Juni 2013

Sonntag, 2. Juni 2013 – Elfuhrzwei, elfkommavier Grad. Sonne, blau, Wolken, weiß.


Gestern Blockupy-Demonstration, um kurz vor elf am Basler Platz. Rumstehen, warten. Es sind Leute aus ganz Europa gekommen, manche schon vor ein, zwei Tagen. Weil ich niemanden treffe, den ich kenne, suche ich mir eine bunte, laute Gruppe mit Regenschirmen (okay, verstehe, Rettungsschirme), wohl Italiener, vielleicht ein paar Portugiesen und Spanier dabei, Männer, Frauen, jung zumeist. Direkt vor deren Transparent hat sich mit etwa hundert Leuten die Spitze des Zuges aufgestellt, dort reihe ich mich ein. Wir sind so Latschdemonstranten, biedere Bürger, ein paar gutgelaunte Musikanten in Sixties-Pop-Klamotten. Alles friedlich und das Wetter scheint zu halten. Wir laufen die Wilhelm-Leuschner-Straße runter und rufen unsere Sachen. Rechts und links in der Mainluststraße und unten an der Neuen Mainzer marschieren hunderte vermummte Polizisten auf und bringen sich in Stellung. Was wollen die? Als die Regenschirmleute hinter uns diesen Straßenabschnitt erreicht haben, stürmen die Polizisten los, drängen uns von den Regenschirmen ab und kesseln diese ein. Aber warum? Es ist nichts, es ist gar nichts passiert. Die Behelmten bilden eine Kette und drängen uns Richtung Schauspielhaus ab. Dort stehen wir hundert Biedermeier und warten, was passiert. Es passiert nichts. Die Polizei macht eine Durchsage: Die Regenschirmleute seien bewaffnet und hätten Straftaten begangen. Das ist eine Lüge. Die Polizei hat diesen Einsatz genau hier geplant und vorbereitet. Und sie haben ihn durchgeführt, obwohl nichts passiert ist. Woanders hätten sie ihn gar nicht durchführen können. Sie wollten unseren “Aufzug”, wie sie das nennen, zerbrechen. Sie tun, was man ihnen befiehlt. Irgendwer hat ihnen auch diesen Befehl gegeben. Der Innenminister? Der Ministerpräsident? Wir sollen einfach unsere Demonstration fortsetzen, sagt die Polizei. Mit hundert Leuten? Das wollen wir nicht. Wir wollen die Regenschirmleute nicht alleine lassen. Wir wollen mit den zehntausend Demonstranten, die hinter uns sind, zusammen sein. Mit allen. Zwei, zweieinhalb Stunden geht das so hin und her. Gerüchte, Spekulationen. Plötzlich kommt ein Trupp Behelmter von der anderen Seite, vom Willy-Brandt-Platz, und will durchstoßen in die Hofstraße. Das wollen wir nicht. Wir Biedermeier bilden ebenfalls eine Kette. Aber dann bestürmen sie uns von beiden Seiten und kriegen ihren Willen. Ein paar Demonstranten gehen dabei zu Boden. Nicht so wild. Irgendwann kommt der Veranstalter und sagt, die Polizei habe auch unseren Platz zu ihrem Aufmarschgebiet erklärt, wir seien also ab sofort illegal hier, wir sollen unseren Platz freimachen, sonst würde geräumt. Die Biedermeier sagen nein.

Ich habe gelernt, dass es bei der Demokratie um Körper geht. Wie viele Körper sind anwesend? Welche Körper dürfen auf welchem Platz stehen? Welche Körper sind stärker? Welche Körper geben nach? Die Polizistenkörper haben unsere Demonstration, die uns die Richter erlaubt hatten, zerstört. Wären wir mehr Körper gewesen, hätten die Polizistenkörper das nicht so leicht geschafft.

Ich frage mich, warum von den vielen Leuten, die ich in Frankfurt kenne, so wenige da waren. Zu bequem? Zu ängstlich? Zu feige? Nicht einverstanden? Ich weiß nicht. Ich werde niemanden danach fragen. Ich werde einfach auch beim nächsten Mal meinen Körper zur Verfügung stellen. Ich habe gelernt: Man muss sich in die Waagschale werfen.


Bo Diddley ist tot.

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Published on June 02, 2013 02:46
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Jan Seghers
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