45. Kapitel – Gebrochene Regeln
Momentan
waren alle Zimmer frei und es war auch niemand angekündigt für die nächste
Zeit. Glenna hatte sich insgeheim auf ein paar ruhige Tage gefreut. Trotzdem
wäre es unsäglich unhöflich, wenn sie die Klingel einfach ignorieren würde.
Doch als sie
im Erdgeschoss angekommen war, stand niemand ungeduldig am Rezeptionstresen.
Glenna warf
einen Blick in den angrenzenden Speisesaal, doch auch dort wartete niemand. Auf
dem Tresen lag jedoch ein auffälliger, hellgrüner Umschlag.
Glenna
runzelte die Stirn, als sie den Umschlag in die Finger nahm, ließ ihn aber
sogleich fallen, als sie die geschwungenen Lettern darauf las.
Bonnie
Bahookie.
Sie presste
die Finger auf den Mund und starrte den Umschlag nur für eine Weile an, als wäre
er eine Spinne, die sie gleich anspringen würde.
Dann machte
sie einige lange Schritte zur Haustür und riss sie auf. Sie warf einen Blick in
alle Richtungen, aber die Leute, die sie auf der Straße sah, erkannte sie alle
als Nachbarn. Keiner von ihnen wusste von ihrem Bühnennamen.
Sie zog die
Tür hinter sich zu, dann hob sie den Umschlag vom Boden auf und trug ihn in den
Speisesaal.
»Hallo?«,
rief sie einmal laut, nur um sicher zu gehen, dass tatsächlich niemand hier
war.
Als keine
Antwort kam, setzte sie sich und legte den Umschlag vor sich auf den Tisch.
›Was ist
los?‹
Die
Tätowierung erwärmte leicht auf ihrer Brust.
»Jamie?«,
fragte sie etwas abwesend.
›Wer sollte
ich sonst sein?‹
Sie ging
nicht darauf ein, sondern öffnete den Umschlag mit zittrigen Fingern.
Gedanken an
hunderte von Leuten rasten ihr durch den Kopf. Leute, die sie unter diesem
Namen kannten. Die wenigsten von ihnen konnten noch am Leben sein, oder?
Im Umschlag
steckte ein ebenso grünes Papier und Glenna entfaltete es vorsichtig.
Bonnie Bahookie
Anzahl gebrochener Regeln: 2
Glenna sog
scharf Luft ein und presste die Hand erneut vor den Mund.
›Das ist
nicht gut‹, grollte Jamie.
Sie starrte
auf die kunstvoll geschwungene Schrift und schüttelte den Kopf.
»Was bedeutet
das?«
›Ich weiß es
nicht.‹
»Stammt es
vom …« Glenna schaffte es nicht, den Gedanken auszusprechen.
›Vom Hohen
Gericht? Kaum. Steht noch mehr?‹
Glenna drehte
das Papier einmal um, doch die Rückseite war leer. Erst als sie es erneut
umdrehte, fielen ihr zwei kleine Zeichen in der unteren Ecke auf.
»W. J.«, las
sie vor.
›Kennst du
jemanden mit den Initialen?‹
Glenna dachte
nach. Sie hatte in ihrem Leben viel zu viele Leute gekannt und die Arbeit in
einem B&B machte das nicht einfacher.
Da wusste sie
plötzlich, wem diese Initialen gehörten.
»William
Judge«, sagte sie matt.
›Der Typ mit
dem Messer? Der nicht Aidans Vater war?‹
Glenna nickte.
»Oh Gott,
Jamie. Wenn er zum Hohen Gericht gehört? Ich habe meine Magie gegen ihn
eingesetzt!«
›Nein‹, sagte
Jamie bestimmt. ›Das Gericht spricht keine Warnungen aus. Wenn du die Regeln
gebrochen hast, gibt es eine Verhandlung und Schluss.‹
Glenna sprang
auf die Füße und begann auf und ab zu gehen.
»Was hat es
dann zu bedeuten?«
›Ich weiß es
nicht.‹
»Wenn er ein
Wesen der Anderswelt ist … Wird er mich an das Gericht verraten? Und was ist
das zweite Mal, wo ich die Regeln gebrochen haben soll?«
War es der
Cusith? Hatte sie zu hoch gepokert und die Regeln nicht gedehnt, sondern doch
gebrochen?
›Bonnie.‹
»Was?«
Er atmete
schwer durch.
›Spielt es eine Rolle?‹
Sie wollte
schon etwas erwidern, dann verharrte sie aber in ihrem Schritt.
Er hatte
nicht unrecht.
Wenn sie die
Regeln gebrochen hatte und das Hohe
Gericht davon erfuhr, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte. Falls dieser
William Judge jedoch kein Wesen der Anderswelt war, was hatte er schon gegen
sie in der Hand? Eine Behauptung, nichts weiter.
Sie straffte
die Schultern.
»Du hast
recht.«
Sie nahm den
Brief vom Tisch und eilte die Treppe hoch in ihre Bibliothek. Der Raum war
leer, wie sie erwartet hatte. Aber die beiden Whiskygläser und die halbleere
Flasche standen am Boden, also hatte sie den Besuch des Púcas … von Jamie
nicht geträumt.
Sie glaubte
sogar, den Geruch nach frischem Gras wahrzunehmen, der ihn immer umgab, und sie
schwelgte für einen kurzen Moment in der Erinnerung an das Gespräch, das sie
hatten unterbrechen müssen.
Was nun?
Sie hatte die
letzten 26 Jahre hier in Southbank verbracht und ein ruhiges, zurückhaltendes
Leben geführt, wo sie allen Feenwesen so gut es ging aus dem Weg gegangen war
und ihre Magie nur für alltägliche Kleinigkeiten eingesetzt hatte.
Trotzdem
stand sie nun am Punkt, dass sie eventuell die Regeln verletzt hatte und früher
oder später vom Hohen Gericht verurteilt würde.
Als ihr Blick
auf die Wand mit den Büchern fiel, fasste sie eine Entscheidung.
»Jamie, wie
alt bist du eigentlich?«
›Was denkst
du?‹, fragte er neckisch.
Sie
schnaubte. »Als ob ich das beurteilen könnte.«
Der warme
Fleck bewegte sich von ihrer Brust zwischen ihren Brüsten hindurch in Richtung
Bauch und machte Anstalten tiefer zu sinken.
»He!«, rief
Glenna empört aus und presste ihre Hände gegen die Stelle, wo sich die Tätowierung
nun befand. »Untersteh dich!«
›Sagen wir es
so‹, sagte er, während er sich wieder auf ihre Brust zurückzog. ›für jemanden
wie mich sind 117 Jahre immer noch das beste Alter.‹
»So alt?«,
fragte Glenna überrascht.
›So jung,
meinst du wohl.‹
Sie schmunzelte,
erwiderte aber nichts darauf.
Vielleicht
hatte er ja recht.
Vielleicht
war Alter reine Ansichtssache.
Vorschau auf das Kapitel „Neue Erinnerungen“ von nächster Woche:
Sie öffnete die breite Schublade unter der Tischplatte und ließ den Blick über die hunderte von Briefen schweifen, die dort drin lagen.
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