpreisverdächtig, wenn er über die Ost- Geschichte schreibt, und eher schwach, wenn er andere Themen bearbeitet.) Ich denke, D. war schwer damit befasst hinter das zu kommen, was Marx mal als "Charaktermasken des Kapitals" bezeichnet hat. Man hört ja bei D. immer wieder raus, dass die von ihm beschriebenen Phänomene mit der Bauernbefreiung beginnen. In dem Augenblick, in dem der alte Adeln nicht mehr feudal über seine Leibeigenen herrschen konnte, sondern sich mit ihnen als Vertragspartner auseinandersetzen musste, begann ja seine "Verbürgerlichung". Nun musste der Adel wirtschaften lernen und konnte das auch nicht mehr unbedingt nur Verwaltern überlassen. (Vgl. auch Tolstoi "Anna Karenina".) Und mit dem Wirtschaften in kapitalistischer Weise kamen die Krisen, meint, einer war erfolgreicher als der andere, aber alle mussten gegeneinander den "Schein" wahren. Mehr Schein als Sein ist typisch bürgerlich. Für Dostojewski ist das Phänomen zwar beunruhigend, da die adligen "Tugenden" verschwinden; gleichzeitig ist es nicht mehr so neu, dass es ihm tragisch werden könnte. Ironie ist die angemessene Gestaltungsweise. Und deswegen kann man sich auch so darüber amüsieren. Übrigens meine ich, dass auch die Aufspaltung der politischen Orientierungen damit zu tun hat, dass der Adel und seine halb- adlige Dienstklasse sich über die neuen Wege verständigen mussten. Die Tradition gab ja keinen Anhalt mehr. Man fuhr deswegen auch ins Ausland, um zu studieren, wie das dort gemacht wird. Und man brachte dann die politischen Richtungen mit. Geradezu komisch wird es zwangsläufig, wenn Ideen von Fourier, also vom französischen utopischen Sozialismus, von russischen Adligen vertreten werden, die ringsumher keine Fabriken, keine Arbeiterklasse usw. hatten. Deswegen sind viele Personen, die sich hier so "revolutionär" gebärden, nur tragikkomische Figuren, denn da ist nichts "Revolutionäres". (Nur die Anarchisten waren damals ernst zu nehmen!) Das passt ja alles nicht zusammen. Auf Dascha als "reine" Heldin kann ich also nur deswegen kommen, weil die Frauen von den politischen Verwirrungen der Männer ausgenommen blieben und also "das Russische" weiterhin zu repräsentieren in der Lage waren. (Vgl. Sonja in "Schuld und Sühne"). Aber das muss man sehen... - Ansonsten, danke!, ich habe mich schon lange nicht mehr biografisch mit D. beschäftigt und weiß nicht mehr viel über sein Leben. Aber du bestätigst meinen Leseeindruck, dass man hier in Buchform eine Zeitungsserie vor sich hat. Macht nichts. Bei Balzac war es ja ebenso. ;-)


message 4: by Babette (new)

Babette Ernst | 1619 comments Ihr habt mir viele wertvolle Hinweise gegeben, ich hätte wenig verstanden, wenn ich die Lesegruppe nicht hätte...

Wie seid ihr auf Turgenjew gekommen? Ich las zwar auch noch kurz vorher eine Biografie und kann mich erinnern, dass Turgenjew nach anfänglicher Freundschaft ein schwieriges Verhältnis zu Dostojewski wegen dessen Umgang mit Geld hatte. Später kam es sogar zum Zerwürfnis, als Dostojewsli auf die Deutschen schimpfte und Turgenjew erklärte, dass er sich mehr als Deutscher, denn als Russe fühle. Es ist daher gar nicht verwunderlich, dass Karmasinows Gestalt dazu dient, einen Seitenhieb auf Turgenjew loszulassen, aber ich hätte es nicht gemerkt. Auf alle Fälle hat sich Dostojewski geirrt, wenn er dem "Schriftsteller mittelmäßigen Talents" ein baldiges Vergessen voraussagt.

Nicht nur diesen Absatz musste ich zweimal lesen, auch die komplizierten Verdächtigungen und Anspielungen auf irgendwelche Vorfälle konnte ich zunächst nicht begreifen. Ist es also so, dass eine "Sünde" zwischen Warwaras Sohn und Dascha vermutet wird und gleichzeitig eine Beziehung irgendeiner Art zwischen Warwaras Sohn und Lebjadkins verrückter Schwester? Ersteres würde zumindestens Warwaras merkwürdiges Verhalten erklären.

Ich fand übrigens auch, dass manche Charaktere denen aus dem "Idiot" ähneln. Ganz konkret denke ich an Liputin, bei dem ich an den schleimigen und stets neugierigen Beamten Lebedjew erinnert wurde. Aber es gibt auch Unterschiede, Dostojewski kann so vielschichtige Charaktere basteln, wie wohl kaum ein anderer.

Den Ingenieur Kirillow finde ich sehr interessant, er ist allerdings noch undurchsichtig.Seine Gedanken zum Selbstmord und der Angst vor dem Tod sind spannend, aber er widerruft sich selbst ständig, so dass ich nicht so recht weiß, woran ich bin. Also abwarten, wie es weitergehen wird.


message 5: by Frank (new)

Frank (cromus) | 971 comments Wie seid ihr auf Turgenjew gekommen? Ich las zwar auch noch kurz vorher eine Biogr..."

Der steht bei mir in den Anmerkungen. ;-) Ist also nicht auf meinem Mist gewachsen, obwohl ich sicher danach gesucht hätte, wer gemeint sein könnte. - Ja, Kirillow ist interessant. Dass er so schlecht Russisch spricht, ist - bei dem Namen (Kyrill= Begründer der Kyrillica, also der Urform russischer Schriftlichkeit) - schon wieder witzig. Seine Gedanken zum Selbstmord deuten wohl auf eine Spielart des russischen Nihilismus hin, der wesentlich zur Konjunktur des Anarchismus dort beigetragen hat. Bin gespannt, ob "unser Prinz" in Petersburg womöglich in Anarchisten- Kreisen verkehrt hat. Das würde Kirillows Unwillen sich eindeutig zu äußern, sehr schön erklären. ;-) Wir werden es sehen. Und der Eiertanz um Daschas mögliche (oder wirkliche?) "Sünde" ist doch lustig. Auch hier würde es um die Wahrung des Scheins gehen; aber ich glaube (noch) nicht, dass Dostojewski ALLE ohne Ausnahme "enttarnen" will. Er hat immer irgendwo "das Gute" in petto. ;-) Im Rahmen der bisher eingeführten Personage kommt nur Dascha halbwegs dafür in Frage. Aber ich würde mich gerne irren, denn das ließe mich erst Recht auf das Ende und damit "auf die Moral von der Geschicht" neugierig sein!


message 6: by Frank (new)

Frank (cromus) | 971 comments Sindy wrote: "Auf Turgenjew bin ich erst durch Frank gekommen und habe mich dann an die Zusammenhänge aus einer Dostojewskij Biografie erinnert. In meiner Ausgabe steht da tatsächlich kein Hinweis dazu.

Lach. Vielleicht solltet ihr doch lieber "Die Dämonen" in der guten alten Aufbau- Ausgabe lesen! ;-)



message 7: by Babette (new)

Babette Ernst | 1619 comments Der direkte Vergleich der Übersetzung und Anmerkungen wäre in der Tat interessant. Der Titel des Buches bezieht sich, so habe ich es gelesen, auf einen Abschnitt aus dem Lukasevangelium, bei dem ein "Besessener" von seinen "bösen Geistern" befreit wird, die in Schweine fahren und mit denen ins Wasser stürzen. Da finde ich "Böse Geister" passender als Dämonen, weil das Wort eigentlich etwas anderes ausdrückt. Ob aber die gesamte Übersetzung jetzt besser ist, weiß ich wirklich nicht. Jeder Übersetzer wird Entscheidungen treffen müssen, die angezweifelt werden können. Man müsste es eben im Original lesen ;-)


message 8: by Frank (new)

Frank (cromus) | 971 comments Nö. DAS mache ich nicht mehr. Habe mal Gogols "Nase" gelesen und übersetzt - für 'ne Prüfung. Aber 500 Seiten? Brrrr....


message 9: by Tee&Tacheles (new)

Tee&Tacheles | 294 comments Vielen lieben Dank für eure Beiträge, sie haben mich mal wieder sehr bereichert und mit den vielen Hintergrundinformationen tut sich da wirklich nochmal ein ganz neuer Horizont auf.

Ich fand in diesem Abschnitt besonders amüsant, wie Stepan und Warwara so sehr das Klischee des "alten Ehepaars" verkörpern, ohne es wirklich zu sein.

Insgesamt hat mich dieser Teil aber auch wieder in eine sehr wehmütige Stimmung versetzt, irgendwie schafft Dostojewskij es immer, einem die Kaputtheit der Menschen vor Augen zu führen, ohne dass es so furchtbar plakativ ist.


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