Kai Schächtele's Blog

August 9, 2013

Sommerpause.

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Published on August 09, 2013 06:08

August 7, 2013

Warum man als Fahrradfreak gilt, wenn man nicht gern im Stau steht



Es kommt in letzter Zeit immer häufiger vor, dass ich kurz zusammen zucke. Das passiert immer dann, wenn man mich als „Fahrradfreak“ bezeichnet. Seit es dieses Blog gibt und das Buch „Ich lenke, also bin ich“, mit dem alles angefangen hat, treffe ich häufig Leute, die zu mir sagen: „Und, mit dem Fahrrad hier?“ und dabei ein „Höhö“ in der Stimme haben, als sei das kein Blog, in dem ich mich mit der Überwindung überkommener Mobilitätsformen beschäftige, sondern mit neonpinkfarbenen String-Tangas. Imagewandel des Fahrrads hin, Statussymbolniedergang des Autos her – wer in Deutschland der Überzeugung ist, dass das Fahrrad ein wirkmächtiges Symbol für ein neues Mobilitätsverständnis ist, steht sofort unter Reformhausarrest. Wie kann das sein? Warum gilt man als Freak, wenn man ein Pelago fährt (das ist die Marke des Fahrrads oben), und immer noch als erwachsen und modern, wenn man Auto fährt – selbst wenn es ein Polo ist?


 


Studie des Fraunhofer Instituts zeigt: Radfahren nutzt der Volkswirtschaft


Die Antwort ist einfach: weil die Automobilindustrie alles daran setzt, uns in einem Glauben zu lassen, der seinen Ursprung in den Fortschrittsjahrzehnten der fünfziger und sechziger Jahre hat. Seit damals gilt das Auto als Ausdruck von Wohlstand und Fortschritt, und mit beinahe verzweifeltem Bemühen versuchen die Autobauer, diesen Nimbus aufrecht zu erhalten – obwohl sie offensichtlich selbst erkannt haben, dass man im Auto immer weniger tatsächlich voran kommt. Man muss sich nur die Kampagne für den neuen „Skoda Superb“ ansehen. Da heißt es unter anderem:


„Fast 3 Jahre Ihres Lebens verbringen Sie im Auto. 192 Tage im Stau. Besser, wir machen es uns bequem.“ (Hervorhebungen im Original).


In Wirklichkeit ist das keine Kampagne, sondern eine Kapitulationserklärung. Sie besagt: Leute, wir wissen, dass unsere Straßen verstopft sind und es einem den letzten Nerv raubt, sich im Schneckentempo durch die Stadt zu schieben. Aber wenigstens sind unsere Sitze hübsch gepolstert.



Und wann immer ich mich mit Freunden, Kollegen und Experten über das Fahrrad als sinnvolle Alternative zum Stillstand in unseren Städten unterhalte, kommt früher oder später das Argument: Jaha, aber die Automobilindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Das mag ich nicht bestreiten. Genauso wahr ist aber auch: Auch das Auto stehen zu lassen, wird volkswirtschaftlich zunehmend relevanter. Ende April wurde eine Studie veröffentlicht, die das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung zusammen mit dem Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg und der INFRAS AG Zürich durchgeführt hat. Darin werden verkehrspolitische Maßnahmen und ihr gesamtwirtschaftlicher Nutzen analysiert. Eines der zentralen Ergebnisse: Der Ausbau von Radwegen oder die Verbesserung des ÖPNV kostet zwar Geld, die Rede ist von 1 Milliarde pro Jahr.


„Durch den errechneten Nutzen wirken sich aber fast alle Maßnahmen in der Summe positiv auf das Bruttoinlandsprodukt aus: Bis 2030 steigt es in vier von fünf Maßnahmen gegenüber dem Referenzszenario ohne die Maßnahmen leicht an.“


Umgekehrt betrügen die wirtschaftlichen Verluste durch Luftschadstoffemissionen des Verkehrs in Deutschland etwa 1,5 Milliarden Euro pro Jahr, Klimagasemissionen verursachten wirtschaftliche Schäden von rund 12 Milliarden Euro. Schätzungen der jährlich vom Straßenverkehr verursachten Lärmkosten lägen bei 813 Millionen Euro im Personenverkehr und 456 Millionen Euro im Güterverkehr.


Davon ist in den schicken Autoanzeigen natürlich nie die Rede.


 


Autofahren ist nicht Ausdruck von Unabhängigkeit, sondern von Unüberlegtheit



Gleichwohl ist mir klar, dass es Situationen gibt, in denen Autofahren nützlich und manchmal auch unvermeidlich ist. Wenn man früh morgens zur Arbeit muss und mit anderen Verkehrsmitteln doppelt so lang unterwegs wäre, wenn man Schweres zu transportieren hat oder zu einem Wochenendausflug mit Kind und Kegel aufbricht, ist das Auto eine komfortable Alternative.  Und es gibt Momente, da macht Autofahren einfach Spaß – etwa, wenn man nachts über die Autobahn schnurrt, Musik hört und allein ist mit seinen Gedanken. Geht mir genauso, und ich habe aus all den angeführten Gründen zwei Carsharing-Karten im Geldbeutel. Diese und diese. Carsharing bedeutet, dass man sich vor jeder Fahrt überlegen muss, welche Mobilitätsform die klügste ist, und das Auto ist nur eine davon. Nach meiner Beobachtung steigen viele allerdings nicht ins Auto, weil es die klügste, sondern die nahe liegende Art der Fortbewegung ist. Liebe Leute, Ihr müsst einsehen: Autofahren ist nicht Ausdruck von Erfolg, Freiheit oder Unabhängigkeit, sondern von Unüberlegtheit. Das Auto hat Euch bequem gemacht. Und Bequemlichkeit macht auf Dauer nicht glücklich, sondern bräsig.


 


Unterstützung beim Wechsel ins Lager der Mobilitätsavantgarde


Aber ich will nicht ungerecht sein. Ich sehe ein, dass es nicht einfach ist, sich von Verhaltensmustern zu lösen, die sich fest in den Alltag gefressen haben. Es gibt ein schönes Zitat, das sich jeder auf sein Armaturenbrett heften kann, um den Wechsel ins Lager der Mobilitätsavantgarde trotzdem zu schaffen:



„Gönnen wir uns einen Moment der Stille für alle, die auf den Weg ins Fitness-Studio im Stau stehen, um sich dort auf ein Fitness-Bikes zu setzen.“



Wer dann bei uns angekommen ist, darf sich gern vor mich stellen, kurz höhöen und “Fahrradfreak” zu mir sagen. Aber erst dann.


 


Update am 7. August: Passend zum Thema ein Artikel aus der Badischen Zeitung: In Freiburg führt eine Großbaustelle dazu, dass Leute aufs Rad umsteigen. Dezidierter Grund: keine Lust auf Stau. Bitte hier entlang: Radläden profitieren von der Stau-Panik 

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Published on August 07, 2013 04:00

July 31, 2013

Mein Fahrrad und ich. Folge 2: David Denk aus Berlin

Ein Erbstück seines Onkels: David Denk, 32, und sein Gudereit



 


In der Reihe “Mein Fahrrad und ich” erzählt diesmal David Denk, Leiter des Ressorts tazzwei/Medien bei der taz, von seinem Rad und davon, warum es ihn sogar in zweifacher Hinsicht glücklich macht. 21 Gänge, 21 Fragen – und los.


1. Was für ein Rad fährst Du?


Es ist ein gutes deutsches Rad der Marke Gudereit. Stammt aus Bielefeld, hat einen richtigen 90er-Jahre-Look und würde ich mir selbst niemals kaufen, weil es zwar nicht so aussieht, aber ziemlich teuer war.


2. Wie kam es dann in Deinen Besitz?


Das ist der traurige Teil der Geschichte: durch den Tod meines Onkels, der mit nicht mal 50 gestorben ist. Danach gab es dieses Fahrrad, das gefühlte 15 Jahre wenig bewegt in der Garage gestanden hatte. Meine Tante fragte mich, ob ich es haben wolle, und seitdem fahre ich es in Erinnerung an meinen Onkel. Schon zweimal bin ich, als ich es in Reparatur hatte, von Mechanikern darauf angesprochen worden. Die sagten, es sei eine Rarität, die mit dieser Qualität der Komponenten heute gar nicht mehr gebaut wird. Es ist kein Rad, das auf den ersten Blick viel her macht. Aber wie das manchmal so ist im Leben: In Wahrheit ist es ein ganz tolles Ding mit vielen versteckten Vorzügen.


3. Würdest Du Dich für das Rad schämen, wenn es nicht von Deinem Onkel stammte?


Nein, auf keinen Fall. Es ist ein uncooles, aber sehr robustes und belastbares Rad, das nicht unter dem Mode-Statement-Verdacht steht wie Rennräder oder Fixies. Eine ehrliche Haut.


4. Es hat eine Manschette direkt unter dem Sattel – was hat es mit der auf sich?


Die stammt noch von meinem Onkel. Es ist eine Vorrichtung für einen Fahrradständer am Auto. Man sollte sie besser nicht abmontieren, weil das Rohr an dieser Stelle leicht gequetscht ist. Auf die Statik hat das aber keinen Einfluss. Jeder Fahrradmechaniker, der sich das ansieht, fragt mich entgeistert: Wie haben Sie das denn gemacht? Bei Menschen würde man sagen: Es ist ein besonderes Kennzeichen.


5. Fährst Du alle 21 Gänge aus?


Selten. Am liebsten fahre ich in den höheren. Ich trete unglaublich gern mit einer großen Umdrehung in die Pedale. Ich kann immer nicht verstehen, wenn Leute so kleingängig fahren. Ich finde, das sieht scheiße aus. Meine Überzeugung lautet: Je höher der Gang, desto gleitender die Fahrbewegung. Und das mag ich.


6. Erkennt man den Nerd daran, dass er in kleinen Gängen durch die Stadt wuselt, weil man weiß: Es ist gesünder, aber sieht scheiße aus?


Das habe ich mich noch nicht gefragt. Manchmal habe ich eher das gegenteilige Gefühl: Man erkennt daran Leute, die sich nicht so richtig Gedanken darüber machen, welche Fahrweise die effektivste ist. Ich bilde mir ein: meine.


7. Ist es Dir wichtig, beim Radfahren eine gute Figur abzugeben?  


Nein. Dafür fahre ich wie gesagt nicht das richtige Rad. Mit der einen Ausnahme, dass ich wie so viele keinen Helm trage, obwohl ich mir immer wieder sage: Vielleicht sollte man das doch besser mal tun. Es sieht aber nach Schulkind aus. Da könnte ich mir gleich noch einen Tornister umschnallen. Der würde das Bild komplettieren.


8. Und mit welchem Argument redest Du Dir die Helmverweigerung schön?


Das Problem ist: Ich weiß, dass es gar kein wirkliches Argument gibt. Das Ohne-Helm-Fahren gehört zu den Dingen im Leben, die man wider besseres Wissen eine ganze Zeit lang macht, bis man sie irgendwann abstellt – hoffentlich.


9. Flickst Du selbst?


Nein, ich gebe zu: Dafür bin ich a) zu faul und b) zu untalentiert. Ich gebe mein Rad immer in die Hände von wechselnden Schraubern. Und jedes Jahr im Frühjahr kommt es ganz omimäßig zum Checkup, damit es mir nicht auseinander fällt. Ich mache gar nichts selbst.


10. Hörst Du Musik beim Radfahren?


Unterschiedlich. Manchmal. Aber immer die gleichen Platten, die ich auf meinen iPod gezogen habe. Beim Schreiben wie beim Fahren irritiert es mich immer, etwas zu hören, was ich nicht so oft in den Ohren habe. Da entscheide ich mich lieber für die Songs, bei denen ich mitsingen kann.


11. Welche Musik charakterisiert Deinen Fahrstil am treffendsten: The Ramones, Paolo Conte oder Paul Kalkbrenner?


Am ehesten der von Conte. Von dem ist doch dieses “Via Con Me”, in dem er “It´s wonderful, it´s wonderful” singt. Das hat so etwas Schwebendes, Gleitendes. Das passt zu mir: Ich bin ein Cruiser, kein Querfeldein-Fahrer. Das Rad ist für mich geliebtes Mittel zum Zweck.


12. Hast Du es jemals als Verletzung Deines männlichen Stolzes empfunden, Rad- und nicht Autofahrer zu sein?


Nie. Ich kannte mal Leute, auch Journalisten, die fragen: Du fährst Fahrrad? Ich sagte: Warum denn nicht? Und sie antworteten: Wir fahren Taxi oder U-Bahn. Die wären im Traum nicht auf die Idee gekommen, aufs Rad zu steigen. Aber im Sommer in der Stadt – was gibt´s denn da Besseres, als morgens auf dem Weg zur Arbeit wach zu werden und auf dem Weg abends nach Hause in den Feierabend überzuleiten? Auf dem Rad zu sitzen, ist ja wirklich ein Transit-Prozess.


13. Dein schönster Radunfall?


Toi, toi, toi hatte ich noch nicht so viele. Der letzte Unfall war ein Klassiker. Ich fuhr über Kopfsteinpflaster und aus dem Blauen heraus riss ein Idiot vor mir die Fahrertür seines Autos auf. Ich bin volle Kanne über den Lenker, aber außer ein paar Abschrammungen und einem geprellten Finger ist nichts passiert. Ich hoffe, das bleibt so. Das ist das Maß an Unfällen, das ich gerade noch toleriere.


14. Gehen Frauen auf Männerrädern und Männer auf Damenrädern?


Ja, klar. Wenn das Rad gerade da ist und die beiden gut miteinander klar kommen, dann ist das doch wirklich nebensächlich, oder?


15. Du arbeitest bei der taz. Wie viele Deiner Kollegen kommen mit dem Rad zur Arbeit?


Schwer zu schätzen. Sagen wir so: Zehn Prozent kommen heimlich mit dem Auto und parken irgendwo um den Pudding. 60 Prozent kommen mit dem Rad und 30 mit der U-Bahn.


16. Und was ist Deine Vermutung, wie es beim Springer-Verlag aussieht, der nur 20 Fahrrad-Sekunden von der taz entfernt liegt?


Wahrscheinlich 40 Prozent mit dem Auto, 40 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und die restlichen 20 mit dem Rad. 20 ist wahrscheinlich schon hoch gegriffen. Das wäre mal eine interessante Erhebung.


17. Kann man lässig Rad fahren, wenn man sich an alle Normen der Straßenverkehrsordnung hält?


Auch wenn ich vorher gesagt habe, dass ich mich nicht als Rowdyradler begreife: Es fällt mir schon schwer, an jeder roten Ampel stehen zu bleiben. Als Autofahrer ist es für mich ganz klar zu halten. Als Radfahrer nicht ganz so. Und so unreif das klingt: Es hat etwas Lässiges, dass man sich als Radfahrer gelegentlich einfach durchschlängeln kann.


18. Was bedeuten rote Ampeln für Dich – freundliche Angebote, unterstützende Maßnahmen?


Es ist schon mehr: Warnungen, dass es gefährlich werden kann, wenn ich einfach weiterfahre. Also hält man an und ob man dann weiterfährt, entscheidet man aufgrund des Umfelds und der Größe der Kreuzung. Aber erst heute habe ich gelesen, was das kostet: 45 Euro und 1 Punkt in Flensburg. Das riskiert man dann eben. Auch wenn man, wie beim Helm, eigentlich sagen müsste: Nein, über Rot fahren geht nicht.


19. Was ist die wichtigste Erkenntnis, zu der Dir das Rad verholfen hat?


Ouh, Fahrradphilosophie… Es ist eine Mischung aus Gründen, warum ich Rad fahre. Zum einen sind es pragmatische Gründe: Es ist billiger und oft schneller als die öffentlichen Verkehrsmittel – auch wenn man an roten Ampeln stoppt übrigens. Und es bringt einen gewissen Fitnessfaktor mit sich. Aber zum anderen finde ich, dass man mit keinem anderen Verkehrsmittel das Gefühl hat, so sehr in der Stadt zu sein. Man ist in geringerem Tempo unterwegs als im Auto und hat deshalb das Gefühl, die Stadt liegt einem zu Füßen. Man hat einen ganz tollen, schwebenden Blick übers Geschehen. Das mag ich. Das ist aber weniger eine Erkenntnis als ein Gefühl.


20. Und was ist Dein Rat an alle, die noch einen letzten Tritt in den Hintern brauchen, um Deinem Beispiel zu folgen?


Ich will kein Fahrradmissionar sein, sondern kann einfach nur sagen: Probiert´s aus. Und wenn Ihr einigermaßen Eure Sinne beisammen habt, werdet Ihr danach nicht wieder in diese dunkle Röhre hinabsteigen wollen zu all den Frustgesichtern, die man in der Berliner U-Bahn so zu sehen bekommt – erst recht nicht im Sommer.


21. Hilft Radfahren also auch dabei, nicht unglücklich zu werden?


Ja. Es ist in zweifachem Sinne eine Anti-Depressions-Maßnahme: Man muss sich diese frustrierten Gesichter nicht geben oder nur im äußersten Notfall, wenn es zum Beispiel sintflutartig regnet. Und es macht auch sonst was mit einem. Man kommt einfach glücklicher an, weil es eine schöne Art ist, bei sich selbst zu sein. Auf dem Fahrrad hat man ja immer ein Date mit sich selbst und seinen Gedanken.


- ENDE -

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Published on July 31, 2013 02:45

July 29, 2013

Soundtrack fürs Fahrrad (1): Lindstrøm

Radfahren macht dreimal so viel Spaß, wenn man dabei die richtige Musik im Ohr hat. Meine Empfehlung für diese Woche: Lindstrøm, ein fantastischer DJ aus Oslo, der unter anderem Remixe produziert hat für Franz Ferdinand und das LCD Soundsystem und so Kunststücke fertig bringt wie Whitney Houstons “I wanna dance with somebody” so in ein Set hineinperlen zu lassen, dass es einem die Arme nach oben reißt, als hätte sich die Schwerkraft umgekehrt. Dieser Mix heißt “El Pais”, wurde am Wochenende auf den Straßen Berlins auf seine Tauglichkeit getestet und für gut befunden. Eignet sich hervorragend für: Fahrten in lauen Sommernächten zwischen zwei und fünf sowie elegantes Sattelwippen im Feierabendverkehr.

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Published on July 29, 2013 00:40

July 26, 2013

Im Dschungel: Vom Plüschschwein und der Reichs-Straßenverkehrsordnung

Straßenverkehrsordnung muss sein. Aber kaum jemand weiß, wie die sich entwickelt hat. Eine kleine Nachhilfestunde entlang eines Erlebnisses auf den Straßen Berlins.


Neulich haben zwei Exemplare der Gattung Gemeiner Trampel meinen Weg gekreuzt. Ich war gerade auf dem Weg ins Büro, als sie mit ihrem Mercedes in einer Rechtskurve so nah an mir vorüberzogen, dass der Abstand zur Gehsteigkante immer enger wurde, bis ich schließlich scharf abbremsen musste. Als ich das Männchen an der nächsten Ampel durchs offene Beifahrerfenster darauf hinwies, dass es mich beinahe vom Rad geholt hätte, sah es mich an und sagte – nichts.


Stattdessen rief das Weibchen: „Leute wie Sie haben auf der Straße ja auch nichts verloren.“


„Leute wie Sie“ – was mag sie damit gemeint haben? Menschen, die es nicht für den Höhepunkt der Evolution halten, sich in etwas fortzubewegen, auf dessen Hutablage ein zwanzig Zentimeter großes Plüschschwein steht? Vielleicht Menschen, für die Autofahrerhosen nicht den Inbegriff von Komfort und Eleganz bedeuten? Oder Menschen, die die Straße für einen öffentlichen Raum halten, der allen gehört. Und nicht nur den Autofahrern, die in ihrem Leben zum letzten Mal auf einem Rad gesessen haben, als Roy Black noch Coverboy der „Bravo“ war?


Es war einer dieser Momente, die zeigen, dass auf unseren Straßen formal die Straßenverkehrsordnung das Miteinander regeln mag. Tatsächlich aber geht es zu wie im Dschungel, in dem viele Autofahrer mit der Überzeugung unterwegs sind, dass sie nur laut genug auf ihrer Brust trommeln müssen, dann werden die Radfahrer schon aus ihrem Territorium verschwinden. Das liegt wahrscheinlich auch an Männern wie Matthias Wissmann. Für den Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie ist jeder Autofahrer offensichtlich ein Botschafter des Programms „Rettet den Urwald“. In der jüngsten Ausgabe des Greenpeace-Magazins antwortete er auf die Frage, ob die vordringlichste Aufgabe der Hersteller gerade von großen Limousinen nicht die Entwicklung von CO₂-sparenden Modellen sei: „Jeder, der gegen Premium Stimmung macht, sollte wissen, wie wichtig solche Fahrzeuge für unseren Wohlstand und den Standort Deutschland sind.“


Bestimmt sind auch solche Aussagen der Grund dafür, dass viele Autofahrer glauben, die Straße gehöre ihnen allein. Dabei haben wir Radfahrer die viel älteren Rechte.


Firmen wie Peugeot oder Opel, die heute für reine Automarken gehalten werden, haben als Fahrradbauer begonnen. Von Adam Opel selbst etwa stammt der Satz: „Bei keiner anderen Erfindung ist das Nützliche mit dem Angenehmen so innig verbunden wie beim Fahrrad.“ Als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die ersten Autos anrollten, wurden sie mit großer Skepsis beäugt. Straßen waren öffentliche Räume, die Fußgängern, Kutschen und Radfahrern vorbehalten waren. Autos galten als Eindringlinge in eine bis dahin heile Welt, in der die Menschen höflich den Zylinder abnahmen, wenn sie einander begegneten.


Als die Unfallzahlen wegen des zunehmenden Autoverkehrs nach oben schnellten und dabei zunehmend Kinder ums Leben kamen, kam große Wut auf. In den Zeitungen wurden Hinweise veröffentlicht, was man tun könne, um zwischen den Autos noch heil über die Straße zu kommen. So wie der eines gewissen Sic Semper Tyrannis, der 1923 im „St. Louis Star“ beschrieb, wie er vorging: „Wenn du eine Kreuzung betrittst, guck nach links, zieh deine Waffe aus dem Halfter und ziele auf den ersten Fahrer, der auf dich zukommt. Wenn du auf der Mitte der Straße angekommen bist, ziele auf den ersten, der aus der anderen Richtung kommt.“


Im Laufe der Jahre veränderte sich die Stimmung allerdings. Nun galten Autoskeptiker als Fortschrittsverweigerer. Und zugleich änderte sich auch die Sicht auf die Straße: Es waren nicht mehr die neuen und starken Autofahrer verantwortlich, wenn etwas passierte; vielmehr hieß es, Fußgängern oder Radfahrer hätten wohl nicht genug aufgepasst. Viele Fahrradhersteller schwenkten um aufs Auto, weil sich dort bessere Geschäfte machen ließen. Das Auto stieg auf zum König des Verkehrs und das Rads ab zu einem Verkehrsmittel der armen Leute und Spinner, die auf der Straße nichts verloren haben.


Im Jahr 1937 schließlich wurde in die Reichs-Straßenvekehrsordnung eine Benutzungspflicht für Radwege aufgenommen. Zwar war sie noch um die Anmerkung ergänzt, dass die Pflicht nur gelte, „soweit der Sonderweg zur Aufnahme des Sonderverkehrs ausreicht“. Aber im Grunde war damit die Vertreibung des Fahrrads von der Straße besiegelt und der Samen gelegt für einen Konflikt, der bis heute andauert. Im gleichen Maße, wie Autofahrer die Straße für sich beanspruchen, fühlen sich Radfahrer um ihre Rechte geprellt. Ich finde, dagegen müssen wir etwas tun. Alle gemeinsam.


„Ich finde, wir sollten uns mal unterhalten“, sagte ich deshalb zu dem Trampelpärchen, das noch immer neben mir an der roten Ampel wartete. „Wissen Sie, dass die Straße früher…“ Da sprang die Ampel auf Grün, das Männchen gab Gas und weg waren die beiden. Man sollte sich davon aber nicht entmutigen lassen. Die Straßen Roms wurden auch nicht an einem Tag erbaut.


(Der Text ist in der aktuellen radzeit erschienen.) 

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Published on July 26, 2013 03:58

July 13, 2013

Bauernregeln aus der Großstadt (II)

Wer sich auf ein Bier-Bike setzt, dimmt seinen Intellekt auf zehn Prozent der offensichtlich ohnehin eingeschränkten geistigen Fähigkeiten herunter.


(Sonst würde er sich nicht auf ein Bier-Bike setzen.)

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Published on July 13, 2013 05:06

July 12, 2013

Mein Fahrrad und ich. Folge 1: Daniel Doerk

Seit sechs Jahren ein Paar: Daniel Doerk und sein Fixie



 


In loser Folge erzählen hier künftig Radfahrer von ihrer Lust aufs Rad, davon, wie sie auf den Geschmack gekommen sind, und davon, was sich nach ihrer Ansicht ändern muss auf unseren Straßen, damit alle entspannt am Ziel ankommen.


Die Idee: Pro Gang an ihrem Fahrrad beantworten sie eine Frage. Die erste ist die leichteste, die letzte die schwerste. Plus, sozusagen zum Warmlaufen, die Antwort auf die Frage: Warum macht mich Radfahren glücklich?


So gesehen macht sich Premierengast Daniel Doerk, der das schöne Blog It started with a fight betreibt, einen schlanken Schuh: Er fährt ein Fixie.


Das Rad, mit dem er sein Glück fand, nahm einen weiten Weg, um zu ihm nach Osnabrück zu gelangen. Er fand das Modell der italienischen Marke Olmo vor sechs Jahren im Internet, nachdem er bei einem Freund auf den Geschmack gekommen war. Sein Fixie ist für ihn die direkteste Art des Radfahrens. Heute kann er sich ein Leben ohne nicht mehr vorstellen. Doch das war auch mal anders.


1. Gang: Daniel, Du hast hier im Blog einen Beitrag kommentiert, in dem es darum ging, dass viele die Benutzung des Fahrrads immer noch für einen Ausdruck ökonomischen Scheiterns halten, weil für sie die Regel gilt: Wer Rad fährt, kann sich nur kein Auto leisten. Du hast dazu geschrieben:



„Wenn man mal die unschlagbaren Vorteile des Fahrrads, sei es in der Stadt oder in der Natur, im wahrsten Sinne „erfahren“ hat, dann ändert sich diese Meinung schnell. Das ist oft auch eine Frage des Alters. Natürlich freut man sich mit 17 auf ein eigenes Auto, das ja auch ein gewisses Maß an nicht gekannter Unabhängigkeit darstellt. Wenn diese unabhängige Bequemlichkeit dann aber zäher Alltag wird, freut man sich über die Abwechslung auf dem Rad. So war es zumindest bei mir.“



Was hat Dich damals zum Umsteigen bewogen und was ist Dein Rat an Leute, die an einem ähnlichen Punkt stehen und noch einen letzten Tritt in den Hintern brauchen?


„Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Da brachte das Auto noch echte Freiheiten. Man musste nicht mehr mit dem Zug oder lange Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen. Solange ich in der Schule war, bedeutete das Auto eine echte Erleichterung. Als ich aber mit dem Studium begann, erst in Würzburg, dann in Osnabrück, merkte ich: Ein Auto ist teuer und in der Stadt nutzlos. Irgendwann dachte ich: Jetzt brauchst du dafür wirklich kein Geld mehr auszugeben. Und verkaufte es.


Mein Rat an alle, die noch einen Grund brauchen umzusteigen: Setzt Euch bei gutem Wetter aufs Rad setzen und fahrt los. Dann sollte der Spaß von ganz allein kommen. Es ist einfach erfrischend, wenn man morgens schon eine kleine Runde mit dem Rad dreht und nicht im Auto sitzt und sich über Staus aufregen muss. An denen fährt man mit dem Rad ja einfach vorbei. Der wichtigste Tipp ist dabei wahrscheinlich, den Zeitdruck rauszunehmen. Für viele meiner Freunde ist das entscheidende Argument gegen das Fahrrad, dass sie verschwitzt bei der Arbeit ankommen. Aber man muss sich ja nicht abhetzen. Dann fährt man fünf Minuten früher los und merkt schnell, dass es total angenehm ist, mit dem Fahrrad zu fahren.“


- ENDE -


Daniel Doerk ist 30 Jahre alt, lebt in Osnabrück und arbeitet dort im Büro einer Landtagsabgeordneten der Grünen.

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Published on July 12, 2013 01:34

July 9, 2013

Radfahrer vs. Autofahrer: Was tatsächlich schief geht

Es ist mit einem Blog wie diesem ja nicht so einfach, sich Gehör zu verschaffen, deshalb tut man gut daran, die Überschriften so zu wählen, dass zumindest die Suchmaschinen darauf aufmerksam werden können. Nur deshalb habe ich als Titel für diesen Beitrag etwas nüchtern “Was zwischen Radfahrern und Autofahrern tatsächlich schief geht” geschrieben. Hätte ich so formuliert, wie ich es wirklich für angemessen halte, hätte er gelautet: “Carlson vom Dach vs. Salami mit Wurst – ein Lehrstück aus der ,Welt´.” Aber damit kann ja keine Suchmaschine etwas anfangen.


In der vergangenen Woche erschien ein kurzer, sachlich formulierter Artikel in der “Welt” über den Konflikt zwischen Autofahrern und Radfahrern. Es geht um unklare Revierfragen, Macht und rechtliche Grauzonen. Im Zentrum steht die Analyse des Verkehrspsychologen Jörg-Michael Sohn. Er wird vorgestellt als jemand, “der seit mehr als 25 Jahren Institutionen und Einzelpersonen zu Fragen des Verhaltens im Straßenverkehr berät”. Sohns These lautet kurz zusammengefasst: Was in der Beziehung Radfahrern und Autofahrern fehlt, ist der direkte Augenkontakt. Denn vor allem non-verbale Arten der Kommunikation haben das Potential, Konfliktsituationen zu entschärfen. Zwischen Fußgängern und Radfahrern ist das möglich. Bei Autofahrern steht dagegen die getönte Frontscheibe im Weg. Und deshalb entzünden sich so oft Streitereien auf unseren Straßen.


Es ist eine These, der ich nur bedingt zustimme. Mir scheint, dass für viele Radfahrer und Fußgänger der Vorteil einer fehlenden Frontscheibe vor allem darin besteht, den anderen direkter anpöbeln zu können. Aber es ist zumindest ein Gedanke, den man wie ein Segelboot auf seinen Kopfozean setzen kann, um zu sehen, welchen Weg es nimmt. Und wenn man das tut, geht man beim nächsten Mal vielleicht mit etwas mehr Gelassenheit auf die Straße. Doch wer so denkt, hat die Rechnung ohne die Leser der “Welt” gemacht. Man mache sich mal den Spaß und lese ein paar der insgesamt 53 Kommentare unter dem Artikel. Die meisten verhalten sich wie prügelnde Kinder auf dem Schulhof, die der Lehrer zu sich ruft und bittet, dem anderen doch mal für einen kurzen Augenblick zuhören. Und während er noch versucht zu erklären, dass es nie nur eine Seite gibt, die in einem Konflikt recht hat, tritt der eine dem anderen schon vors Schienbein, worauf der Getroffene die Faust auf der Nase des Gegenübers platziert – und sich der Lehrer resigniert im Bügel seiner Hornbrille verbeißt.


 


Eine Armada an Hornochsen


Anstatt über Sohns These zu diskutieren, rasen die… tja, wie soll man sie nennen, Diskutanten ist nicht der richtige Begriff, weil er von einem aufrichtigen Interesse an einer Diskussion ausgeht – rasen also die Hornochsen ungebremst aufeinander los. Den Standard für die folgenden Beiträge setzt gleich zu Beginn ein Leser namens carlson.vom.dach. Er schreibt: “Ist mir ein Raetsel das (sic!) es immer nur um Auto vs. Rad geht. Meiner Erfahrung nach sind Fussgaenger die schlimmsten Verkehrsteilnehmer.” Und dann folgen in seiner Hitliste der verachtungswürdigsten Kreaturen Radfahrer, die links fahren und Benutzer von Transporträdern – “die reinste Plage”.


Da wollen sich die anderen natürlich nicht lumpen lassen. Eine kurze Auswahl:


Realist schreibt: “Ich bin Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger, in jeder Gruppe gibt es Idioten, aber die schlimmsten sind für mich die Radfahrer. Fahren oder besser gesagt rasen auf dem Bürgersteig, klingeln und meinen der Fußgänger könnte ja auf der Straße weitergehen, verkehrtherum auf dem Radweg ohne Licht im Winter, bei Rot über die Ampel und und und.”


Der User mit einem der schönsten Namen, derer ich jemals gewahr werden durfte, er heißt “Salami mit Wurst”, notiert: “Das schlimme an den Radfahrer ist deren Willkür. Wenn sie irgendwo fahren wollen sie gleichberechtigt sein wie ein Auto, wollen alle Rechte haben, würden sich sogar zum Krüppel fahren lassen nur um ihr Recht durchzusetzen.

Aaaaber, sobald sie mal eine Pflicht einhalten sollen, zB. an einer roten Ampel zu halten, dann wollen die nichts mehr davon wissen. Die picken sich nur die Rosinen aus dem Kuchen, biegen sich die StVO wie es ihnen beliebt.”


Gema73 erwidert: “armer Autofahrer müssen an der roten Ampel wirklich bis zum bitteren Ende warten, bis es grün wird. Is ja auch gemein mit dem Nummernschild.”


Und natürlich darf der Beitrag von HeinBloed5259 nicht fehlen: “OK -…sofern die Radfahrer sich grundsätzlich finanziell (Steuer) am Erhalt der Straßen beteiligen…”


Nach Studium dieser Kommentare muss man sich nicht darüber wundern, dass es auf unseren Straßen so aggressiv, derb und rücksichtslos zugeht. Es ist einfach eine Armada an Hornochsen unterwegs. Man muss Sohns These deshalb wohl etwas modifizieren. Ein grundsätzliches Problem ist nicht die existierende Frontscheibe, sondern das fehlende Fronthirn. Nur wenige geben sich die Mühe, differenziert und gelassen zu argumentieren. Einer davon ist “Gesagte Sache”. Ihm gebührt deshalb der Schlussgedanke: “Die Diskussion ist überflüssig. Autofahrer die selber Fahrrad fahren sind fähig mit diesen im Straßenverkehr umzugehen, gleichzeitig gilt dies für Fahrradfahrer die nur beruflich z.B. Auto fahren. Problemfälle und ausschließliche Schlagzeilenproduzenten sind die ignoranten Hirnakrobaten von Auto- bzw. Fahrradfahrern, die ausschließlich nur ein Gefährt beherrschen und damit rücksichtslos und gefährdent im Straßenverkehr unterwegs sind.”


Genau in diesem Gedanken liegt wahrscheinlich die Lösung. Viele von uns sind ja nicht nur Radfahrer oder nur Autofahrer. Sie wechseln zwischen den Verkehrsarten hin und her. Und erst der Perspektivwechsel sorgt dafür, dass man sich mit mehr Verständnis und Rücksicht fortbewegt. Man müsste deshalb den ADAC und den ADFC von einer Art Patenprogramm überzeugen für diejenigen, die verkehrsmonogam leben. Jedem Autofahrer würde ein Radfahrer zugeteilt und beide müssten regelmäßig gemeinsam mit der Verkehrsform von einem der beiden auf die Straße. Dann erlebten sie mit eigenen Sinnen, warum sich der jeweils andere so oft ärgert. Wegen der Platzaufteilung zum Beispiel, der gefühlten Benachteiligung auf beiden Seiten oder dem miserablen Zustand vieler Verkehrswege.


Vielleicht entwickelten damit sogar die Leser der “Welt” eine gewisse Gelassenheit. Aber womöglich ist eine solche Hoffnung auch naiv. Wahrscheinlicher ist, dass “Carlson vom Dach” und “Salami mit Wurst” nach wenigen Minuten beginnen würden, sich zu vermöbeln.

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Published on July 09, 2013 02:26

July 4, 2013

Was ein Damenrad über die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft aussagt

So muss die Vision einer Elfjähringen aussehen!

So muss die Vision einer Elfjährigen in Zukunft aussehen: das "Brooklyn" von Pelago


Eine der großen Herausforderungen unserer Zeit besteht ja darin, Gewohnheiten, mit denen wir groß geworden sind, hinter uns zu lassen und deren Überwindung nicht als Verlust zu erleben, sondern als Gewinn. Auf wenigen anderen Feldern wird das so deutlich wie auf der Straße. Und die Seite Drei der Süddeutschen Zeitung von heute (4. Juli) ist dafür ein glänzendes Beispiel.


Das lesenswerte Stück mit dem Titel „Kassensturz“ beschreibt eine Reise durch die deutsche Mittelschicht. Zu Menschen, die studiert haben, als Lehrer, Professor oder Marketing-Direktor arbeiten, aber trotzdem gerade genug verdienen für einen Wohlstand, der sie mit etwas Neid über den Zaun blicken lässt. Hin zu denen, die sich ausgedehnte Urlaube leisten können, Wohnungen in den angesagten Szenebezirken und Milch von Biokühen. Zwischen Hartz IV-Empfängern auf der einen Seite und den Reichen auf der anderen schultern sie die Hauptlast in unserer Gesellschaft.


Der Text liefert eine gut geschriebene Analyse über ein Land, das in einem tiefgreifenden Transformationsprozess steckt. Er zeigt aber auch, dass wir dabei noch ganz am Anfang stehen. Und damit sind wir beim Fahrrad. Erzählt wird unter anderem die Geschichte einer Familie aus Brandenburg. Der Vater ist Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste, die Mutter Musikpädagogin. Das Auto lassen sie bei kurzen Strecken lieber stehen. Den Sohn fährt die Mutter stattdessen jeden Morgen mit dem Rad in den Kindergarten. „Bei (fast) jedem Wetter“ und „eine halbe Stunde“, wie der Autor schreibt. Und weiter: „,Das ist gesund für uns beide und für unser Portemonnaie´, sagt sie (die Mutter, Anm. von mir) und lacht.“ Ich kann mich auch täuschen, aber für mich liest sich die Passage, als hätte der Autor am liebsten einen Zusatz angefügt. So etwas wie „Wie krass!“ oder „Boah, die Armen“.


Man mag mich für einen unverbesserlichen Träumer halten. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass sogar eine halbstündige Fahrt durch zehn Grad kalten Regen ein Leben zufriedener macht als die Strecke mit dem Auto zurückzulegen. Und selbst wenn nicht: Wenn man die Benutzung des Fahrrads stets als Ausdruck des eigenen ökonomischen Misserfolgs deutet, ist das der sichere Weg ins Unglück.


Am Ende der Reportage ist die elfjährige Tochter der Familie zitiert. Die sollte in einem Aufsatz ihr Leben im Jahr 2030 skizzieren und schrieb: „Ich wohne in Frankreich an einem schönen Strand. Mein Haus steht auf einer hohen Klippe. Ich habe einen Freund, der sehr nett ist. Ich bin Radiosprecherin. Ich habe das neueste Auto, nämlich einen Porsche.“


Mir sind fast alle Bestandteile dieser Vision sehr sympathisch. Doch erst wenn im letzten Satz steht „Ich habe das schickste Rad und fahre mit meinem netten Freund jeden Abend ans Meer“, wissen wir, dass wir ein paar entscheidende Schritte weiter sind.

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Published on July 04, 2013 04:46

July 2, 2013

Bauernregeln aus der Großstadt (I)

Männer in den protzigsten Autos tragen oft die geschmacklosesten Krawatten.


(Zumindest in Berlin.)

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Published on July 02, 2013 00:42

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Kai Schächtele
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