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Klassenbeste
Juni-Monatsbuch
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Klassenbeste - Abschnitt 3: Kapitel 4 + Kapitel 5
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Labyrinth
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Jun 14, 2025 12:48AM

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Über Arbeiter und Arbeiterinnen kenne ich mich nicht genug aus um viel zu kommentieren. Ich habe mich allerdings gewundert, dass die Autorin explizit über ostdeutsche Arbeiter schreibt, als ob westdeutsche Arbeiter ein komplett anderes Leben hätten, obwohl beide doch mittlerweile seit 35 Jahren im selben Land wohnen.
Dieser Satz ist richtig schockierend:
"Wer nicht arbeitet, der trägt nichts zur Gesellschaft bei, erbringt keine Wertschöpfung, liegt obendrein anderen auf der Tasche. Er ist ein Parasit."
Kein Zitat aus irgendeinem rechtsextremen Buch, sondern die Autorin behauptet das ganz einfach und gemein.

Besonders wertvoll fand ich ihre Analyse zu den östlichen Bundesländern, wie nach der Wende Arbeit zur Quelle von Selbstwert wurde und die eigene Erfahrung von Nichtanerkennung oft in Abgrenzung gegenüber schlechter gestellten umschlägt.
Im späteren Teil schreibt Hobrack vom Verhältnis von Identitäts- und Klassenpolitik. Dieser Abschnitt hat mich persönlich nicht in gleichem Maß angesprochen, weil weniger greifbar. Ich hab dennoch etwas daraus mitgenommen.

Ich habe mich gefragt ob die Armut der Autorin anderen Kindern wirklich so extrem aufgefallen ist, wie sie sich das ausgemalt hat und ob sie tatsächlich in der Klasse das einzige Kind in diesem Fall war. Wenn ja hatte sie viel Pech mit ihrer Klasse. Wenn die Klasse es schon merkte hätten die anderen Kinder, deren Eltern und die Schule doch helfen müssen, statt dem Kind das Leben noch schwerer zu machen.

Das Kapitel war laang und ziemlich komplex. Man kann hier eigentlich unendlich viele Zitate rausnehmen und genauer ansehen. Was ich am besten fand:
Die Autorin berichtet wie ihre Mutter in der allgemeinen Vollzugsanstalt "Gelbes Elend" zu arbeiten beginnt und welche Themen ihr dort begegnen (spannend).
"Während Nachwende-Diskurse stets von Narrativen über Dissidenz und Täterschaft geprägt waren, hatten die meisten Menschen in der DDR eben versucht, ihr Leben zu führen - ohne anzuecken, ohne mit dem System in Konflikt zu geraten."
Das kann ich aus meiner eigenen Familie bestätigen.
Oft bin ich über den Nivellierungsbegriff gestolpert und konnte nicht so richtig etwas damit anfangen (wie war das bei euch? Kanntet ihr den Begriff?). Ich habe es jetzt ungefähr so verstanden: Die Autorin argumentiert, dass sich die Mittelschicht und Klassen nicht wie oft vermutet angleichen (nivellieren). "Vielmehr gibt es auch eine Spaltung der Arbeiterklasse. Der Teil der Arbeiterklasse, der in großen Industrieunternehmen beschäftigt ist und durch starke Gewerkschaften abgesichert wird, führt tatsächlich ein ökonomisch und sozial stabiles Mittelschichtsleben." So kennt man es hier beispielsweise in der Industrie. Mein Freund arbeitet z.B. bei einem Automobilzulieferer im IT-Bereich. Er hat eine Ausbildung absolviert und ist größtenteils im Home Office tätig.
Anders sieht es in den Bereichen der "Serviceindustrie" aus (hier stelle ich mir bspw. den Einzelhandel vor, Trägerstrukturen, Teile des Gesundheitswesens, Gastgewerbe, Transport, Logistik?). Dieser Bereich wird als zunehmend prekär beschrieben und ist ohne gewerkschaftliche Mitbestimmung organisiert. Das kommt mir bekannt vor. Ich habe zwei Studienabschlüsse und arbeite im Gegensatz zu meinem Freund in Teilen in der genannten "Serviceindustrie" einschließlich Personalverantwortung und natürlich Überstunden. Nun ratet wer von uns beiden deutlich mehr verdient?
Die Anforderungen an "einfache" Arbeiterstellen werden immer höher. Und später schreibt die Autorin: "Das Beispiel [Bäckereifachverkäuferin mit Abitur] ist nur ein Beleg dafür, dass wir die Vorstellung, eine ganze Gesellschaft steige langsam die Stufen einer Treppe hinauf [...] ad acta legen sollten. [...] Wenn das gesamtgesellschaftliche Qualifikationsniveau steigt, wenn immer mehr Menschen in die Lage versetzt werden, höherqualifizierte Jobs anzutreten, fallen unattraktivere, schlecht bezahlte Jobs jenen Menschen zu, die keine Wahl haben, bessere oder angenehmere Jobs auszuführen." Und: "Bildung und Erspartes, kulturelles und ökonomisches Kapital schützen nun nicht mehr unter allen Umständen vor dem sozialen Abstieg und Deklassierung." Die Sandberg- Metapher nach der Wende ist hier ein super Bild: Alles gerät ins Rutschen, Schichten und Bereiche vermischen sich oder werden verschluckt. Oben und unten sind nicht klar erkennbar. Eine einfache Treppe des Aufstiegs gibt es nicht, sondern nur rutschigen Sand.
Gut gefiel mir die vorgeschlagene Definition der Arbeiterklasse, die die vielen kleinen Teilbereiche miteinander vereinen kann: "Working Class seien all jene, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten, anstatt das Kapital für sich arbeiten zu lassen." Und nein, Friedrich Merz gehört auch nach dieser sehr weit gefassten Definition nicht wie selbst behauptet zur Mittelschicht :D
Traurig fand ich wie immer die Beschreibung der typischen Mechanismen des Kapitalismus. Arbeitslose sind notwendig, "wenn die Wirtschaft wachsen, Unternehmen gegründet und neue Dienstleistungen angeboten werden sollen". Prekäre Arbeitsbedingungen müssen dafür von den arbeitslosen "Reserve-Arbeitern" und auch von der Mittelschicht (die ja angeblich moralisch handelt und sieht) akzeptiert werden. "Das geschieht durch die Abwertung der Arbeitslosen." (siehe BILD-Zeitung und Springer-Medien aber auch aktuelle politische Debatten!). "Die Unterschicht ist ein Reservoir für billige Arbeit, die den Mittelschichten zugutekommt, während sie mit Verachtung auf die in ihren Augen Faulen herabblickt."
Und dann noch ein spannender Absatz zu rechten Bewegungen. "In Ostdeutschland, und ganz besonders in Sachsen, ist es der Rechten gelungen, diese grundlegend ökonomisch-sozialpolitischen Probleme in einen Kulturkampf umzudeuten, was der Grund dafür ist, dass Pegida just in dem Bundesland entstand, in dem der Anteil an Migranten und Muslimen marginal ist. Dieser Kulturkampf erhielt eine neue Brisanz im Zuge der Querdenken-Bewegung."
Mein liebster Absatz war der, in dem die Autorin die ostdeutsche Mitte in Anlehnung an andere Autoren beschreibt. Ich finde den Begriff der "rohen Bürgerlichkeit" wirklich sehr gut und passend! Damit verbindet sie "die Generation der in der DDR geborenen" und die "bis ins junge Erwachsenenalter sozialisierten Ostdeutschen". Sie sagt die "Verachtung der Schwachen und vermeintlichen Sozialschmarotzer ist denen gemein, die eher gut situiert sind, ein durchaus gutes Auskommen haben, sogar Vermögenswerte bilden konnten. [...] Oft genug aber haben sie das Gefühl, dass sie für dasselbe Ergebnis weitaus härter arbeiten mussten als andere. Die anderen, das können Westdeutsche sein oder Geflüchtete." Ich finde damit kann man die sächsische Mentalität ganz gut greifen. "'Rohe Bürgerlichkeit setzt auf Konkurrenz und Eigenverantwortung in jeder Hinsicht.' Darin offenbart sich das neoliberale Denken. [...] Es sind weder nur die Erfahrungen einer Sozialisation in der DDR noch die Nachwendeerlebnisse (also Fragen der Identität), die zu einer Verhärtung und Verrohung in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft bis weit in die Mitte, in bürgerliche Kreise hinein geführt haben. Vielmehr spielen [...] der herrschende Neoliberalismus, sowie die etablierten Aufstiegs- und Leistungsnarrative eine entscheidende Rolle." Sehr spannend.

Das Kapitel beleuchtet die Schulerfahrungen der Autorin und den Umgang ihrer Familie und der Institutionen mit ihrer Schulverweigerung.
"Wenn ein Kind die Schule verweigert, dann verweigert es nicht das Lernen. Es verweigert sich der Gesellschaft." Das Zitat hat mich zum Nachdenken gebracht. Und auch: "die brutale Härte, mit der komplexe Probleme wie Schulverweigerung auf elterliche Unfähigkeit, Nachlässigkeit und Trägheit reduziert werden, macht sprachlos." Das finde ich sehr interessant aus der Sichtweise einer Schulverweigerin zu lesen! Wenn Schule nicht die ungerechte Klassengesellschaft reproduzieren soll, dann müssen insbesondere Lehrer ihre klassistischen [und rassistischen] Vorurteile reflektieren lernen." Ich finde sowieso, dass es eine Stärke des Buches ist, zu versuchen Perspektiven sichtbar zu machen, die bisher wenig oder gar kein Gehör gefunden haben. Das macht sie echt ganz gut, denn es "ist leicht, sich über die Funktionsweise der Klassengesellschaft zu täuschen, wenn man nie den unteren Klassen angehörte." Dazu kommt noch, dass Betroffene von Diskriminierung diese Ungerechtigkeiten immer auch mit verinnerlichen.
Ich finde generell auch alle Abschnitte über den DDR-Alltag und das politische und gesellschaftliche Drumherum spannend zu lesen, kann dazu aber fast nichts sagen, weil es "nicht meine Zeit" war. Ich könnte mir aber vorstellen, dass meine Eltern hierzu sehr viel anmerken können und sicher werde ich sie auch nochmal danach fragen. Zum Beispiel hierzu: "Die DDR hatte sich im Gegensatz zur BRD gegen die Bildungsexpansion entschieden und den Zugang zum Abitur drastisch reduziert; hierdurch ist die Korrelation von Intelligenz und erreichtem Bildungsabschluss in Ostdeutschland heute noch weniger zwingend."
Dann geht es noch um die Kaufsucht der Mutter. Auch sehr interessant. Ich kenne mehrere Personen in meiner Familie denen über irgendwelche dubiosen Vertreter direkt während der Wende seltsame Abonnements und teure Dinge aufgeschwatzt wurden. Das war total gängig, denn im Osten konnte man schnelles Geld machen. Und es wurden (und werden teils bis heute) massiv Personen ausgenutzt und hinters Licht geführt, die nicht mit dem kapitalistischen System sozialisiert wurden. Da prallen wirklich Welten aufeinander. Ich würde sagen bis heute haben meine Eltern (bei meinen Großeltern war es ohnehin so) einen völlig anderen Zugang oder Umgang mit Geld und das prägt sogar noch die späteren Generationen wie mich und meinen Bruder. Wir mussten und müssen uns das kapitalistische Wissen und Denken selbst aneignen. Dinge die in den alten Bundesländern als selbstverständlich gelten, wurden uns nicht "in die Wiege gelegt". Einen Grundkurs Kapitalismus im Alltag für in Ostdeutschland sozialisierte Erwachsene gibt es leider auch nicht. Antschi schreibt im nächsten Reiter was dazu darum ergänze ich hier noch quasi als Antwort darauf: Die Autorin lässt ja eigentlich auch offen, ob die Geldprobleme der Mutter ein "ostdeutsches" Problem oder ein Problem ihrer Klasse, ein persönliches oder ein Zusammenspiel aus allem sind. Trotzdem ist ja interessant alles mitzudenken.

Ja gute Frage. Darauf habe ich auch keine Antwort.
Labyrinth wrote: Wenn die Klasse es schon merkte hätten die anderen Kinder, deren Eltern und die Schule doch helfen müssen, statt dem Kind das Leben noch schwerer zu machen."
Auf jeden Fall! Ich könnte mir auch vorstellen, dass irgendwann auch der Punkt erreicht war, wo niemand mehr einen Zugang zu ihr hatte, weil sie ja gar nicht mehr aufgetaucht ist.