Januar 2016

Montag, 18. Januar 2016 – Sechzehnuhrnull, minus dreikommaacht. Schön blau noch der Himmel. Am Morgen Lauf auf den Lohrberg. Ganz okay.


Das ganze Ausmaß der Verblödung im Land ist nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht offenbar geworden. Es scheint, als lasse sich mit kaum noch jemandem vernünftig darüber reden. Als hätten alle nur auf einen solchen Vorfall gewartet. Keiner will abseits stehen, wenn es gilt, öffentlich Tritt zu fassen. Da hört sich die Sahra Wagenknecht an wie der Winfried Kretschmann wie der Sigmar Gabriel wie der Armin Laschet wie der Joachim Herrmann wie die Frauke Petry wie die Tanja Festerling.


Vielleicht ist es ja so: Uns fallen gerade fünfhundert, wenn nicht mehr als tausend Jahre bigotter, heuchlerischer, imperialer, grausamer, vor allem aber: einträglicher europäischer Politik auf die Füße, einer Politik, die uns reich und die anderen arm gemacht hat. Den späten südlichen Opfern dieser Politik, die sich jetzt auf die Reise machen, ist es egal, ob wir sie willkommen heißen oder nicht. Sie kommen, wenn sie irgend können, so oder so. Wer nichts zu verlieren hat, ist angstfrei. Sie sind nicht „gut“. Wir und unsere, an einem „ökonomisch starken“ Europa interessierten Vorfahren haben alles getan, das zu verhindern. Wie soll jemand, der gequält, versklavt, ausgebeutet, missbraucht, erniedrigt wird, wie soll so jemand „gut“ werden? Opfer sind in den seltensten Fällen gut. Sie, die Opfer, tun, wenn sie können, das, was wir mit ihnen getan haben. Wenn sie Männer sind, tun sie mit europäischen Frauen das, was europäische Männer mit den Frauen von ihnen immer getan haben, und sie halten von Frauen das, was europäische Missionare oder deren muslimische Brüder sie gelehrt haben, dass man von körperlich Schwächeren, also von Frauen, von Mädchen oder Knaben halten solle. – Die Regensburger Domspatzen wissen ein Lied davon zu singen.


Mag ja sein, dass wir mehr Sozialarbeiter brauchen, mag ja sein, dass der arabischen Welt eine Aufklärung fehlt. Mag auch sein, dass ein bisschen Zeit gewonnen wäre mit mehr deutschen Ausbildern und Flugzeugen in Syrien und mit mehr Polizisten auf der Kölner Domplatte. Aber wenn es denn überhaupt noch etwas gibt, das das nächste, ganz große Schlamassel (um es nicht Krieg zu nennen) verhindern kann, dann ist es – das sei nicht nur Dir, deutscher wohltätiger Privatbankier, deutscher, das Gesamtwohl im Auge behaltender Konzernchef, das sei auch Dir, deutscher sozialdemokratischer Facharbeiter und deutscher, bis in den Sarg versorgter Lehrer, deutscher duckmäuserischer Lokalredakteur und deutscher gewitzter Gewerkschaftssekretär gesagt – wenn überhaupt noch etwas das Schlimmste verhindern kann, dann ist es einzig: die Umverteilung. Wenn Du, ich, wenn wir alle nicht endlich bereit sind, wieder etwas von dem abzugeben, was wir dem Rest der Welt auf ganz direkte oder kaum merkliche, weil angeblich „tariflich hart erkämpfte“ Weise abgeräubert haben, dann wird uns die ganze Scheiße um die Ohren fliegen. Unsere Banken, unsere Villen, unsere Reihenhäuser, selbst unsere Mietwohnungen, unsere Golfs, unsere Riesterverträge und unsere friedlichen Sonntagsfrühstücke. So wird es sein. Umverteilung oder Untergang! Wer alt genug ist, kann hoffen vorher zu sterben. Das scheinen die meisten in meiner direkten Umgebung, um nicht weiter nachdenken zu müssen, gerade zu tun. Das ist alles. Mehr ist nicht zu sagen: Umverteilung oder Untergang! Auf Wiedersehen.


Und das heute, an einem Tag, da Oxfam bekannt gibt, dass „62 Personen so viel besitzen wie die Hälfte aller Menschen“.


Tot ist der Schriftsteller Anton Kuh, der sich gerne mit den Worten vorstellte: „Kuh – alle Witze schon gemacht.“

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Published on January 18, 2016 07:15
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Jan Seghers
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