Der Idiot discussion
Resümee
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Es war ein großartiges Buch, das, obwohl es zu einer ganz anderen Zeit in einer anderen Gesellschaft spielt, doch leicht zu lesen ist, Spannung enthält und eine große Portion Humor bzw. Augenzwinkern, was mir wirklich gut gefiel.Beeindruckend fand ich das Gesellschaftporträt, das durch die so unterschiedlich und vielschichtig gezeichneten Charaktere eine große Lebendigkeit entfaltete. Manchmal glaubte man, eine Person zu kennen und zu durchschauen, aber kurz darauf verhielt sich der vermutete „Bösewicht“ überaus sympathisch oder die gerade noch ganz kindliche Figur beweist einen großen Ernst. So wurden Kapitel für Kapitel die Personen immer verständlicher, jenseits eines Schwarz-Weiß-Bildes. Zwei Personen muss ich allerdings ausnehmen aus dieser euphorischen Schilderung: Rogoschins und Jewgeni Pawlowitschs Verhalten erklärte sich mir nicht völlig.
Zunächst hatte ich den Eindruck, dass Fürst Myschkin den anderen Personen als strahlender Held präsentiert werden sollte, doch auch wenn er unglaublich edelmütig, klug und mitfühlend dargestellt wurde, sah ich seine Schwächen, die immer deutlicher wurden. Vor allem vergaß er seine eigenen Bedürfnisse oder stellte sie hinter sein Verlangen, Schwachen zu helfen. So ist es für mich eine wichtige Aussage, dass bei allem Mitgefühl für andere auch die eigenen Belange wichtig sind und Aufopferung nicht helfen kann. Aus der christlichen Perspektive steht Myschkin für die gelebte Nächstenliebe, die aber nicht funktioniert ohne Eigenliebe.
Daneben gibt es viele andere Themen in diesem Buch: z. B. die Ablehnung der Todesstrafe, wie geht man mit den letzten Tagen oder Wochen seines Lebens um, Bedeutung der gesellschaftlichen Stellung, Alkoholismus, Stellung der Frau in der Gesellschaft, was macht Russland aus oder wie ist wahres Christentum... Einige Themen, auch die, die eine Erzählstimme anspricht, sind überraschend aktuell oder nehmen spätere Entwicklungen vorweg.
Ich habe jetzt den Wikipedia-Eintrag zum Buch gelesen und kann euch vor allem den Teil Analyse empfehlen. Dort wird man noch mal auf die Bedeutung der verschiedenen Personenkonstellationen und Konflikte aufmerksam gemacht.
Für mich sind Leserunden bei Klassikern sehr hilfreich, durch die Zeitvorgaben bleibe ich einerseits am Buch dran, andererseits zwingen mich die Abschnitte, immer wieder das Gelesene zu reflektieren. Über die Mitkommentatoren habe ich mich sehr gefreut, so wurde ich auf manches Detail aufmerksam, das ich sonst überlesen hätte. Melanie, dir vielen Dank für die Organisation. Wenn du das liest, wird die Leseflaute hoffentlich lange hinter dir liegen und du dich mit Genuss in etwas Neues stürzen. Ich wäre gerne wieder dabei.
So, jetzt will ich mir auch endlich mal die Zeit für mein persönliches Resümee nehmen… Ich habe das Buch wirklich sehr genossen. Ganz besonders begeistert hat mich irgendwie die Stimmung, die das auslöst… an vielen Stellen macht es einem irgendwie so eine Art „angespannte Wehmut“, dann ist es einfach mal sprachlich genial und die Erzählerstimme hat einen so wundervollen, klugen Witz, dass man dabei schmunzeln muss und sich trotzdem noch intellektuell gekitzelt fühlt…
Beeindruckend fand ich rückblickend auch, dass es wirklich keine leere Worthülse ist, dass Dostojewskij sehr psychologisch schreibt… gerade die Dichte an „Nervenleiden“, die er beschreibt, ist seiner Zeit weit voraus (gerade vor dem Hintergrund, dass die meisten anderen „großen Psychologen der Literatur“ erst nach der Jahrhundertwende unter dem Einfluss Freuds solche Gedanken gehegt haben) – also ungefähr 50 Jahre später. Myschkin hat Epilepsie, General Iwolgin wahrscheinlich ein Korsakow-Syndrom, Nastassja Fillipowna eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (letzteres hab ich nicht selbst herausgefunden, sondern von einem sehr empfehlendwerten youtube-Video über Dostojewskij > https://www.youtube.com/watch?v=DC0eh... – wobei das die meisten wahrscheinlich schon kennen werden… ;)) – und ich bin mir sicher, wenn man das Buch nochmal nur unter diesem Aspekt lesen würde, käme man noch auf die ein oder andere spannende Diagnose…
Ein weiterer großartiger Aspekt an dem Buch sind meiner Meinung nach die vielen „großen Themen“ die mal einfach so im Vorbeigehen angesprochen werden und bei denen sich eigentlich jedes einzelne für einen langen Abend voller interessanter Gespräche eignen würde. Von mir aus hätte er sich da durchaus auch noch länger darüber auslassen können. ;)
Sehr gelungen fand ich auch die Figurenzeichnung. Einerseits hatte ich immer unglaublich schnell ein Bild der Figuren vor meinem inneren Auge, andererseits waren sie aber – wie echte Menschen – auch nie irgendwie nur Klischee und völlig berechenbar. Und obwohl die Schwächen der Figuren oft recht schonungslos (und herrlich humorvoll) dargestellt wurden, hatte das trotzdem nie irgendetwas Gehässiges oder Liebloses. Hat mir gut gefallen.
Die Leserunde war auch eine neue Erfahrung für mich von der ich sehr profitiert habe – auch wenn es erschreckend ist, wie viel man selber einfach übersieht oder einfach nicht weiß. Besonders gut gefallen hat mir auch der weite Blick, den man dadurch gewinnen konnte. Biografisches, Geografisches (ich will jetzt noch mehr nach St. Petersburg :D), Geschichtliches, Ausflüge in Malerei, Politik und Philosophie, super viele Bezüge zu anderen Büchern… das hat mich wirklich sehr bereichert. Und gleichzeitig konnte man aber auch einfach die Geschichte als Geschichte sehen, sich über die Figuren aufregen und verstanden werden (und auch manches nicht verstehen – also, über den Jewgenij Pawlowitsch komm ich ja immer noch nicht weg… ;)). Auf jeden Fall vielen Dank euch allen!
Auch über mein eigenes Leseleben habe ich einige Erkenntnisse gewonnen… ich bin offensichtlich kein Parallelleser und außerdem scheine ich doch eher stoßweise zu lesen… mal kaum was und dann kann ich es irgendwie nicht stoppen… :D
Einer meiner Buchhändler hat mir übrigens (nachdem er ganz begeistert davon war, dass ich offensichtlich Dostojewskij lese ;)) erzählt, dass nächstes Jahr Dostojewskijs 200. Geburtstag ist (übrigens am 11. November). Nachdem ich jetzt schon die Brüder Karamasow und den Idioten mit größtem Vergnügen hinter mich gebracht habe, habe ich mir vorgenommen, bis zu diesem großen Ereignis alle „5 Elefanten“ zumindest einmal bezwungen zu haben („Schuld und Sühne“ hatte ich vor ca. 10 Jahren schon mal gelesen, das würde ich aber auch gern nochmal auffrischen). Also, ich werde jetzt sicher nicht gleich den nächsten Wälzer anschließen, aber so einen im Herbst und einen im Frühjahr und den letzten dann wieder im Herbst kann ich mir schon gut vorstellen… sollte jemand von euch Lust haben, das wieder gemeinsam zu tun, wäre ich da auch sehr offen für, weil ich wirklich sehr von euch profitiert habe, deshalb dachte ich, ich lasse diese Information mal beiläufig hier fallen… ;)
An dieser Stelle auch von mir noch mal ein ganz herzliches Dankeschön an Melanie für die Organisation. Die Idee des „Gemeinsam-Klassiker-Lesen“s ist großartig, man versteht so viel mehr als wenn man es einfach nur so für sich alleine runterliest. Ich wäre sicher auch bei einer weiteren Runde dabei… :)
@Tee&Tacheles: Ich hätte auch Interesse am gemeinsamen Lesen der großen Dostojewski-Bücher (Die Brüder Karamasow las ich letztes Jahr). Ob ich es wirklich zwischen meinen anderen Lesevorhaben und dem restlichen Leben unterbringe, ist noch nicht ganz klar, aber der Wunsch besteht auf alle Fälle und ich wäre dir für die Organisation sehr dankbar.Ich bin eigentlich auch kein Parallelleser, habe es mir nur während der Leserunden angewöhnt, weil ich mich dem Tempo anpassen will, aber man könnte auch Leserunden machen ohne Angabe von Daten. Der Austausch wäre vermutlich etwas anders, nicht so direkt, aber ebenso möglich.
@Sindy: Bei Büchern über Dostojewski oder diese Zeit in Russland kann ich nicht weiterhelfen, aber es wäre sicher gut, sich weiter zu informieren, wenn wir noch mehr Dostojewski lesen wollen. Ich bin also auch an Tipps interessiert.
So, ich melde mich mal wieder, in der Hoffnung, ihr werdet darüber benachrichtigt... ;) Mittlerweile haben mich ein paar Regentage wieder in Dostojewskij-Stimmung versetzt und ich könnte mir grundsätzlich (wahrscheinlich ab Anfang Oktober) vorstellen, mir einen neuen "Elefanten" vorzuknüpfen. Bei mir stehen aktuell noch "Böse Geister" (hier spüre ich eine leichte Präferenz meinerseits ;)), "Ein grüner Junge" und "Verbrechen und Strafe" (Das ist für mich ein potentieller Re-Read nach mittlerweile schon über 10 Jahren... :-o). Wenn sich jemand dafür erwärmen könnte, sich mit mir über eines dieser Werke auszutauschen wäre ich dem gemeinsamen Lesen nicht abgeneigt. ;)
Das ist aber eine schöne Überraschung. Ich möchte gerne mitlesen, obwohl zeitgleich zwei andere Leserunden laufen. Ich hoffe, dass ich das alles schaffe, aber das gemeinsame Lesen von "Der Idiot" hat mir sehr gefallen.Ich kenne alle drei Bücher noch nicht und bin deshalb für alles offen. Wenn du zu Böse Geister tendiert, kann es das gerne sein.
Viele Grüße
Babette
so schön ich die Idee finde, bin ich dennoch raus. die alten Russen sind einfach nicht meins fürchte ich. aber ganz ganz viel Freude euch weiterhin!
Bei alten Russen wär ich auch dabei. Wobei ich Verbrechen und Strafe letztes Jahr erst gelesen hätte... Bei den zwei Anderen wär ich sofort dabei! :)
@Tee&Tacheles: Willst du selbst eine Gruppe anlegen?Ich kann dir ansonsten anbieten, das Buch in meine schon bestehende Gruppe "Osteuropa-Literatur" aufzunehmen.
So, jetzt auch noch eine Rückmeldung von mir... die letzte Woche war ziemlich voll und ich war gefühlt nur zum Schlafen zu Hause... ;) Aber ich freu mich gerade sehr über eure Rückmeldungen, so schnelles und so positives Feedback hatte ich gar nicht erwartet. :) Ich fände es sehr schön, wenn das klappen würde...
Wenn es keine Gegenstimmen gibt (und danach sah es ja jetzt bisher nicht aus), würde ich dann "Böse Geister"/"Die Dämonen" anpeilen...
Grundsätzlich erscheint mir die Aufnahme in deine "Osteuropa-Literatur"- Gruppe sehr reizvoll und schon fast wie eine Art Ritterschlag... :P Wenn es euch lieber ist, kann ich aber auch gerne eine neue Gruppe erstellen... meine Goodreads-Erfahrungen beschränken sich zwar aktuell auf diese Gruppe hier, aber ich bin eigentlich ganz zuversichtlich mit ein wenig Einarbeitung auch den Anforderungen dieser Aufgabe gewachsen zu sein...
Ritterschlag? Naja, es ist keine außergewöhnliche Runde. Ich habe sie erst kürzlich für Nino Haratischwilis "Das achte Leben" gegründet und weil mich Osteuropa reizt und ich nicht für jedes Buch eine neue Gruppe erstellen will, habe ich den übergreifenden Titel gewählt. Bisher sind außer mir nur zwei Lesende aktiv. Am 20.9. beginnt eine neue Runde zu "Metropol" von Eugen Ruge. Weitere konkrete Vorschläge gibt es bisher noch nicht. Es ist kein Problem "Böse Geister" hinzuzufügen. Ich bin aber erst am Wochenende wieder zu Hause, werde mir dann das Buch besorgen und irgendwann Ende der nächsten oder in der übernächsten Woche die Einteilung vornehmen, wenn bis dahin nicht Einwände dagegen gekommen sind. Es ist allerdings kein große Kunst, eine Gruppe anzulegen, du würdest es auch schaffen.
Oh Babette, diese Gruppe klingt wirklich interessant! Leider ist mein Zeitplan im Moment sehr voll aber würde es dir was ausmachen Bescheid zu geben, wenn ihr das nächste Buch anfangt? Ich würde mich sehr gerne viel mehr der osteuropäischen Literatur widmen :) Sollte das nicht gewollt sein, ist das natürlich gar kein Problem. Ich bin darüber nicht böse.Bei einem weiteren dicken Russen bin ich aber erstmal raus. Der Idiot wartet hier immer noch geduldig ausgelesen zu werden. Ich wünsche euch aber ganz viel Spaß!
Hallo... also, ich bin bis Ende des Monats beruflich gerade echt am Limit und privat ziemlich eingespannt... aber ab Oktober wird es super entspannt... entschuldigt deshalb bitte mein sporadisches Antworten. Die Gruppe klingt auf jeden Fall ganz nach meinem Geschmack... Seit 2 bis 3 Jahren arbeite ich quasi so ein bisschen an der "Osterweiterung" meiner Lektüre und bisher wurde ich noch nicht enttäuscht... ;)
Ich freu mich sehr.



Hier können wir abschließend unsere Gedanken äußern und ein wehmütiges Resümee ziehen^^
Ganz liebe Grüße
Melanie